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EUROPA/362: Deutschland - Das Asylpaket II, Menschenrechte in Gefahr


Amnesty International - Mitteilung vom 9. Dezember 2015

Das Asylpaket II: Menschenrechte in Gefahr


Die Koalition berät seit Anfang November intensiv über das sogenannte "Asylpaket II". Amnesty und andere Organisationen haben die ersten konkreten Informationen hierzu durch einen Referentenentwurf vom 19.11.2015 erhalten. Diese sind alarmierend: Sie lassen befürchten, dass das Asylpaket II grundlegende Prinzipien von fairen Asylverfahren in Frage stellt und damit das Recht, Asyl zu suchen, aushöhlt.

Im Folgenden machen wir auf die Aspekte aufmerksam, die menschenrechtlich sowie rechtstaatlich bedenklich sind:


Schnellverfahren ohne Beratung

Wichtigster Punkt im Asylpaket II ist die Einführung von Zentren für bestimmte Gruppen von Flüchtlingen, die als "besondere Aufnahmeeinrichtungen" (BAE) bezeichnet werden. Dort sollen Asylverfahren innerhalb von drei Wochen durchgeführt werden, inklusive der möglichen Berufung vor Gericht.

Die Zentren sollen in größerer Entfernung von Ballungsräumen und größeren Städten liegen. Für die Menschen in den BAE gilt eine strikte Residenzpflicht. Die Asylsuchenden dürfen den jeweiligen Bezirk nicht verlassen und haben so nur sehr begrenzte Möglichkeiten, Beratungsstellen oder Rechtsanwält_innen aufzusuchen. Es gibt bislang keine Informationen, dass in den Zentren eine unabhängige Rechtsberatung vorgesehen ist. Amnesty geht davon aus, dass die bereits bestehenden Beratungsstrukturen für derartig große Zentren nicht ausreichen.

Der Kernbestandteil eines jeden fairen Verfahrens - auch Asylverfahrens - ist der Zugang zu einer Rechtsanwält_in oder einer Rechtsberatung. Fehlt Asylsuchenden dieser Zugang oder werden sie nicht umfassend und unabhängig informiert, kann ein Asylverfahren nicht fair sein! Spätestens wenn sie Einspruch gegen einen negativen Bescheid einlegen wollen ("Rechtsbehelfsverfahren"), haben sie Anspruch auf eine unentgeltliche Rechtsberatung und -vertretung (Art. 20 I der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU).

Nach dem Asylpaket II müssten Schutzsuchende diesen Einspruch innerhalb der extrem kurzen Frist von nur einer Woche einlegen. In den Regionen der geplanten Zentren wird es kaum genügend Rechtsanwält_innen geben, die einem so hohen Bedarf in so kurzer Zeit gerecht werden können. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Garantie auf Rechtsberatung und -vertretung in den Zentren nicht eingehalten werden kann. Und selbst wenn: eine nur einwöchige Frist, um sich in einen neuen Fall einzuarbeiten, ist sehr kurz. Damit würden rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. Von fairen Verfahren kann dann keine Rede mehr sein.


Kein Schutz für besonders schutzbedürftige Personen

Auch in beschleunigten Verfahren müssen Garantien für besonders schutzbedürftige Personen eingehalten werden! Das legt Artikel 24 der Asylverfahrensrichtlinie fest. Ist das nicht möglich, so muss ein normales Verfahren durchgeführt werden. Eine Regelung hierfür findet sich bislang nicht im Referentenentwurf zum Asylpaket II.

Für traumatisierte Flüchtlinge sind beschleunigte Verfahren besonders problematisch. Ihr psychischer Zustand lässt es nicht zu, in der Kürze der Zeit über asylrelevante Ereignisse zu sprechen, die sie zur Flucht gezwungen haben. Ein Verfahren, das innerhalb einer Woche abgeschlossen werden soll, kann traumatisierten Menschen keine angemessene Unterstützung bieten. Es darf daher nicht bei traumatisierten Flüchtlingen angewendet werden!


Schnellverfahren als neue Standardverfahren

Das Asylpaket II würde noch mehr Menschen in Schnellverfahren zwingen als bisher: Der neue § 30a Asylgesetz bestimmt, wer von dem neuen Schnellverfahren betroffen ist. Die Kriterien umfassen viel mehr Asylsuchende als nur jene aus sogenannten "sicheren Herkunftsländern" - beispielsweise auch alle Schutzsuchenden, die ihre Ausweisdokumente "mutwillig vernichtet" haben. Der Verlust von Ausweisdokumenten auf der Flucht ist aber nicht selten. Viele Personen sind erst gar nicht in Besitz solcher Dokumente, wenn sie sich auf die Flucht begeben. Eine "mutwillige Vernichtung" der Dokumente kann leicht pauschal unterstellt werden. Dadurch könnte das "beschleunigte Asylverfahren" zum neuen Standardverfahren in Deutschland werden.


Abschiebung in die Verfolgung

Bereits jetzt hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Probleme, die vorliegenden Asylanträge zügig zu bearbeiten. Viele Schutzsuchende warten Monate, manche auch Jahre auf ihr Verfahren. Wie soll das BAMF künftig so viele Asylanträge innerhalb von nur einer Woche entscheiden? Amnesty befürchtet, dass es aufgrund der hohen Arbeitsbelastung zu vielen Fehlentscheidungen kommen wird. Aufgrund der beschriebenen Mängel im Rechtsschutz könnten diese nicht von Rechtsanwält_innen und Gerichten aufgefangen werden. Es besteht daher die ernstzunehmende Gefahr, dass Menschen in Herkunftsländer abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung und andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen (refoulement)!

Das Asylpaket II sieht außerdem eine Ausweitung der Kriterien vor, unter denen Asylverfahren komplett eingestellt werden. Hierzu gehören u.a. Verletzungen der Residenzpflicht. Es ist in keiner Weise ersichtlich, warum eine solche Verletzung der Residenzpflicht in der Schwere einem Untertauchen gleichgestellt wird und Asylanträge in der Folge abgelehnt werden! Denn eine Verletzung der Residenzpflicht liegt schon dann vor, wenn eine Person z.B. in eine Stadt außerhalb des Bezirks fährt, aber abends wieder in die Unterkunft zurückkehrt. Beim ersten Verstoß kann das Asylverfahren zwar wieder aufgenommen werden, beim zweiten Verstoß ist dies jedoch nicht mehr möglich. Es droht dann eine sofortige Abschiebung.

Dass eine Person nur aufgrund der Verletzung ihrer Residenzpflicht abgeschoben werden soll, ohne dass das BAMF prüft, ob der Person im Herkunftsland Verfolgung droht, ist nicht hinnehmbar!


Erschwerte Familienzuführung - sicherer und legaler Zugangsweg wird erneut verschlossen

Das Asylpaket II soll es Menschen, die z.B. vor bewaffneten Konflikten fliehen ("subsidiär Schutzberechtigte"), erschweren, ihre Familien nachzuholen. Dabei wurde ihnen dies erst durch eine Gesetzesänderung im August 2015 erleichtert, da auch für diese Personen die Familieneinheit nur in Deutschland hergestellt werden kann und nicht im Heimatland. Nach Asylpaket II soll es keinen Anspruch auf Familiennachzug mehr geben und dieser wieder nur in Einzelfällen möglich sein. Das führt dazu, dass die Familienangehörigen, auch Kinder, die Flucht über das Mittelmeer oder die Balkan-Route auf sich nehmen werden und sich dort in Lebensgefahr bringen.


Abschiebungen von traumatisierten Menschen

Die Bundesregierung möchte mit dem Asylpaket II die Möglichkeiten einschränken, eine Abschiebung aus medizinischen Gründen auszusetzen. Hierbei unterstellt sie, dass medizinische Gründe häufig missbräuchlich verwendet werden. Eine solche Pauschalisierung lehnt Amnesty ab!

Selbst Fälle von schweren posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) gelten nicht länger als Abschiebehindernis, wenn z.B. eine medikamentöse Behandlung möglich ist. Der Referentenentwurf verkennt, dass eine solche Behandlung für PTBS medizinisch gar nicht vorgesehen ist.


Amnesty International fordert: Die Neuregelung der Kriterien für Abschiebehindernisse darf nicht zu Abschiebungen führen, bei denen Asylsuchende in ein Land abgeschoben werden, in dem sie unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden. Das verbietet Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention!

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Quelle:
Mitteilung vom 9. Dezember 2015
http://www.amnesty.de/2015/12/9/das-asylpaket-ii-menschenrechte-gefahr?destination=node%2F2817
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2015

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