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REZENSION/766: Aijaz Ahmad - Klassen Nationen Literaturen (SB)


Aijaz Ahmand


Klassen Nationen Literaturen

Eine theoretische Betrachtung



Auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen, da bereits 1992 veröffentlicht, erweist sich das zentrale Werk des Literaturtheoretikers und Marxisten Aijaz Ahmad als ergiebige Quelle zu Fragen anti- und postkolonialer Positionierungen. In "Klassen Nationen Literaturen" geht es zwar in erster Linie um literaturwissenschaftliche Zugänge zum Verständnis eines westlichen Begriffs von Literatur, die in Ländern der Dritten Welt oder des Globalen Südens verfasst wurde. Dies erfordert jedoch einen umfassenden Blick auf die Geschichte der Dekolonisierung, die Ahmad von 1945 bis Ende der 1990er Jahre kritisch aufarbeitet.

Dem in Indien und den USA lehrenden Autor geht es vor allem darum, die Vorstellung von einem konsensfähigen Literaturkanon, der in den ehemaligen Kolonialstaaten entstanden sei, als irreführend zu verwerfen. Dazu verweist er auf die höchst heterogene Geschichte antikolonialistischer Befreiungskämpfe in aller Welt und die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen sie unter dem Druck imperialistischer Kontrolle erfolgten. Den von ihm kritisierten LiteraturwissenschaftlerInnen, die die Existenz einer Literatur der Dritten Welt attestieren, lastet er nicht nur an, die eigene Klassenposition zu ignorieren. Ahmad geht es insbesondere darum, den poststrukturalistischen Turn in den Literaturwissenschaften als Abkehr linker Intellektueller in den westlichen Metropolengesellschaften vom Marxismus und der Verwirklichung des Sozialismus zu kritisieren.

Sein Disput mit dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Fredric Jameson, der 1986 die literarische Produktivität von AutorInnen aus dem Globalen Süden gegen den Vorwurf verteidigte, den ästhetischen Ansprüchen westlicher Literaturkritik nicht zu genügen, war der eigentliche Anlass zum Verfassen des vorliegenden Buches. In dem offensichtlich kurz vor seinem Tod am 9. März 2022 verfassten Vorwort zur deutschen Ausgabe erklärt Ahmad, durchaus ein Bewunderer von Jameson zu sein, die von ihm repräsentierte Literaturtheorie jedoch gerade an ihren Stärken bemessen zu wollen.

Der Einfluss, den der Poststrukturalismus auf die Literaturwissenschaften genommen hat, ergibt sich für Ahmad aus der weltweiten Niederlage des Sozialismus von den ehemaligen Kolonialstaaten bis zur Sowjetunion, deren Ende dem Verfassen dieses Buches unmittelbar vorausging. Dieser in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1980er Jahren hegemonialen Doktrin war die Abkehr von marxistischer Klassenanalyse, die Überformung materialistischer Staatskritik durch kulturalistische Debatten und eine Hinwendung zu bürgerlicher Subjektivierung bei gleichzeitiger Aberkennung der Autonomie des Subjekts immanent.

Vor diesem Hintergrund lastet er dem einflussreichen Autoren Edward Said, dessen Werk "Orientalism" zu den Klassikern postkolonialer Theoriebildung gehört und dessen Engagement im palästinensischen Befreiungskampf Ahmad höchsten Respekt zollt, an, sich in den Grundlagen seiner Theorie maßgeblich an Michel Foucault orientiert und damit auch dessen antisozialistische Position übernommen zu haben. Die auf 80 Seiten ausgebreitete Auseinandersetzung mit dem Konzept des Orientalismus wäre zweifellos ein eigenes Buch wert und stellt einen wichtigen Beitrag zum Kolonialismusdiskurs dar.

Auf nicht minder exemplarische Weise setzt sich Ahmad mit dem 1983 veröffentlichten Roman "Shame" von Salman Rushdie auseinander, dessen patriarchale Signatur er kritisiert. Der ebenfalls im britischen Indien geborene Autor findet weniger Zuspruch, ist Ahmad doch beim Thema der Teilung des Landes, die den Hintergrund des vorgestellten Romans bildet, häufig nicht der gleichen Ansicht wie Rushdie. Was dessen Verfolgung durch islamistische Fundamentalisten betrifft, zeigt sich Ahmad jedoch ganz und gar solidarisch mit Rushdie.

Ahmads Bekenntnis zum Sozialismus, dessen Scheitern in den antikolonialen Befreiungskämpfen er zugleich der Übermacht der imperialistischen Staatenwelt wie der Korrumpierung bourgeoiser nationaler Eliten durch diese anlastet, geht mit einer Kritik des poststrukturalistischen Blickes auf nationale Formen revolutionärer Organisation einher, die er nicht rundheraus als Zwangseinheiten verwerfen will. Er weigere sich zu akzeptieren, dass der Nationalismus das determinierte Gegenteil des Imperialismus sei, dieser Status komme allein dem Sozialismus zu.

Eine Kritik am Nationalismus ohne diese explizite Verortung in einem klar sozialistischen Projekt macht für mich weder politisch noch theoretisch Sinn. Ich akzeptiere auch nicht, dass der Nationalismus eine monolithische Sache ist, immer progressiv oder immer reaktionär. Welche Rolle ein bestimmter Nationalismus spielt, hängt immer von der Konfiguration der Klassenkräfte und gesellschaftspolitischen Praktiken ab, die den Machtblock organisieren.
(S. 31)

Dementsprechend kritisch betrachtet Ahmad die Gutheißung dekolonialer Bewegungen durch westliche Linke, die versäume, deren jeweils revolutionäre oder bourgeoise Ausrichtung zum Anlass einer differenzierten Bewertung zu machen. Dies leistet der Autor im Rahmen des Buches, indem er diverse Befreiungskämpfe im Trikont auf ihren sozialistischen Gehalt hin untersucht, was unter anderem zum Ergebnis hat, dass die ursprünglich nicht bewertend gemeinte Drei-Welten-Lehre als dieser Komplexität nicht gerecht werdend verworfen wird. Seit der Begriff der Dritten Welt nicht einmal mehr im entwicklungspolitischen Diskurs Verwendung findet, wird vor allem von Globalem Süden gesprochen, was in seinem vereinheitlichenden Charakter seinerseits Anlass zur Überprüfung dafür geben könnte, ob das damit Adressierte nicht eurozentrischem Wunschdenken entspringt.

Für Aijaz Ahmad, der 1941 im heutigen Pakistan geboren wurde und dessen Familie nach der Teilung des Landes nach Indien emigrierte, ist der Vietnamkrieg der Höhe- wie Endpunkt jener antikolonialen Befreiungskämpfe, deren Akteure eine explizit sozialistische Agenda verfolgten. Dass es der im Westen gegen diesen Krieg protestierenden Bewegung nicht einfiel, sich für Reparationen an das stark zerstörte Vietnam einzusetzen, ist für Ahmad einer der Gründe, dass der Sozialismus dort keine positive Entwicklung nehmen konnte.

Nur wenige Jahre später zeitigte der Glaube westlicher Intellektueller an den emanzipatorischen Charakter auch von nationalen Bourgeoisien geführter Dekolonisierungsbemühungen, unter die Ahmad auch die Blockfreienbewegung subsumiert, im Falle des Irans besonders tragische Ergebnisse. Dort wurde die Revolution von einigen Linken in Westeuropa und Nordamerika noch verteidigt, als iranische KommunistInnen bereits im Auftrag Khomeinis verfolgt, inhaftiert und hingerichtet wurden. Erst mit der Fatwa gegen Salman Rushdie und der dadurch ausgelösten Protestkampagne der literarischen Elite im Westen habe sich das geändert.

Als die Entartung des iranischen Staates zum klerikalen Faschismus unverkennbar wurde, musste die letzte verbleibende Illusion über den kulturellen Nationalismus der Dritten Welt endgültig aufgegeben werden. Und wodurch sollte dieser nun ersetzt werden? Der Sozialismus war als bestimmte Negation des Imperialismus aufgegeben worden. Der Nationalismus - in seiner Gesamtheit - war auch verschwunden. Es gab also ein doppeltes Vakuum, das der Poststrukturalismus in seinen radikalisierten Versionen der metropolitanen Literaturtheorie jetzt füllen soll.
(S. 61)

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht von Interesse sind auch Ahmads Ausführungen über die Rolle des Englischen in der Weltliteratur, über den Versuch, die Kategorie einer "Indischen Literatur" zu etablieren und über die Dominanz des europäischen und nordamerikanischen Literaturbetriebs im globalen Verlagswesen. Lesenswert ist das vorliegende Buch, auch wenn sein Titel anderes erwarten lässt, vor allem für ein Publikum, das die Geschichte antikolonialer Befreiungsbewegungen einmal aus dem Blickwinkel der jahrzehntelangen Kämpfe für einen Sozialismus kennenlernen möchte, dessen Zeit noch kommen könnte, sollte sich der Imperialismus dereinst zu Tode gesiegt haben.

Daran wird derzeit kräftig gearbeitet, steht Russland doch längst nicht mehr für jene Zweite Welt, als die die quasi implodierte Sowjetunion, die Volksrepublik China und alle anderen sozialistischen Staaten einst firmierten. Der nationalhegemoniale Feldzug Russlands negiert kein emanzipatorisches Projekt, wie PolitikerInnen, die in ihrer maoistischen Vergangenheit den revolutionären Volkskrieg propagierten, meinen mögen, wenn sie die Verteidigung der Ukraine als dessen Reinszenierung propagieren. Und die Werte, für die laut NATO in der Ukraine gestorben wird, haben nichts mit sozialer Gleichheit zu tun, ganz im Gegenteil - was immer egalitär und kollektiv daherkommt, ist ein Affront gegen jeden Werteuniversalismus, der sich auf die kapitalistische Eigentumsordnung stützt. Daran lässt die von Aijaz Ahmad vertretene Kritik am Imperialismus keinen Zweifel.

19. September 2022

Aijaz Ahmad
Klassen Nationen Literaturen
Eine theoretische Betrachtung
Mangroven Verlag, Kassel, 2022
421 Seiten
26,00 Euro
ISBN: 978-3-946946-21-2


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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