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EUROPA/305: Deutschland - Gleiche Rechte nicht für alle (ai journal)


amnesty journal 08/09/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Gleiche Rechte nicht für alle

Wie steht es mit den sozialen Menschenrechten in Deutschland?
Dazu befragte der UNO-Sozialausschuss die Bundesregierung.
Fazit: Deutschland muss mehr tun, damit sich soziale Benachteiligung nicht über Generationen fortsetzt.

Von Dorothee Haßkamp


Warum brechen so viele Kinder aus armen Familien die Schule ab? Wie reagiert die Regierung darauf, dass immer mehr Menschen nicht mehr von ihrem Vollzeitjob leben können? Was unternimmt sie dagegen, dass Frauen ein Viertel weniger verdienen als Männer? Wer bestimmt, welche Arbeit für Empfänger von Hartz-IV "zumutbar" ist? Diese und andere Fragen erörterte der UNO-Sozialausschuss mit der Bundesregierung und stieß dabei auf manch kritischen Punkt.

Das Gremium überwacht den internationalen Sozialpakt und fordert in regelmäßigen Abständen schriftliche Berichte von den Vertragsstaaten, so auch von Deutschland. Vertreter mehrerer Bundesministerien waren Anfang Mai nach Genf gereist, um den 18 Sachverständigen der UNO zwei Tage lang Rede und Antwort zu stehen. In seinen "Abschließenden Bemerkungen" hat der UNO-Sozialausschuss anschließend menschenrechtliche Fortschritte und Schwachstellen in so grundlegenden Bereichen wie Bildung, Arbeit, Gesundheit und soziale Sicherheit zusammengefasst. Dabei konnte er sich nicht nur auf den Staatenbericht der Bundesregierung stützen, sondern auch auf Parallel- oder "Schattenberichte" von mehr als 20 deutschen Nichtregierungsorganisationen.

Doch kaum hatte der UNO-Sozialausschuss Ende Mai auf zehn Seiten öffentlich skizziert, wo er menschenrechtliche Defizite sieht, reagierten die ersten Medien bereits pikiert: Wenn die UNO glaube, dass in Deutschland etwas nicht stimme, dann stimme doch wohl etwas mit der UNO nicht! Sei die Situation in anderen Ländern etwa nicht viel schlechter? Doch sagt der Wohlstand eines Landes allein nichts darüber aus, ob ein Staat seinen Verpflichtungen aus dem Sozialpakt nachkommt. Eine der Leitfragen lautet vielmehr: Werden die sozialen Menschenrechte geachtet, geschützt und im Rahmen des Machbaren gewährleistet - und zwar ohne Diskriminierung?

Für Diskriminierung hat der Ausschuss ein feines Gespür, und er lobte ausdrücklich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Kein Verständnis hatte er jedoch dafür, dass Familien von Migranten über Generationen hinweg sozial benachteiligt bleiben. Die Menschenrechtsexperten mahnten, Deutschland müsse mehr tun, um Benachteiligungen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt zu bekämpfen, und aktiver gegen vorherrschende Vorurteile vorgehen.

Der Ausschuss erinnerte die Regierung daran, dass diese Mahnung so neu nicht sei: Schon vor fünf Jahren hatte der UNO-Bildungsexperte Vernor Muñoz nach seinem Deutschlandbesuch kritisiert, dass das Schulsystem Kindern mit Migrationshintergrund und Kindern mit Behinderungen nicht gerecht werde.

Harsche Kritik übte der Ausschuss am Umgang Deutschlands mit Asylsuchenden, an ihrem beschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung und zum Arbeitsmarkt sowie an ihrer Abhängigkeit von Leistungen weit unter dem Sozialhilfesatz. Zum Asylbewerberleistungsgesetz hat auch Amnesty International dem Bundesverfassungsgericht gegenüber die schwerwiegende Befürchtung geäußert, dass die aktuellen Sätze nicht einmal ausreichen, um das Recht auf angemessene Ernährung für die betroffenen Kinder sicherzustellen.

Dass rund 2,5 Millionen Kinder und nach Regierungsangaben 13 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, ist für die UNO-Menschenrechtsexperten ein Alarmsignal: Das könne ein Zeichen dafür sein, dass die Höhe der Sozialleistungen nicht ausreichend sei oder dafür, dass das komplexe Sozialsystem nicht von allen gleichermaßen verstanden und in Anspruch genommen werden könne. Die Tatsache, dass viele Kinder ohne Frühstück zur Schule kommen, es aber gleichzeitig in den meisten Schulen kein Mittagessen gibt, führte zu der Frage, wie denn dann die Versorgung der Kinder mit ordentlichen Mahlzeiten sichergestellt werde? Hier sah der Ausschuss dringenden Handlungsbedarf. Gelobt wurde hingegen das dichte Netz an Beratungs- und Notrufstellen für Kinder und Jugendliche.

Auch die von der Regierung geschilderten Maßnahmen, geschlechterspezifische Stereotype im Berufsleben zu verändern, begrüßte der Ausschuss. Trotzdem ist beim Thema Geschlechtergerechtigkeit noch viel zu tun: Der Ausschuss kritisierte das erhebliche Lohngefälle zwischen Männern und Frauen. Er vermisste männliche Erzieher im Kindergarten ebenso wie Frauen in Führungspositionen und regte an, über Quoten im öffentlichen Sektor nachzudenken. Einen klaren Verstoß gegen den Sozialpakt sah er im pauschalen Streikverbot für Beamte. Anlass zur Sorge gab die Regelung, wonach Empfänger von Hartz-IV jede "zumutbare Arbeit" annehmen müssen: Die Bundesregierung müsse unbedingt sicherstellen, dass dies nicht am Ende als "praktisch jede Arbeit" ausgelegt werde.

Neben vielen weiteren konstruktiven und kritischen Anmerkungen findet sich im Bericht auch die Aufforderung, mit gutem Beispiel voranzugehen und das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt zu ratifizieren. Es gibt Menschen die Möglichkeit, sich an den UNO-Ausschuss zu wenden, wenn sie sich in ihren sozialen Rechten verletzt sehen und den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft haben. Mehrfach hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren versichert, sie wolle es zügig ratifizieren. Amnesty International betrachtet das Zusatzprotokoll als Meilenstein im weltweiten Menschenrechtsschutz. Deshalb fordert nun eine öffentliche Petition in Deutschland Bundesarbeitsministerin von der Leyen auf, die Ratifizierung nicht länger zu blockieren.

Denn mit der Veröffentlichung der "Abschließenden Bemerkungen" haben die Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen ihren Teil der Arbeit getan. Jetzt liegt es an der Politik und der Zivilgesellschaft, weiter darauf hinzuarbeiten, das Deutschland als Vertragsstaat des Sozialpakts garantiert, dass soziale Rechte für alle gleichermaßen gelten.


Die abschließenden Bemerkungen des UNO-Sozialausschusses zu Deutschland, eine nichtamtliche deutsche Übersetzung sowie Berichte von Nichtregierungsorganisationen sind abrufbar auf www.amnesty-wsk.de

Die Autorin ist Mitglied der Amnesty-Themengruppe für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2011, S. 56-57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2011