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REZENSION/750: Jared Diamond - Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen (SB)


Jared Diamond


Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen



Der US-amerikanische Geograph, Biologe und Historiker Jared Diamond schrieb 2005 mit "Collapse - How Societies Choose to Fail or Succeed" (z. Dt.: "Kollaps - Warum Gesellschaften überleben oder untergehen") einen in viele Sprachen übersetzten Bestseller. Darin schildert er auf der einen Seite die Zusammenbrüche früherer Gesellschaften wie beispielsweise der Anasazi in Nordamerika, Polynesier auf der Osterinsel, Maya in Südamerika und Wikinger auf Grönland und auf der anderen Erfolgsgeschichten wie die der Menschen auf der Salomonen-Insel Tikopia und des Tokugawa-Shogunats (1603 - 1868; auch Edo-Zeit genannt) in Japan. Der Schwerpunkt des Buchs besteht in der Beschreibung und Analyse des Verhaltens von Gesellschaften in einer Umwelt, die sich mal aufgrund menschlichen Tuns, mal aufgrund natürlicher Prozesse drastisch gewandelt hat. Ergänzt werden die historischen Rückblicke mit vergleichsweise jüngeren gesellschaftlichen Entwicklungen wie dem Völkermord 1994 in Ruanda.

Mit dem Begriff "Kollaps" im Buchtitel wird eine hohe Geschwindigkeit des Zusammenbruchs nahegelegt. Das geben die Beispiele allerdings nicht her. In den beschriebenen Gesellschaften erstreckte sich der jeweilige Niedergang mindestens über zwei Generationen; meistens verstrich noch sehr viel mehr Zeit. Auch wenn jene Gesellschaften unterschiedlich groß waren und die natürlichen Voraussetzungen zwischen klimatisch unterschiedlichen Zonen wie den Tropen und der Arktis extrem variierten, glaubt Diamond, fünf gemeinsame Ursachen ausfindig gemacht zu haben, die einzeln oder in Kombination miteinander für den Untergang einer Gesellschaft hauptverantwortlich sein können: Umweltzerstörungen (wie das Abholzen sämtlicher Bäume auf der Osterinsel), Klimaveränderungen (die Abkühlung auf Grönland ließ das gewohnte Leben für die Wikinger nicht mehr zu), feindliche Nachbarn (die beispielsweise zum Untergang des Khmer-Reichs beigetragen haben), der Wegfall von Handelspartnern (wie auf den Pazifikinseln Pitcairn und Henderson) und nicht zuletzt eine falsche Reaktion der Gesellschaft auf Veränderungen ihrer Umwelt.

Letzteres wiederum betrifft jeden der vorgenannten Gründe. Denn selbst die Wikinger, die von Island kommend mehrere Jahrhunderte auf Grönland gelebt haben, hätten trotz der klimatischen Abkühlung womöglich überlebt, wenn sie die ebenfalls auf der weitreichend eisbedeckten Insel lebenden Inuit nicht bekriegt, sondern deren erfolgreichen Überlebenstechniken angenommen hätten, und dazu gehörte nun mal nicht die von den Wikingern bevorzugte, aber unter den eisigen Bedingungen Grönlands nicht länger aufrechtzuerhaltende Rinderzucht. Was die Vorstellung von "falschen" Entscheidungen einer Gesellschaft betrifft, so handelt es sich stets um eine Betrachtung im nachhinein. Es kann, muss aber nicht bedeuten, dass der mutmaßliche Fehler rechtzeitig hätte erkannt werden können.


Eine Gruppe mit Lanzen bewaffneter, bärtiger Männer überfällt in Felle gekleidete Inuit und tötet diese - Grafik: Holzschnitt, Seite 45 von 'Kaladlit Assilialiait' (1860), British Library, Public domain via Wikimedia Commons

Im Zusammenhang mit der Kleinen Eiszeit (1400 bis 1850) kühlte sich das Klima auf Grönland ab. Vermutlich haben die letzten Wikinger die Insel im Laufe des 16. Jahrhunderts verlassen.
Grafik: Holzschnitt, Seite 45 von "Kaladlit Assilialiait" (1860), British Library, Public domain via Wikimedia Commons

Nicht zuletzt waren die herrschenden klerikalen und weltlichen Eliten von Gesellschaften wie denen der Maya in Südamerika oder der Polynesier auf der Osterinsel an dem Niedergang beteiligt, indem sie ihre persönlichen Interessen gegenüber denen der Bevölkerung durchgesetzt haben, wie Diamond schreibt. Wenn also nach einem gemeinsamen Merkmal des Untergangs gesucht wird, sollte auch dieser Punkt - vorherrschende Partikularinteressen versus allgemeingesellschaftliche Interessen - seiner Meinung nach nicht vernachlässigt werden.

Diamonds analytische Methode besteht darin, von einer Reihe von Einzelbeispielen auf allgemeine Merkmale des Niedergangs von Gesellschaften zu schließen, um davon wiederum allgemeingültige Schlussfolgerungen ziehen zu können, die auf weitere Einzelbeispiele anwendbar sind. Das liest sich ansprechend, bleibt jedoch inhaltlich auf der Strecke. Denn unterm Strich erscheint jede Gesellschaft im Kontext ihrer Umweltbedingungen als einzigartig, so dass die von Diamond formulierten allgemeinen Merkmale wenig aussagekräftig bleiben. Letzten Endes lassen sich allgemein geltende Faktoren kaum von Allgemeinplätzen unterscheiden.

So bietet der Autor Antworten und Erklärungen an, die manchmal recht banal wirken - eine Gesellschaft ist untergegangen, weil sie auf Umweltveränderungen falsch reagiert hat -, und manchmal uralte Vorurteile bedient - a) Menschen fallen zwangsläufig übereinander her oder übernutzen Ressourcen, wenn sie nicht durch eine höhere gesellschaftliche Ordnung daran gehindert werden; b) indigene Völker sind irgendwie auf einem früheren Entwicklungsstand "steckengeblieben".

Bereits mit einem seiner früheren Bücher, "Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human Societies" (z. Dt.: "Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften"), das 1998 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, hatte Diamond eine breite Rezeption in den Medien erfahren. Mit "Kollaps" setzte sich die Aufmerksamkeit fort. Dabei waren einzelne Thesen in der Fachwelt, in deren Gewässern Diamond gefischt hatte, durchaus umstritten. Manche unterstellten ihm Öko-Determinismus. Beispielsweise attestiert der Schweizer Ethnologe Jürg Helbling dem Autor "Malthusisches" Denken, weil dieser Bevölkerungsdruck sowie Übernutzung und Schädigung der Ressourcen als Begründung für den von Krieg begleiteten Untergang einer Gesellschaft ansieht. Dabei verhalte es sich meist genau umgekehrt, meint Helbling, erst komme der Krieg, dann das Bevölkerungswachstum und die Übernutzung bzw. Vernichtung von Ressourcen (tinyurl.com/uyh3sydf).

Solche Debatten um Ursachen und Folgen sollen hier nicht nachgezeichnet werden. Es geht um die Frage, ob ein Weltbestseller, auf den vielfach mal positiv, mal negativ Bezug genommen wurde, die damals in ihn gesetzte Erwartung, aus der Analyse gesellschaftlicher Niedergänge Handlungsempfehlungen ableiten zu können, erfüllt und gut eineinhalb Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung noch etwas dazu beizutragen hat, dass die gegenwärtigen globalen Krisen verlangsamt, gestoppt oder gar in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Diese Frage muss aus heutiger Sicht differenziert beantwortet werden, ohne damit der Beliebigkeit das Wort sprechen zu wollen. Sicherlich gemahnt die Lektüre des Buchs daran, dass der soziale Zusammenhalt, ob von Imperien, Staaten oder kleineren Lebensgemeinschaften, alles andere als fest und die Zukunft für alle Beteiligten gesichert ist. Eine Binsenweisheit zwar, aber angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich gegenwärtig diverse Natursysteme in Folge der Ausbreitung des Menschen verändern, kann auf keine Mahnung verzichtet werden, die zum Ziel hat, Schadensminderung zu betreiben.


Rund ein halbes Dutzend versetzt zueinander stehender, teils umgefallener Steinfiguren an einem grasbewachsenen Hang - Foto: Yves Picq, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Für den Transport der Steinfiguren (Moai) auf der Osterinsel mussten zahlreiche Bäume gefällt werden. Laut Jared Diamond war die komplette Entwaldung ein wichtiger Grund für den Kollaps der Gesellschaft.
Foto: Yves Picq, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Obgleich es Jared Diamond gelungen ist, eine wissenschaftliche Fragestellung zum Untergang oder Überleben von Gesellschaften für Laien aufzubereiten und die Lektüre seines Buchs für die Folgen der in der hiesigen Gesellschaft bevorzugten Produktionsverhältnisse und des Konsumismus zu sensibilisieren vermag, bedarf es solcher Expertise inzwischen eigentlich nicht mehr. Regelmäßig werden Studien entweder zu globalen oder regionalen Aspekten des Klimawandels, der Extremwetterereignisse, des Artensterbens, etc. publiziert. Die Zukunftsunsicherheit greift um sich, nicht allein im Globalen Süden. So steht der Klimawandel auch in den gemäßigten Breiten nicht mehr nur vor der Tür; hier und da hat er die Schwelle bereits überschritten. Auch die Frage, welche Folgen die globale Erwärmung für die klimatisch privilegierten Regionen beispielsweise Europas in Zukunft haben wird, ist kein Geheimnis. Dazu bedarf es nicht einmal wissenschaftlichen Projektionen, dazu genügt ein Blick über den eigenen Tellerrand hinaus auf die Länder und Regionen des Trikonts, aus denen aktuell immer mehr Menschen meist in Richtung Norden flüchten. Bewaffnete Konflikte und klimatische Veränderungen als wesentliche Fluchtursachen sind aufs engste miteinander verwoben.

Die Politik kann die globalen Krisen nicht ignorieren ... sollte man meinen. Ist nicht in dieser Hinsicht alles gesagt, zumindest alles Erforderliche, um die eigentlich notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen? Es mangelt nicht an Konzepten, sei es aus der Politikberatung, von wissenschaftlichen Institutionen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen, wie eine zukunftsfeste Transformation der Gesellschaft gestaltet werden sollte. Es mangelt jedoch massiv an der politischen Umsetzung und - was über den berechtigten Verweis auf die gemeinsamen Interessen von Politik und Wirtschaft hinaus zu erwähnen häufig vernachlässigt wird - am gesellschaftlichen Rückhalt, wollte eine Regierung die mit den aus Klimaschutzgründen verbundenen Einschränkungen des gewohnten Konsumverhaltens durchsetzen.

Diamond ist nicht der einzige, der hinsichtlich der Frage, was die Menschen gegen die multiplen Krisen unternehmen sollten, die Vergesellschaftung als solche vernachlässigt. Diese hat im Laufe der Zivilisationsgeschichte nicht nur einen technologischen Fortschritt mit zweifelhaftem Ausgang mit sich gebracht - Stichwort Klimawandel als Folge fossiler Energiesysteme -, sondern auch qualifizierte Formen sozialer Gegenseitigkeit, angefangen von der warenförmigen Tauschwirtschaft bis hin zur Lohnarbeit, bei der Arbeitskraft gegen Lohn getauscht wird und der Mehrwert aus der geleisteten Arbeit angeeignet und akkumuliert werden kann.

Theoretisch wäre Arbeit ohne Entgelt und ohne Tausch möglich, jedoch ist dies schwer vorstellbar in unüberschaubar großen Gesellschaften, die in Nationalstaaten organisiert sind. Arbeit wird heute synonym mit Lohnarbeit gesetzt, obschon es sich dabei um etwas anderes handelt. Das ist in diesem Zusammenhang insofern relevant, als dass menschliche Gemeinschaften, deren Mitgliederinnen und Mitglieder sich nicht gegeneinander definieren und in denen sich keine Hierarchien gebildet haben, ganz andere Möglichkeiten hätten, mit existentiell bedrohlichen Veränderungen ihrer Umwelt umzugehen, so dass sie deren Folgen gemeinsam tragen.

Selbst wenn in einer Gemeinschaft nicht genügend zu essen produziert wird oder Menschen aufgrund von Naturkatastrophen ihr Hab und Gut verlieren, muss das nicht bedeuten, dass sie damit alleingelassen werden. Von daher wären Naturkatastrophen viel weitreichender als gesellschaftliche Katastrophen anzusehen, als es allgemein wahrgenommen wird. Statt dessen wird der gesellschaftliche Kontext mit vermeintlich natürlichen Sachzwängen "wegerklärt". Auch Diamond bedient mit "Kollaps" eine Sichtweise, bei der das enge Zusammenspiel von Gesellschaft und Umwelt zwar anschaulich geschildert, aber der gesellschaftliche Grundwiderspruch nicht angesprochen wird.


Zwei Männer stehen in einem Boot, einer fischt mit einer langen Stange im Wasser. Im Hintergrund weitere Personen, eine Windmühle, ein Gehöft und ein Dorf. - Foto: Unbekannter Autor, Public domain, via Wikimedia Commons

Torfgewinnung mit Baggerbeugeln im Niedermoorgebiet im Westen der Niederlande, ca. 1800.
Der Torf wird mit einer Art Schöpfnetz an bis zu acht Meter langen Stangen unter der Wasseroberfläche gewonnen, zum Trocknen auf Moorflächen ausgelegt und später abgestochen.
Foto: Unbekannter Autor, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Niederlande werden von Diamond als ein modernes, positives Beispiel für wachsendes Umweltbewusstsein aufgeführt. Ein Grund dafür sei, dass viele Menschen, reiche wie arme, unterhalb des Meeresspiegels leben und daher aufeinander und eine funktionierende Gesellschaft angewiesen sind, behauptet der Autor.

Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Niederlande pro Kopf gerechnet zu den größten Holzimportländern der Welt gehören und dass die Wälder in anderen Weltregionen für den gehobenen niederländischen Lebensstil gerodet werden. Abgesehen davon haben sich die Niederlande durch Entwässerung und Abbau von Mooren sprichwörtlich selbst das Wasser abgegraben. Bis zu acht Meter lag das Land einst höher, als sich dort die ersten Menschen ansiedelten. (Wie man sich leicht ausmalen kann, wurden die ersten Gehöfte und Dörfer niemals acht Meter unterhalb des Wasserspiegels errichtet.)

Heute muss das Land mit riesigen Bauwerken gegen die Flut geschützt werden. Vielleicht hat sich das Umweltbewusstein der politischen Führung der Niederlande und auch der Menschen allgemein gewandelt, aber auch daran bestehen leise Zweifel, ist unser westlicher Nachbar doch Heimat von Konzernen wie Royal Dutch Shell und Schlumberger, die beide von der Verbreitung der fossilen Energiewirtschaft profitieren, wie der Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus, der Automobilkonzern Stellantis und vielen Industriekonzernen und Handelsgesellschaften mehr. Sie alle tragen Mitverantwortung für die globale Erwärmung.

Vielleicht können sich die Niederlande eine Zeitlang gegen den von ihnen mitverursachten Meeresspiegelanstieg schützen, andere Länder wie Kiribati, Tuvalu oder Bangladesch, deren Pro-Kopf-Anteile an den Treibhausgasemissionen historisch wie aktuell deutlich unter denen der Niederlande liegen, stehen nicht die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung. Vielleicht wird in den Niederlanden ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein gepflegt, aber die nackten Zahlen sprechen eine andere Sprache. 2015 lag die Niederlande mit den Treibhausgasemissionen pro Kopf der Bevölkerung im Staatenvergleich an 28. Stelle, noch vor Ländern wie Deutschland, Japan, Südafrika und China und nochmals deutlich weiter vor den oben genannten drei Ländern des Globalen Südens.


Wellen peitschen bei Sturm gegen ein Bauwerk aus einer langen Reihe von Türmen und Schotten im Wechsel - Foto: Rens Jacobs / Beeldbank V&W., Attribution, via Wikimedia Commons

Oosterschelde-Sperrwerk mit abgesenkten Fluttoren, 27. Februar 1990.
Das Bauwerk zählt zu den mehrere Milliarden Euro teuren Deltawerken, mit denen sich die Niederlande gegen Sturmfluten und Meeresspiegelanstieg schützen.
Foto: Rens Jacobs / Beeldbank V&W., Attribution, via Wikimedia Commons

Was also bleibt? Jared Diamonds 16 Jahre altes Buch ist aus dem bürgerlich liberalen Lager der USA hervorgegangen. Es bietet auch heute noch viele bemerkenswerte Einblicke in gesellschaftliche Entwicklungen, die von Umweltfaktoren teilweise massiv beeinflusst wurden. Dabei pflegt der Autor den typischen Blick des Geographen, der größere Zusammenhänge im Verhalten des Menschen in den Grenzen von Naturräumen betrachtet und beschreibt. Das liest sich flott und trägt zum oberflächlichen Verständnis der Notlage bei, in die sich Menschen hineinmanövriert haben. Indessen werden grundlegende Faktoren der Entwicklung der Not nicht angesprochen. Diese entsteht nicht hauptursächlich als Folge des Lebens in benachteiligten Klimazonen, sondern als Folge der gesellschaftlichen Organisation. In der wiederum kommt der Verteidigung des Eigentums eine zentrale Bedeutung zu.

Um das ohrenbetäubende Schweigen der Tausenden von Ertrunkenen im Mittelmeer und das der Verdurstenden in der mexikanischen Wüste auf ihrem Weg in sicherere Gefilde nicht hören zu müssen, werden seitens der Wohlstandsregionen beträchtliche Anstrengungen unternommen. Mit hochmodernen Grenzzäunen sowie Hightech-Überwachungsregimen bewahren die USA, EU und andere privilegierte Räume das von ihnen beanspruchte Eigentum und sichern das Wohlstandsgefälle dauerhaft. Bei der Frage, ob die heutige Gesellschaft es schafft zu überleben, wird ignoriert, dass diese Gesellschaft Gegensätze zwischen Verelendung und Wohlstand wie Hungersnot und Übersättigung, Lohnarbeitssklaverei und Reichtumsanhäufung produziert. Wo aber Menschen kein Dach über dem Kopf haben oder den Müll nach Essbarem durchwühlen müssen, hat der Kollaps längst stattgefunden. Er ist kein zukünftiges Ereignis, sondern bittere Erfahrung zahlloser Menschen.

Was der Autor anhand historischer Beispiele schildert, findet als gesellschaftlicher Bruch hier und heute statt: Mehr als 800 Millionen Menschen leiden Hunger, mehrere Dutzend Millionen von ihnen sterben aufgrund Nahrungsmangels. Mehr "Kollaps" als der Verlust des eigenen Lebens und das der Angehörigen geht nicht. Das Gesellschaftsmodell, das so etwas zulässt, ja, Tag für Tag von neuem herbeiführt, hat den Kollaps integriert. Die existentielle Not ist systemisch angelegt, und die Wissenschaft mit ihren Beschreibungsmodellen ist anscheinend so sehr mit den vorherrschenden Interessen verbunden, dass sie das ignoriert.

27. September 2021

Kollaps.Warum Gesellschaften überleben oder untergehen
Jared Diamond
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005
728 Seiten
ISBN-13: 978-3-596-19258-8


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 168 vom 2. Oktober 2021


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