Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH


REZENSION/738: T. Leahy - The Intelligence War against the IRA (SB)


Thomas Leahy


The Intelligence War against the IRA



Das gezielte Durchsickern des provokanten Plans der Regierung in London, eine Generalamnestie für britische Soldaten, die schwere Kriegsverbrechen wie Mord, Totschlag und Folter während der nordirischen Troubles von 1969 bis 1998 verübt hatten, gesetzlich zu erlassen, hat Anfang Mai sowohl in Nordirland als auch in der Republik im Süden Empörung ausgelöst - und zwar über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg. Die Mitte-Rechts-Koalitionsregierung in Dublin warf London vor, mehrere vertragliche Abmachungen zur geschichtlichen Aufarbeitung jenes Bürgerkriegs, der 3500 Menschen das Leben kostete, mutwillig und einseitig über den Haufen werfen zu wollen. Selbst protestantisch-unionistische Opfer von Anschlägen der katholisch-nationalistischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) kritisierten das Vorhaben zu Recht als Geschichtszensur, mit der die in London regierenden Tories die unappetitlichen Details der heimlichen Zusammenarbeit - Stichwort "collusion" - von Armee und Inlandsgeheimdienst Großbritanniens mit den loyalistischen Paramilitärs im jahrzehntelangen Kampf gegen die IRA und deren Unterstützer auf ewig versiegeln wollen, um dem mächtigen britischen Sicherheitsapparat einen Gefallen zu erweisen und dem eigenen chauvinistischen Wahlvolk vor allem in England zu imponieren.

Es gibt auch viel zu verheimlichen. Zahlreich sind die Hinweise, wonach das britische Militär die Fäden bei den synchronisierten Autobombenanschlägen von Dublin und Monaghan zog, die im Mai 1974 33 Menschen das Leben kostete. Ziel des größten Blutbads der sogenannten Troubles war es, Regierung und Bevölkerung in der Republik Irland einzuschüchtern, ihr Interesse an dem Geschehen nördlich der inneririschen Grenze zu dämpfen und gleichzeitig die Bemühungen der sozialdemokratischen Regierung in London um Premierminister Harold Wilson um eine Beilegung des Konflikts in Nordirland mittels des Sunningdale-Abkommens zu torpedieren - was auch gelang. Bereits im August 1971 und Januar 1972 hatten britische Fallschirmjäger durch zwei schwere Massaker - ersteres im West-Belfaster Stadtteil Ballymurphy und letzteres beim Bloody Sunday in Derry - die katholische Jugend in die Arme der IRA getrieben. Ziel der bis heute umstrittenen Aktionen war es für die britische Generalität, den politischen Streit der Konfessionen um die Zugehörigkeit Nordirlands entweder zum Vereinigten Königreich oder zu einem Wiedervereinigten Irland auf die militärische Ebene zu verlagern, um ihn dort mittels überlegener Kriegserfahrung und weit umfangreicherer Mittel zu gewinnen.


Wandmalerei mit Soldatenbild als Werbung für eine Stadttour per Taxi - Foto: © 2016 by Schattenblick

Touristische Erinnerung an Belfasts Schreckensjahre
Foto: © 2016 by Schattenblick

Hauptinitiator der perfiden Strategie war die berühmt-berüchtigte Aufstandsbekämpfungskoryphae Frank Kitson, der sich als junger Offizier bereits in den fünfziger Jahren seine Meriten bei der Niederschlagung von Aufständen aufmüpfiger Kolonialvölker in Kenia und Malaya verdient hatte und später, nach dem Einsatz in Nordirland, Oberbefehlshaber der britischen Landstreitkräfte sowie schließlich Aide-de-Camp von Königin Elizabeth wurde, die ihn dafür in den Ritterstand hob. Mit Büchern wie "Gangs and Countergangs" und "Low-Intensity Operations: Subversion, Insurgency and Peacekeeping" ist Kitson in die Geschichte als früher Verfechter jener brutalen Anti-Terrorstrategien eingegangen, welche die USA zuerst in Indochina, später in Zentralamerika, im Irak und in Afghanistan mit äußerst mäßigem Erfolg verfolgt haben.

Da stellt sich die Frage, wie erfolgreich die königlichen Streitkräfte Großbritanniens in Nordirland bei der Bekämpfung der IRA überhaupt gewesen sind. Seit der Beendigung der militärischen Auseinandersetzung vor mehr als zwanzig Jahren tobt gerade zu diesem Thema ein erbitterter Streit unter Politikanalytikern, Historikern und Militärexperten. Bei der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 und in den ersten Jahren danach herrschte allgemein die Ansicht vor, die beiden Kriegsparteien - die IRA auf der einen Seite und auf der anderen die britische Armee, die loyalistischen Paramilitärs und die nordirische Polizei, die damals noch Royal Ulster Constabulary (RUC) hieß - seien nicht über ein Patt hinausgekommen; die Troubles seien zum Schluß aus der allgemeinen Einsicht, die Gegenseite niemals niederringen zu können, schlicht verebbt.

In den letzten Jahren hat jedoch die These, die IRA habe den Krieg um Nordirland verloren und als erster Konfliktteilnehmer die weiße Fahne gehißt, Verbreitung gefunden. Diese Entwicklung hängt mit dem Streben der Konfliktbeteiligten zusammen, nach der Räumung des Schlachtfelds den Krieg à la Clausewitz mit politischen, genauer gesagt propagandistischen Mitteln fortsetzen zu wollen - schließlich steht die Frage der eventuellen Wiedervereinigung Irlands immer noch im Raum, erst recht nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union im Jahr 2020. Radikale Vertreter des protestantisch-unionistischen Lagers verweisen auf die zahlreichen tödliche Überfälle der Loyalist Volunteer Force (LVF) unter der Führung von Billy "King Rat" Wright auf Katholiken in den neunziger Jahren als vermeintlichen Beleg für die Richtigkeit ihrer Behauptung, die IRA sei aus Rücksicht auf die eigene Gemeinde vor dem wiedererstarkten Loyalismus eingeknickt.


Der mächtige neoklassizistische Bau inmitten einer Parklandschaft - Foto: © 2021 by Schattenblick

Stormont - Sitz von Parlament und Regierung Nordirlands
Foto: © 2013 by Schattenblick

Dazu kommt, daß die Anfang der Nullerjahre erfolgte Enttarnung zweier ranghoher Maulwürfe an hoher Stelle innerhalb der republikanischen Bewegung viele IRA-kritische Kommentatoren zur Übernahme der steilen These verführt hat, die erklärten Gegner der Krone in Nordirland seien derart von den britischen Geheimdiensten unterwandert, daß London sie in eine politische Sackgasse führen konnte, in der zwar die Katholiken die Teilnahme an der Regierungsmacht in Nordirland erhielten, sich dafür aber mit der politischen Teilung der Insel auf immer und ewig abfinden mußten. 2005 war Dennis Donaldson, ein enger Mitarbeiter von Gerry Adams, dem Parteivorsitzenden von Sinn Féin, des politischen Arms der IRA, als Spitzel des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 geoutet worden. Nach der daraufhin erfolgten Entlassung wurde Donaldson ein Jahr später in einem entlegenen Bauernhaus im County Donegal in der Republik Irland tot aufgefunden. Bis heute sind die Umstände seines Ablebens ungeklärt.

Bereits 2003 hatten nordirische Journalisten den Belfaster Taxifahrer Freddie Scappaticci als langjährigen Doppelagenten der Force Research Unit (FRU) des britischen Militärgeheimdiensts innerhalb der IRA mit Codenamen "Stakeknife" identifiziert. Seit Jahren ist Scappaticci untergetaucht. Angeblich lebt er in Großbritannien im Zeugenschutzprogramm. Scappaticci soll rund 25 Jahre lang Leiter der Abteilung Spionageabwehr innerhalb der IRA, der sogenannten "Nutting Squad", gewesen sein. In dieser Funktion soll er - mit Wissen seiner FRU-Führungsoffiziere - an der Enttarnung und Liquidierung von bis zu 40 IRA-Freiwilligen persönlich beteiligt gewesen sein. Im Nachhinein wird die IRA-Karriere Scappaticcis von zahlreichen pro-britischen Publizisten quasi zum "antiterroristischen" Heldenepos verklärt. Demnach habe "Scapp" durch die Ausschaltung zahlreicher Vertreter einer harten militärischen Linie innerhalb der IRA die Falken entscheidend geschwächt und die Tauben in der Untergrundorganisation, die Verfechter eines Verzichts auf den bewaffneten Kampf zugunsten der ausschließlichen Teilnahme am politischen Prozeß unter dem Banner von Sinn Féin, gestärkt.

Die Frage, inwieweit eine solche Auslegung des nordirischen Friedensprozesses als gelungener Schachzug britischer Geheimdiplomatie in all ihren Facetten stimmig ist, hat Thomas Leahy, Historiker an der University of Cardiff, zu einer mehrjährigen, umfassenden Recherche veranlaßt, deren beeindruckendes Ergebnis nun im Form des Buchs "The Intelligence War against the IRA" vorliegt. Im Rahmen seiner Recherche hat Leahy eine ganze Bibliothek an Schriften sowie an Radio- und Fernsehdokumentationsmaterial ausgewertet. Dazu gehören zum Beispiel die gesamten Regierungsdokumente Dublins und Londons über den fraglichen Zeitraum, die damalige Berichterstattung der bekanntesten journalistischen Troubles-Beobachter wie Ed Moloney, Peter Taylor, David McKittrick, Robert Fisk und Martin Dillon, die Memoiren zahlreicher ehemaliger IRA-Kämpfer wie Tommy McKearney, Anthony McIntyre und Shane O'Doherty, von früheren Diplomaten wie Tony Blairs einstigem Berater Jonathan Powell, sowie von Ex-Geheimdienstlern wie dem MI6-Mann Michael Oatley, der für London die Back-Channel-Gespräche mit der IRA-Führung, die letztlich zum Karfreitagsabkommen führten, leitete, und nicht zuletzt die wissenschaftlichen Studien von Historikern wie Paul Pew und Richard Aldrich.


Eingang des 1846 eröffneten und 1996 stillgelegten Knasts - Foto: © 2013 by Schattenblick

Belfasts Crumlin Road Prison, das einst viele Loyalisten und Irisch-Republikaner beherbergte
Foto: © 2013 by Schattenblick

Herausgekommen ist dabei eine wahre Tour d'Horizon, welche alle Aspekte des damaligen Konflikts behandelt. Leahy begnügt sich nicht mit einer chronologischen Betrachtung der wichtigsten Ereignisse, sondern analysiert auch den Einfluß der örtlichen Gegebenheiten, die zu einem unterschiedlichen Vorgehen der IRA-Einheiten in den verschiedenen Teilen Nordirlands wie Belfast, Derry, South Armagh, Tyrone, Fermanagh, County Derry, Armagh, Down und Newry führte. Leahy stellt fest, daß die Konteraktivitäten Scappaticcis sehr wohl die IRA im Raum Belfast geschwächt haben, diese jedoch relativ früh entschieden hat, aus Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im dichtbesiedeltsten urbanen Zentrum Nordirlands weitgehend auf Autobombenanschläge zu verzichten. Hinzu kam die relative Einfachheit, mit der der Sicherheitsapparat Großbritanniens die IRA in Belfast überwachen konnte wie zum Beispiel mittels Sicherheitskameras, ständiger Armeepatrouillen und eines Überwachungssystems für Autokennzeichen. Gerade die Zellenstruktur, welche die IRA in Belfast in den siebziger Jahren aus Geheimhaltungsgründen einführte, hat sie dort vor Zerschlagung und Vernichtung bewahrt.

Die auffallend niedrige Aktivität der IRA in Derry führt Leahy auf den Umstand zurück, daß dort die katholischen Nationalisten ohnehin die Bevölkerungsmehrheit stellten, was wiederum die republikanischen Aktivisten in der zweitgrößten Stadt Nordirlands zur Einsicht in die Vorzüge politischer Überzeugungsarbeit und die Kontraproduktivität militärischer Aktionen führte - eine Tendenz, die sich nach dem Sieg des IRA-Hungerstreikers Bobby Sands bei einer Nachwahl zum britischen Unterhaus im Wahlkreis Fermanagh/South Tyrone im April 1981, weniger als ein Monat vor seinem Tod, in der ganzen Region durchsetzen sollte. In den ländlichen Counties Derry, Fermanagh und Tyrone mußten sich die IRA-Kämpfer den Vorwurf gefallen lassen, ethnische Vertreibung gegenüber den protestantischen Nachbarn zu verfolgen, was wiederum dem Umstand geschuldet ist, daß in diesen Landstrichen einzig die Protestanten bereit waren, den staatlichen Dienst bei der nordirischen Polizei oder dem Ulster Defence Regiment (UDR) der britischen Armee anzutreten.


Die berühmte Plattenbausiedlung, die mitten im 'Kriegsgebiet' lag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der 20stöckige Divis Tower, von dessen Dach aus die britische Armee einst ganz West Belfast überwachte
Foto: © 2013 by Schattenblick

Von allen IRA-Brigaden war es diejenige im ländlichen, mehrheitlich katholisch bewohnten South Armagh, die dem britischen Staat am erfolgreichsten getrotzt hat. Die dortige IRA-Einheit war eine eingeschworene Truppe, die weit abseits von Scappaticcis Zugriff agierte. Bei dem Anschlag von Warrenpoint im County Down im Jahre 1979, einem koordinierten Bombenangriff plus Überfall aus dem Hinterhalt, hat sie 18 Soldaten getötet - die höchsten Verluste der britischen Armee an einem Tag der Troubles. Es waren auch Mitglieder der South-Armagh-Brigade der IRA, die 1991 den spektakulären Mörserangriff auf No. 10 Downing Street während einer Kabinettsitzung unter der Leitung von Premierminister John Major durchführte und für die verheerenden Lastwagenbombenanschläge auf das Londoner Bankenviertel 1992 und 1993 - Baltic Exchange und Bishopsgate - verantwortlich war, die jeweils Sachschäden in Höhe von fast einer Milliarde Pfund verursachten und ernsthafte Zweifel an der Zukunft der britischen Hauptstadt als Finanzmetropole aufkommen ließen. Nur ein Jahr später erfolgte der entscheidende IRA-Waffenstillstand, der den Weg für die Aufnahme regulärer Friedensverhandlungen zwischen Dublin, London und den politischen Parteien Nordirlands freimachte.

Das britische Militär, das seinen wichtigsten Stützpunkt in South Armagh nahe der Kleinstadt Crossmaglen wegen ständiger Bombengefahr über Jahre nicht auf der Straße erreichen und nur per Hubschrauber versorgen konnte, versuchte, die Gegner im nordirischen "bandit country" durch den Einsatz von Elitesoldaten des Special Air Service (SAS) entscheidend zu schwächen. Durch deren infame "shoot-to-kill"-Taktik - "erst schießen, dann fragen" - kamen zwar einige IRA-Mitglieder, aber weit mehr unschuldige Menschen ums Leben, was lediglich dazu beitrug, die Sympathie der Katholiken in Nordirland für die Staatsfeinde zu festigen. Wie Thomas Leahy eindrucksvoll beweist, hat die IRA den bewaffneten Kampf keineswegs aus einer Position der Schwäche eingestellt. Die Entscheidung zu diesen Schritt resultierte vielmehr aus der Erkenntnis seitens der Führung von IRA und Sinn Féin, daß eher mit plausiblen Argumenten und weniger mit Bomben und Kugeln eine Million Protestanten für ein wiedervereinigtes Irland gewonnen werden könnten.

In seinem Buch behandelt Leahy nicht nur die militärischen, sondern auch die politischen Aspekte der Troubles ausführlich. Er zeigt, wie erstaunlich nahe Mitte der siebziger Jahre die Regierung Harold Wilsons war, durch gleichzeitige Geheimverhandlungen sowohl mit dem Army Council der IRA als auch mit den Vertretern der loyalistischen Ulster Volunteer Force (UVF) den Konflikt beizulegen. Leider haben reaktionäre Kräfte seitens der Unionisten in Belfast, der Tories in London sowie der britischen Generalität dem linken Vorsitzenden der britischen Labour Party einen solchen Erfolg nicht gegönnt. Aus innenpolitischen Erwägungen, die viel mehr mit der Macht in London zu tun hatten, mußten die Menschen in Nordirland weitere zwanzig Jahre lang Angst und Schrecken erleben. In der heutigen Regierung Boris Johnsons ist das zweitwichtigste Mitglied, Michael Gove, ein erklärter Kritiker des vom Sozialdemokraten Tony Blair und dem damaligen irischen Premierminister Bertie Ahern ausgehandelten Karfreitagsabkommen, das er quasi als Dolchstoß in den Rücken des britischen Soldatentums betrachtet. Man kann nur hoffen, daß der laufende Streit zwischen Großbritannien und der EU über die Post-Brexit-Handelsmodalitäten gerade um Nordirland nicht derart eskaliert, daß London die Region erneut für seine eigenen Zwecke destabilisiert.

18. Mai 2021


Aufruf zum friedlichen Miteinander - 'End Sectarianism - Bring Down the Walls' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Belfaster Wandmalerei gegen religiösen Haß und für Versöhnung
Foto: © 2015 by Schattenblick


Thomas Leahy
The Intelligence War Against the IRA
Cambridge University Press, 2020
350 Seiten
ISBN: 978-1-1108720403


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang