Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

GRUNDSÄTZLICHES/250: Rechtsextreme Gewalt und sozialer Abstieg (ai journal)


amnesty journal 6/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Abgrenzung nach unten"
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer über rechtsextreme Gewalt, sozialen Abstieg und die Grenzen der Pädagogik

Interview: Anton Landgraf


FRAGE: Rechtsextreme Gewalttaten wie in Potzlow sind im Osten Deutschlands leider keine Seltenheit. Warum kommen sie dort besonders häufig vor?

WILHELM HEITMEYER: Wir untersuchen vor allem das Phänomen der Desintegration. Menschen haben unterschiedlichen Zugang zu Arbeit, Bildung etc. Entscheidend ist dabei die subjektive Interpretation: Wie gewinne ich Anerkennung, kann ich an politischen Entscheidungen teilnehmen? Wichtig ist auch die stabile soziale Zugehörigkeit zu Familien und Milieus, um dadurch moralische Anerkennung zu gewinnen. Je knapper diese Anerkennung ausfällt, desto eher ist man bereit, andere abzuwerten. Das ist vor allem ein Problem in Ostdeutschland: Dort fühlen sich viele als Bürger zweiter Klasse, weil die Möglichkeiten, Anerkennung zu erlangen, sehr begrenzt sind.

FRAGE: Das alleine kann aber noch nicht die nachhaltige Präsenz rechtsextremer Gruppen erklären.

WILHELM HEITMEYER: Hinzu kommt die spezifische Siedlungsstruktur im Osten, d.h. es gibt vor allem Kleinstädte und Dörfer. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit fällt dort deutlich höher aus als in Großstädten. Besonders junge qualifizierte Menschen wandern aus diesen Regionen ab, weil sie sich dort keine beruflichen Chancen und Anerkennung mehr erhoffen. Übrig bleiben dann häufig niedrig qualifizierte junge Männer. Wenn diese Abwanderung weiter anhält, entwickelt sich eine soziale Homogenisierung nach unten. Wer bleibt, gerät schnell unter Konformitätsdruck. Und je homogener diese Gruppen sind, desto anfälliger sind sie für Gewalt. Die NPD und die rechtsradikalen Kameradschaften haben diese Situation erkannt und werden gerade in diesen Regionen aktiv.

FRAGE: Das hört sich nach einer einfachen Gleichung an: je ärmer die Menschen sind, desto mehr neigen sie zu rassistischen Vorurteilen.

WILHELM HEITMEYER: Die Mittelschichten sind mittlerweile genauso davon betroffen. Abstiegsängste und Orientierungslosigkeit haben in den letzten Jahren in der Gesellschaft deutlich zugenommen. Viele wissen nicht mehr, nach welchen Regeln in dieser Gesellschaft gespielt wird und ob sie selbst überhaupt noch mitspielen dürfen. Um ein Beispiel zu geben: Wenn Unternehmen hohe Gewinne erzielen und gleichzeitig Massenentlassungen vornehmen, weiß man nicht mehr, welche Regeln gelten. Auch die Mittelschicht fürchtet zunehmend den sozialen Abstieg, besonders seit der Einführung von Hartz IV. Das führt dazu, dass sie sich nach unten abgrenzen. In der Mitte der Gesellschaft nimmt die Feindseligkeit gegenüber den Schwachen der Gesellschaft zu. Diese Mitte prägt aber die "gesellschaftliche Normalität" einer Gesellschaft - wenn sich die Menschenfeindlichkeit dort festsetzt, dann kann man sie nur noch schwer problematisieren, weil diese Muster als "normal" gelten.

FRAGE: Ist diese Entwicklung auch auf andere europäische Länder übertragbar?

WILHELM HEITMEYER: Ich vermute, dass die Entwicklung dort ähnlich verläuft. Wir bereiten derzeit eine internationale Vergleichsstudie vor, um genau diese Frage zu beantworten.

FRAGE: Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist der Anteil rechtsextremer und fremdenfeindlicher Einstellungen besonders hoch. Handelt es sich also vor allem um ein generationsspezifisches Problem?

WILHELM HEITMEYER: Jugendliche gelten als die entscheidende Zielgruppe, insbesondere, weil bei ihnen oft Gewalt mit im Spiel ist. Doch dabei wird übersehen, dass die abwertenden Einstellungen bei Älteren oft ausgeprägter sind als bei den Jugendlichen. Was Lehrer morgens in der Schule an kritischer Haltung vermitteln, zerstören die Eltern oft beim Abendbrot wieder. Die Jugendlichen erfinden diese Ideologie der Ungleichheit ja nicht, sondern übernehmen sie von den Älteren. Bei der Gewalt wird die Gesellschaft hellhörig, während die zugrunde liegenden Einstellungen hinter den heimischen Gardinen verschwinden. Auf diese Rolle der Eltern, bzw. Großeltern wird in der Gesellschaft gar nicht hingewiesen - und das gleiche gilt auch für die gesellschaftlichen Eliten.

FRAGE: Dennoch bleibt die Frage, wie gerade die besonders für rechtsextreme Gewalttaten anfälligen Jugendlichen erreicht werden können.

WILHELM HEITMEYER: Diese Frage wird leider oft sehr eindimensional beantwortet. Wieso haben so viele Jugendliche bei den letzten Landtagswahlen für die NPD gestimmt, heißt es dann, wir haben doch große Summen in Aufklärungsprogramme investiert. Das ist naiv und politisch gefährlich. Die rechtsextremen Gruppen verschwinden nicht, weil irgendwelche Programme gegen sie ins Leben gerufen werden. Sie bieten den Jugendlichen neue Möglichkeiten der Anerkennung an: Stärke, Brutalität und Gewalt. Wenn die gesellschaftliche Integration schon nicht gelingt, dann gelingt sie wenigstens innerhalb der Gruppe. Dagegen anzugehen, ist außerordentlich schwierig.

FRAGE: Ist dies nicht eine zentrale Aufgabe von Institutionen wie Schulen und anderen Bildungseinrichtungen?

WILHELM HEITMEYER: Leider ist die Pädagogik häufig auf ein völlig falsches Paradigma festgelegt: Nach Schwächen zu fahnden, statt nach Stärken zu suchen. Gerade junge Männer besorgen sich dann die Anerkennung woanders. Vorurteile funktionieren auch als psychische Stabilisatoren, sorgen für die eigene Aufwertung und bringen Klarheit in ein zerfasertes Weltbild. Wenn man sie wegnimmt, ohne etwas anzubieten, kommen die Belehrungen nicht an. Wenn man sagt, deine Einstellungen sind falsch und andere sind richtig, dann prallen diese Aussagen einfach ab. Die meisten Jugendlichen können schließlich gut unterscheiden zwischen den proklamierten und den prämierten Werten die ihnen gerade auch in der Schule angeboten werden: Prämiert werden in dieser Gesellschaft Durchsetzungsvermögen und Überlegenheit, während menschenfreundliche Werte zwar proklamiert werden, aber letztlich wenig zählen.

FRAGE: Sie betreiben Ihre Studien über die "Deutschen Zustände" seit vielen Jahren. Wie bewerten Sie die Ergebnisse Ihrer Arbeit?

WILHELM HEITMEYER: Als Wissenschaftler befinden wir uns in einer schwierigen Situation. Bei zunehmender Fremdenfeindlichkeit z.B., kann etwa die NPD unsere Ergebnisse als Bestätigung interpretieren, wenn solche Einstellungen zunehmend die Mitte der Gesellschaft erreichen. Dann fühlt sie sich selbst als zugehörig zur Mitte. Aber wir haben keine Alternative, denn sonst müssten wir schweigen. Es gibt immer noch Politiker, die auf diese Weise verfahren: Diese Ergebnisse machen unser Land schlecht, also wollen wir sie erst gar nicht hören.


Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe und Professor für Pädagogik mit Schwerpunkt Sozialisation. Er leitete seit 1982 verschiedene Forschungsprojekte zu Rechtsextremismus, Gewalt und ethnisch-kulturellen Konflikten. Seit zehn Jahren leitet er an der Universität Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Seit 2002 führt er die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" durch.


*


Berlin-Köpenick, 25. September 2005: Zwei 19 und 20 Jahre alte Männer auf der Treskowbrücke werden mit den Worten "Heil Hitler" angepöbelt. Der 20-Jährige reagiert nicht und wird daraufhin aus der Gruppe heraus mit Tränengas ins Gesicht gesprüht. Die Angreifer gehen danach weiter, als sei nichts geschehen. Im Krankenhaus werden dem 20-Jährigen die Augen ausgespült. Der Staatsschutz ermittelt.


*


Quelle:
amnesty journal, Juni 2007, S. 18-19
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2007