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REZENSION/730: Edward Snowden - Permanent Record (SB)


Edward Snowden


Permanent Record - Meine Geschichte



In Sachen Spannung hält Permanent Record, die Biographie des Whistleblowers Edward Snowden, jedem Vergleich mit den Werken führender Vertreter des Genres Spionageroman wie Ian Fleming, John Le Carré, Len Deighton, Robert Ludlum oder Thomas Clancy stand. Schließlich ist im Sommer 2013 dem einstigen CIA- und NSA-Mitarbeiter Snowden im Alter von nur 30 Jahren der größte Coup überhaupt in der Geschichte der Spionage gelungen. Um die weltweite Öffentlichkeit vor den akuten Gefahren der massenhaften Überwachung mittels modernster Digitaltechnologie zu warnen, hat Snowden weit mehr als eine Million streng geheimer Dokumente von Servern unter anderem in Langley, Virginia, und Fort Meade, Maryland, zu seinem NSA-Arbeitsplatz auf Hawaii heruntergeladen, kopiert, von dort herausgeschmuggelt und beim konspirativen Treffen in Hongkong den Journalisten Glenn Greenwald und Ewen MacAskill vom britischen Guardian und Barton Gellman von der Washington Post zur Auswertung und Publikation übergeben. Citizenfour, der Film über die spektakuläre Ein-Mann-Operation im Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit, gedreht von der kriegs- und systemkritischen Regisseurin Laura Poitras, wurde nicht umsonst 2015 mit dem Oscar für die beste Dokumentation ausgezeichnet.

Wie es dazu kommen konnte und was daraus folgte, erläutert Snowden dezidiert in Permanent Record. Der Buchtitel verweist auf das bereits in Ansätzen, wenn nicht sogar noch viel weitreichender gelungene Vorhaben des US-Sicherheitsapparats, die elektronischen Daten aller Menschen auf der Erde laufend abzufangen und dauerhaft abzuspeichern, um über jeden von uns ein umfassendes und verwertbares Profil zu erstellen. Der 1983 geborene Snowden gehört zur ersten Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Dort hat sich der hochbegabte Eigenbrötler als Jugendlicher jahrelang in Spielwelten, Bibliotheken und Chatrooms getummelt. Zwar hat er damals seine Schulaufgaben stark vernachlässigt, sich jedoch statt dessen am eigenen Heimrechner nachhaltig gebildet - vor allem in den Bereichen Programmierung und Systemanalytik.

Edward Snowden entstammt einer alteingesessenen Ostküstenfamilie, in der Staatsdienst Tradition gewesen ist. Sein Großvater und sein Vater arbeiteten beide bei der Küstenwache und seine Mutter in der NSA-Rentenabteilung. Er hat sich, wie er im Buch reuevoll zugibt, von der aggressiv-hypernationalistischen Welle nach den Flugzeuganschlägen des 11. September 2001 mitreißen lassen und freiwillig der Armee angeschlossen. Doch wegen Beinverletzungen, die er sich bei der Ausbildung im Feldmanöver zuzog, fiel die angestrebte Karriere bei den Spezialstreitkräften ins Wasser. Nach der Ausmusterung heuerte Snowden ganz unten bei einem der zahlreichen privaten Sicherheitsunternehmen in und um Washington D. C. an, die mit dem Auftakt des "globalen Antiterrorkriegs" der USA wie Pilze aus dem Boden schossen und seitdem den größten Teil des staatlichen Jahresetats für Amerikas "Intelligence Community" (sic) in Höhe von rund 70 Milliarden Dollar verschlingen.

Wegen seiner technischen Fähigkeiten wird Snowden schnell zum von allen geschätzten Systemadministrator und genialen Problemlöser bei der Betreuung der weltumspannenden Datennetze aller 17 amerikanischen Geheimdienste. Es folgen Aufenthalte in der Schweiz, wo er 2007 und 2008 als diplomatischer Attaché hilft, die zahlreich in Genf ansässigen UN-Unterorganisationen auszuspähen, und Tokio, von wo aus er 2009 und 2010 an der Spionageabwehr gegen die Aktivitäten der Volksrepublik China im asiatisch-pazifischen Raum teilnimmt. Doch je länger Snowden geheimdienstlich tätig ist, um so mehr nimmt seine Entfremdung zu, um so deutlicher wird ihm der Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines Amerikas, das sich als oberster Verfechter von Demokratie und Freiheit ausgibt, doch vielmehr als selbstherrlicher und mörderischer Hegemon agiert.

Snowden kommt nicht darüber hinweg, daß wegen der 3000 9/11-Opfer Hunderttausende unschuldige Menschen im Irak und in Afghanistan grausam sterben müssen, verdächtige islamistische "Terroristen" gefoltert und amerikanische Grundrechte ausgesetzt werden. Er empört sich über die verfassungswidrige Massenausspähung aller Telefone und Internetverbindungen, die George W. Bush und Dick Cheney Ende 2001 anordneten, sowie die Vertuschung derselben durch die New York Times im Herbst 2004, nur damit Bush jun. ins Weiße Haus wiedergewählt werden kann. Er fühlt sich enttäuscht, als Senator Barack Obama im Herbst 2008 noch vor der Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten der USA der leicht korrigierten Neuauflage dieser Massenüberwachung zustimmt. In Japan bekommt er die unzensierte Fassung des Untersuchungsberichts des Geheimdienstausschusses des Senats zum Thema CIA-Folter zu Gesicht und stellt mit Erschrecken fest, daß diese völlig anders als jenes Alibidokument ist, das man zuvor der düpierten Öffentlichkeit vorgelegt hatte.

Ganz genau beobachtet Snowden, wie 2010 Politik und Justiz mit der Gruppe patriotischer NSA-Whistleblower um William Binney und Thomas Drake verfahren, die über den Dienstweg bzw. mit einer offiziellen Beschwerde beim Kongreß auf Gesetzesübertretungen und Korruption bei der NSA aufmerksam zu machen versuchte, sie als Nestbeschmutzer diffamieren und mit strafrechtlichen Mitteln schikanieren. 2010 ist auch das Jahr, in dem Julian Assanges Wikileaks mit Hilfe der Militärgeheimdienstlerin Chelsea Manning zahlreiche Kriegsverbrechen der US-Streitkräfte im Irak und in Afghanistan sowie die erpresserischen Methoden des Außenministeriums Hillary Clintons publik macht. Noch in Japan, das chinesische Beispiel der staatlichen Rundumüberwachung vor Augen, erlebt Snowden seinen "nuklearen Moment", in dem ihm klar wird, daß er sich mit allen ihm gebotenen Mitteln gegen den Frontalangriff von CIA, NSA, FBI, DIA und wie sie alle heißen auf die amerikanischen Grundwerte zur Wehr setzen müsse, bevor es zu spät ist.

Er läßt sich deshalb von der NSA nach Hawaii versetzen, wo er getarnt als Mitarbeiter des Sicherheitsunternehmens Booz Allen Hamilton optimalen Zugang zum globalen Spähnetzwerk der USA und ihrer engsten Verbündeten Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland - zusammen die sogenannten "Five Eyes" - genießt. Ohne seiner langjährigen Lebensgefährtin Lindsay Mills auch nur das geringste davon zu erzählen, um sie zu schützen, nimmt er neben der regulären Tätigkeit für die NSA seine außerdienstliche Wühl- und Sammelarbeit auf. Die Risiken, die Snowden tagtäglich über Monate eingeht, und der Druck, dem er dabei standhalten muß, sind enorm und haben dem Rezensenten förmlich den Atem verschlagen. In der Zwischenzeit ist Manning in den USA in Isolationshaft gelandet, der Australier Assange aus Angst um sein Leben in die ecuadorianische Botschaft in London geflüchtet. Folglich kann Snowden von Glück reden, daß John Kerry ihm im Juli 2013 beim Flug von Hongkong nach Moskau - von wo er über Havanna und Caracas nach Quito fliehen wollte, um politisches Asyl in Ecuador zu erhalten - den Reisepaß für ungültig erklärte. Dadurch saß Snowden in Rußland fest, das vielleicht als einziger Staat in der Lage war, die Auslieferungsforderungen Washingtons an sich abperlen zu lassen. Inzwischen leben und arbeiten Snowden und Mills im Großraum Moskau. 2017 haben sie geheiratet. Aktuell erwarten sie ihr erstes Kind.

Sieben Jahre nach den Enthüllungen Snowdens sind deren positive Auswirkungen mager. Immerhin hat die EU 2016 in Reaktion auf die globale Spionageaffäre, einschließlich der hochpeinlichen Bekanntgabe des wenig freundlichen Abhörens des Smartphones der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel durch die NSA, die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), welche die europäischen Bürger vor dem Schnüffelstaat schützen sollte, erlassen. In den USA dagegen scheinen die Reformen des USA-Patriot-Acts, die Kongreß und Obama-Regierung zum Schutz der Privatsphäre vorgenommen haben, eher kosmetischer Natur gewesen zu sein. Die Leichtigkeit, mit der 2016 und 2017 das FBI wiederholt mit fadenscheiniger Begründung hinsichtlich nebulöser Umtriebe Rußlands vom zuständigen FISA-Gericht Abhörgenehmigungen für mehrere Mitglieder des Wahlkampfteams des republikanischen Präsidentschaftsbewerbers und Gegners Hillary Clintons, Donald Trump, nachweislich erschwindelt hat, deutet nicht gerade auf eine Schwächung staatlicher Willkür in den USA hin. Das Gegenteil ist der Fall. Angesichts der Covid-19-Pandemie bieten sich dubiose Datenauswertungsuntermehmen wie Palantir beiderseits des Atlantiks als die wahren Heilsbringer an, während Snowdens alter Arbeitgeber Booz Allen Hamilton vor wenigen Monaten einen 800 Millionen Dollar schweren Großauftrag erhalten hat, das Pentagon mit neuen "Produkten" aus dem Bereich künstlicher Intelligence (KI) zu versorgen.

15. Dezember 2020


Edward Snowden
Permanent Record - Meine Geschichte (EPUB)
Aus dem amerikanischen Englisch von Kay Greiners
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 2020
Größe: 1,3 MB
ISBN: 978-3-10-491167-0


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