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NAHOST/148: Die leeren Worte des ägyptischen Präsidenten Mursi (ai journal)


amnesty journal 04/05/2013 - Das Magazin für die Menschenrechte

Leere Worte

von Ruth Jüttner und Claudia Jach



Ägyptens Präsident Mursi war mit dem Versprechen angetreten, die schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte aufzuklären. An dem brutalen Vorgehen von Polizei und Militär hat sich seither nichts geändert. Und die Opfer und ihre Angehörigen warten vergeblich darauf, dass die Täter verfolgt werden.


"Ihr Blut lastet als Verantwortung auf meinen Schultern, bis all ihre Rechte vollständig wiederhergestellt sind und die, die getötet haben, rechtmäßig bestraft sind." Mit diesen großen Worten versprach der Präsidentschaftskandidat Mohamed Mursi bei einem Fernsehauftritt Mitte vergangenen Jahres Aufklärung über die vielen Todesfälle während des Volksaufstands. Seit Juni 2012 ist Mursi als erster gewählter ziviler Präsident Ägyptens im Amt, doch sein Versprechen hat er bislang nicht eingelöst. Im Gegenteil: Polizei und Armee gehen weiter mit übermäßiger Gewalt gegen Demonstrierende vor. Statt konkreter Maßnahmen zur Reform des Sicherheitsapparats und Rechtsstaatlichkeit erließ Mursi im vergangenen November Dekrete, mit denen er seine Entscheidungen außerhalb gerichtlicher Überprüfungen stellte. Die Sondervollmachten des Präsidenten und der im Eiltempo in der Verfassunggebenden Versammlung durchgepeitschte Verfassungsentwurf trieben Ende 2012 erneut Zehntausende Ägypter landesweit zu Protesten auf die Straße. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten und zum ersten Mal seit der Amtsübernahme Mursis waren Todesopfer zu beklagen.

Dabei hatte es zu Beginn von Mursis Amtszeit durchaus Anzeichen für eine Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen gegeben. So richtete er eine Untersuchungskommission ein, die alle Fälle von Zivilisten, die im Zusammenhang mit den Protesten von Militärgerichten zu Haftstrafen verurteilt worden waren oder in Haftanstalten des Innenministeriums festgehalten wurden, überprüfen sollte. Bis September 2012 wurden auf Empfehlung dieser Kommission mehr als 700 Gefangene freigelassen. Mit einer Generalamnestie anlässlich seiner ersten hundert Tage im Amt Anfang Oktober verfügte Präsident Mursi die Freilassung aller Gefangenen, die wegen "Unterstützung der Revolution" von Januar 2011 bis Juni 2012 verurteilt worden waren bzw. gegen die Gerichtsverfahren anhängig waren.

Nicht erfasst von der Amnestie waren jedoch mehr als tausend Zivilisten, die in unfairen Verfahren von Militärgerichten verurteilt wurden unter Anklagepunkten, die keinen unmittelbaren Bezug zu den Protesten hatten. Zu diesen Gefangenen zählt auch Mohamed Ehab Sayed, der als 17-Jähriger im April 2011 einen Tumult auf der Straße beobachtete und dabei von der Militärpolizei festgenommen wurde. Zehn Tage nach seiner Festnahme verurteilte ein Militärgericht den Minderjährigen zu einer Haftstrafe von 15 Jahren wegen "Raubes" und "Benutzung einer Waffe". Im Berufungsverfahren wurde die Strafe auf sieben Jahre reduziert.

Auch eine zweite von Präsident Mursi eingesetzte Untersuchungskommission hat bislang nicht erkennbar zur Aufklärung und Strafverfolgung der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen geführt. Die Anfang Juli vergangenen Jahres eingesetzte Kommission hatte den Auftrag, alle Fälle von Tötungen und Verletzungen von Demonstrierenden von Januar 2011 bis Juni 2012 zu untersuchen, Beweise zu sichern und die Verantwortlichen festzustellen. Anfang Januar 2013 legte die Kommission dem Präsidenten ihren Abschlussbericht vor. Dieser beauftragte die Staatsanwaltschaft mit weiteren Ermittlungen. Mit Hinweis darauf wurden weder der Bericht noch Teile davon veröffentlicht. Mitglieder der Kommission erklärten gegenüber Amnesty, sie hätten neue Beweise sichergestellt.

Für die Familien von getöteten und verletzten Demonstranten stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar. Sie erleben das Innenministerium als eine Behörde, die offenbar wenig Interesse hat, Vorwürfe gegen die eigenen Beamten zu untersuchen. "Die Polizei wird keine präzisen Beweise gegen sich selbst vorlegen. Wie kann das Organ, das des Mordes beschuldigt ist, für die Untersuchungen verantwortlich sein?", fragte sich die Mutter eines getöteten Jugendlichen. Familienangehörige beklagen, dass Zeugen, die in Gerichtsverfahren gegen Sicherheitskräfte aussagen, unter Druck gesetzt werden. Auch die Familien selbst erhalten Drohungen, ihre Anzeigen zurückzuziehen.

Vertreter der Staatsanwaltschaft beklagen mangelnde Kooperation des Innen- und Verteidigungsministeriums bei den Untersuchungen zur Aufklärung der Übergriffe gegen Demonstranten. Viele Familien sind frustriert und enttäuscht. Für viele stehen Polizei und Armee nach wie vor über dem Gesetz. Die Mutter von Islam Metwali, der im Januar 2011 von Sicherheitskräften bei einer Demonstration in Suez erschossen wurde, sprach aus, was für die meisten gilt: "Es sind jetzt zwei Jahre und alles, was wir hören, ist Freispruch, Freispruch, Freispruch. Haben die Märtyrer sich selbst getötet? In unserem Fall gibt es eine Verzögerung nach der anderen. Wie lange müssen wir auf Gerechtigkeit warten?"

Ein Blick auf die bisherigen Verfahren bestätigt diesen Eindruck der Betroffenen. Die ägyptische Menschenrechtsorganisation "Egyptian Initiative for Personal Rights" berichtet in einer im Januar veröffentlichten Studie, dass von 135 Angeklagten, die im Zusammenhang mit der Tötung von Demonstranten vor Polizeistationen während des Volksaufstands vor Gericht gestellt wurden, 115 Angeklagte freigesprochen wurden. Die restlichen Angeklagten wurden in Abwesenheit verurteilt oder bekamen Bewährungsstrafen. Lediglich zwei Polizisten verbüßen gegenwärtig Haftstrafen wegen der Tötung von Demonstranten.

Ähnlich düster sieht die Bilanz der Aufarbeitung der Übergriffe durch die Armee während der 17-monatigen Herrschaft des Militärs von Februar 2011 bis Juni 2012 aus. Mehr als 120 Demonstranten wurden während der Militärherrschaft getötet. Lediglich drei Soldaten niederen Ranges verbüßen wegen "unbeabsichtigten Totschlags" Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren. Sie wurden für schuldig befunden, während der sogenannten Maspero-Proteste koptischer Christen im Oktober 2011 mit gepanzerten Militärfahrzeugen in die Menge gefahren zu sein und dabei 14 Demonstranten getötet zu haben. Insgesamt wurden bei den Maspero-Protesten 27 Menschen getötet. Es gab keine Untersuchungen, wer das Kommando über den Einsatz der Armee an diesem Tag hatte und welche Offiziere für die Tötungen der Demonstranten verantwortlich waren.

Das vorherrschende Klima der Straffreiheit für die Sicherheitskräfte trägt dazu bei, dass Polizei und Armee weiterhin mit übermäßiger Gewalt gegen Demonstranten vorgehen. Jüngstes Beispiel sind die Demonstrationen und gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden zum zweiten Jahrestag der "Revolution des 25. Januar". Amnesty-Experten dokumentierten einige Vorfälle von tödlichem Schusswaffeneinsatz durch Sicherheitskräfte in Port Said und Suez, obwohl die Demonstranten keine Bedrohung für die Sicherheitskräfte oder andere darstellten. Augenzeugen berichteten, die Sicherheitskräfte hätten ohne vorherige Warnungen von Dächern auf die Demonstranten geschossen. Die traurige Bilanz nach drei Tagen Gewalt: mindestens 45 Tode und mehr als tausend Verletzte.

Sexuelle Übergriffe gegen Frauen, die an Demonstrationen teilnehmen und für ihre Rechte und für politische Partizipation kämpfen, haben in den vergangenen Monaten alarmierend zugenommen. Diejenigen, die Frauen angreifen, sie auf offener Straße verprügeln oder sie vergewaltigen, genießen Straffreiheit - seien es Polizisten, Soldaten oder Männer in Zivil. Zuletzt schockierten Berichte über brutale Angriffe und sexuelle Gewalt gegen Frauen zum Jahrestag der "Revolution des 25. Januar" die ägyptische Öffentlichkeit. Die ägyptische Initiative gegen sexuelle Gewalt "OpAntiSH" hat allein auf dem Tahrir-Platz in Kairo 19 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen registriert. Die Angriffe liefen immer nach dem gleichen Muster ab: Einzelne Frauen wurden von ihrer Gruppe getrennt und waren innerhalb kürzester Zeit von Männern umringt, die an ihnen zerrten, ihnen die Kleider vom Körper rissen und sie oft auch vergewaltigten.

Die 39-jährige Sängerin Dalia Abdel Wahab gehört zu den wenigen mutigen Frauen, die das Schweigen durchbrachen und ihren Fall öffentlich machten: "Ich werde nicht ruhig bleiben. Alle Frauen in Ägypten müssen aufwachen - die, denen es passierte und die, denen es nicht passierte. Ansonsten wird diese Gewalt weitergehen." Dabei wird es den Frauen, die sich gegen die Übergriffe zur Wehr setzen, nicht leicht gemacht. Polizeibeamte und Staatsanwälte haben Opfer wiederholt dazu aufgefordert, die Beschwerden fallen zu lassen und den Tätern zu "vergeben". Außerdem wird überwiegend den Opfern die Schuld an der Gewalt gegeben, weil sie durch ihr Auftreten und ihre Kleidung provoziert hätten - so geschehen während einer Sitzung des Menschenrechtskomitees des ägyptischen Oberhauses.

Solange, wie ägyptische Politiker Fälle von exzessiver Gewalt gegen Demonstranten als isolierte Einzelfälle bezeichnen und der politische Wille für eine grundlegende Reform des Sicherheitsapparates fehlt, bleiben alle Ankündigungen über Aufklärung und Bestrafung der Täter leere Versprechen.


Ruth Jüttner ist Fachreferentin für den Nahen und Mittleren Osten der deutschen Amnesty-Sektion, Claudia Jach ist Politikwissenschaftlerin.

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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2013, S. 28-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2013