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NAHOST/171: Saudi-Arabien - Schläge für die Freiheit (ai journal)


amnesty journal 04/05/2015 - Das Magazin für die Menschenrechte

Schläge für die Freiheit

von Regina Spöttl


In Saudi-Arabien ist der Blogger Raif Badawi zu 1.000 Stockhieben verurteilt worden, weil er sich für liberale Reformen aussprach. In dem Königreich gilt eine ultra-konservative Auslegung des Islams als Staatsreligion - wer dagegen aufbegehrt, muss mit drakonischen Strafen rechnen.


Es ging auf die Mittagsstunde des 18. Rabi al-Awwal des Jahres 1436 AH zu, als uniformierte Wächter einen jungen Mann in Fesseln auf den Platz vor der Al-Dschafali-Moschee in der saudi-arabischen Stadt Dschidda brachten. Als die Gläubigen nach dem Freitagsgebet in Scharen herbeigelaufen waren, schlug einer der Wächter mit einer langen Gerte 50 Mal auf Rücken und Beine des jungen Mannes, der die Tortur wortlos und sichtlich unter Schmerzen erduldete. Nach dem 50. Schlag skandierte die Menge "Allahu Akbar" und löste sich auf, während der Delinquent wieder abgeführt wurde.

Was auf den ersten Blick wie eine mittelalterliche Folterszene anmutet, fand nicht etwa vor vielen hundert Jahren statt, sondern im 21. Jahrhundert. Denn der 18. Rabi al-Awwal 1436 bezeichnet ein Datum des islamischen Mondkalenders und entspricht dem 9. Januar 2015.

Der junge Mann, der vor der Moschee öffentlich verprügelt und gedemütigt wurde, heißt Raif Badawi und ist 31 Jahre alt. Er hat eine Ehefrau und drei kleine Kinder, die im kanadischen Exil leben und ihren Ehemann und Vater seit drei Jahren nicht mehr gesehen haben. Raif Badawi war am 7. Mai 2014 von einem Strafgericht zu zehn Jahren Haft, 1.000 Stockschlägen, einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 195.000 Euro und einem anschließenden Reiseverbot von zehn Jahren verurteilt worden. Über einen Zeitraum von 20 Wochen sollten ihm immer nach dem Freitagsgebet jeweils 50 Stockhiebe verabreicht werden.

Sein Verbrechen: Er hatte das Online-Forum "Saudi-arabische Liberale" gegründet, eine Internetseite mit einem Blog, auf der er sich mit anderen mutigen Menschen über Ideen für ein moderneres, menschlicheres und toleranteres Saudi-Arabien ausgetauscht hatte.

Dort wurde über Themen wie Politik, Menschenrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit, Kultur und die Trennung von Religion und Staat als Schlüssel zu mehr Freiheit diskutiert. Er fand, die Zeit sei reif für dringend benötigte Reformen für ein liberaleres Königreich. "Sobald ein Denker seine Ideen äußert", schrieb Raif Badawi in seinem inzwischen abgeschalteten Blog, "werden sofort Hunderte Fatwas (islamische Rechtsgutachten) erlassen, die ihn als Ungläubigen anprangern, nur weil er den Mut besessen hat, heilige Themen zur Diskussion zu stellen. Ich habe die Befürchtung, dass arabische Denker demnächst alle das Land verlassen werden, um wieder frei atmen zu können und dem Schwert der Religionsbehörden zu entkommen."

Er ging sogar noch einen Schritt weiter, als er sagte: "Die Trennung von Staat und Religion ist die beste Lösung, um Länder (wie auch das unsere) aus der Dritten Welt in die Erste, die moderne Welt zu katapultieren." Jeder Mensch sollte das Recht haben, seine Religion frei zu wählen. Badawi sieht Religion als das persönliche spirituelle Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem Schöpfer und sagt, dass weltliches Recht, wie zum Beispiel Verkehrsregeln oder das Arbeitsrecht, nicht von der Religion abgeleitet werden könne.

In Saudi-Arabien, so Raif Badawi, beanspruche die Regierung allerdings das Monopol auf die einzige und allgemein gültige Wahrheit. Liberalismus wird als Grundübel hingestellt, alle Menschen, die anderen Religionen angehören, gelten als Ungläubige und Abtrünnige. "Aber wie sollen wir mit dieser Einstellung normale Beziehungen zu den sechs Milliarden Menschen auf der Welt pflegen, von denen viereinhalb Milliarden keine Muslime sind?"

Damit hat Raif Badawi an den Grundfesten des autokratischen saudi-arabischen Staats gerüttelt, der seit der Eroberung der arabischen Halbinsel und der ersten Staatsgründung durch Mohammed Ibn al-Saud im 18. Jahrhundert auf zwei Säulen ruht: dem Königshaus der al-Saud und dem "Rat der höchsten Religionsgelehrten" (Ulama), der auf den Religionsgründer Mohammed Abd al-Wahab zurückgeht. Beide halten sich in diesem Machtgefüge gegenseitig die Waage. Solange das Königshaus die strenge, ultrakonservative Form des wahabitischen Islams aufrechterhält - was meist nur mit Unterdrückung zu bewerkstelligen ist - und solange der Koran die Verfassung des Landes und die Scharia das unangefochtene Gesetz ist, so lange wird die Geistlichkeit die Monarchie der al-Saud nicht in Frage stellen.

Umgekehrt unterstützt die Ulama das Königshaus, indem sie beispielsweise unbeliebte Verbote mit oftmals absurden Begründungen legitimiert und Wissenschaft und Forschung diffamiert und behindert. So laufen Frauen, die ein Auto steuerten, angeblich Gefahr, unfruchtbar zu werden und ihre Jungfräulichkeit zu verlieren.

Im September 2011 behaupteten saudische Kleriker ernsthaft, es gebe Scharia-Astronomen, deren Ansichten über das Universum die einzig wahren und richtigen seien. Dementsprechend verkündete vor Kurzem ein Dozent während einer Lehrveranstaltung, die Erde drehe sich nicht, sondern stehe still. Wer es wagt, den Klerus zu kritisieren, wird wegen "Diffamierung des Islam" vor Gericht gestellt und zu hohen Strafen verurteilt. Raif Badawi hatte sich unter anderem über das "Komitee zur Förderung des Guten und Verhinderung des Bösen", die berüchtigte Religionspolizei, lustig gemacht und Reformen gefordert. Die Folgen sind bekannt.

Saudi-Arabien ist das Land mit den wohl schärfsten Einschränkungen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit. Der wahabitische Islam ist Staatsreligion, schon die überwiegend im Osten des Landes lebenden schiitischen Muslime werden gern als "Ungläubige" bezeichnet und im täglichen Leben diskriminiert. Die Ausübung aller anderen Religionen ist bei Strafe verboten. Im Gegensatz zu den übrigen Golfstaaten sucht man in Saudi-Arabien vergebens nach christlichen Kirchen, Synagogen oder gar Hindutempeln. Schon der Besitz einer Bibel oder eines Davidsterns ist strafbar.

Kein Wunder also, dass Raif Badawis Ruf nach einer Säkularisierung des Landes alle Alarmglocken zum Schrillen brachte und sofort unterbunden werden musste. Dies erklärt auch, warum der Betrieb einer Internetseite und das Führen eines Blogs derart drakonisch bestraft wurden.

An Raif Badawi musste ein Exempel statuiert werden, auch um die vielen Nutzer sozialer Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram in die Schranken zu weisen. Denn am Cyberspace beißen sich die Zensoren mittlerweile die Zähne aus. Nicht jede Internetseite kann kontrolliert werden, viele Facebook-Einträge oder Twitter-Nachrichten rutschen durch das enge Netz der Überwachung. "Twitter ist unser Parlament", sagte kürzlich ein junger Saudi hoffnungsfroh.

Der Wunsch nach Reformen, mehr Freiheiten und Weltoffenheit ist groß im Land. Die saudi-arabischen Frauen, die immer noch die Zustimmung eines männlichen Vormunds benötigen, wenn sie wichtige Entscheidungen treffen, sehnen sich nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Und sie wollen endlich Autofahren.

Doch auch hier schlägt die Obrigkeit gnadenlos zu. Frauen, die am Steuer eines Wagens erwischt werden, kommen in Haft und können seit einem Jahr unter dem neuen Antiterrorismusgesetz angeklagt und verurteilt werden, auch zu Stockschlägen. Autofahren wird somit als terroristischer Akt eingestuft, doch lassen sich die Frauen nicht länger davon abhalten. Das 21. Jahrhundert ist auch in Saudi-Arabien angekommen und die sehr junge Gesellschaft - zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt - will ungehindert daran teilhaben und die vielen Restriktionen und Verbote endlich aus dem Weg räumen.

Regierungskritiker und friedliche Reformer leben allerdings gefährlich und zahlen oft einen hohen Preis für ihr mutiges Einstehen für Freiheit und Menschenrechte. Seit Jahren erstickt die saudi-arabische Regierung jegliche Kritik Andersdenkender. Fast alle Gründungsmitglieder der inzwischen verbotenen Menschenrechtsorganisation ACPRA wurden zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt. Namhafte Reformer und Menschenrechtsverteidiger, darunter Rechtsanwälte, ehemalige Richter und Universitätsprofessoren, verbüßen nach unfairen Gerichtsverfahren lange Freiheitsstrafen.

Im Februar 2015 bestätigte ein Berufungsgericht das Urteil gegen den Menschenrechtsanwalt Waleed Abu al-Khair, Raif Badawis Rechtsbeistand und Schwager. Er muss für 15 Jahre ins Gefängnis, weil er 2008 die Menschenrechtsorganisation "Monitor of Human Rights in Saudi Arabia" gegründet hatte, die Menschenrechtsverletzungen dokumentierte. Zudem hatte er viele Menschenrechtsaktivisten vor Gericht verteidigt. Wie viele andere Gefangene war auch Waleed Abu al-Khair in der Haft gefoltert und misshandelt worden.

Raif Badawi ist somit nicht der einzige gewaltlose politische Gefangene in Saudi-Arabien, wohl aber der derzeit bekannteste. Sein Schicksal hat eine Welle der Entrüstung und Anteilnahme in aller Welt ausgelöst. Hundertausende Unterschriften konnten bisher bei Demonstrationen und Mahnwachen vor den Botschaften Saudi-Arabiens rund um den Globus übergeben werden. Das Interesse an seinem Fall ist noch immer überwältigend, und die sozialen Netzwerke sind voll mit Solidaritätsbekundungen für Raif Badawi und seine Familie und Appellen an die saudi-arabische Regierung, die restlichen 950 Stockhiebe auszusetzen und das Urteil aufzuheben. Politiker aus aller Welt setzen sich für den Blogger ein.

Die gute Nachricht: Raif Badawi hat seit dem 9. Januar 2015 keine Stockhiebe mehr ertragen müssen. Die Prügelstrafe wurde vorübergehend ausgesetzt, aus "medizinischen Gründen", wie es hieß. Sein Fall ist vom Obersten Gerichtshof an das Strafgericht in Dschidda zurückverwiesen worden. Das Verfahren könnte somit neu aufgerollt werden, ein Anhörungstermin steht allerdings noch nicht fest.

Solange das Urteil jedoch nicht aufgehoben ist, befindet sich Raif Badawi noch immer in höchster Gefahr. Die grausame Szene vor der Al-Jafali-Moschee in Dschidda könnte sich jederzeit an einem der kommenden Freitage wiederholen. Und damit nicht genug. Bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Strafgericht in Dschidda läuft Raif Badawi Gefahr, erneut wegen Apostasie angeklagt und womöglich zum Tode verurteilt zu werden.

Es sei denn, der neue saudi-arabische König Salman bin Abdul Aziz begnadigt Raif Badawi im Rahmen einer Amnestie zu seinem Amtsantritt und ordnet seine sofortige und bedingungslose Freilassung an. Dann könnte der Traum von Raifs Ehefrau Ensaf Haidar und der drei Kinder vielleicht doch noch Wirklichkeit werden: Dass sie am Flughafen von Montréal ihren Ehemann und Vater endlich wieder in die Arme schließen können.


Die Autorin ist Sprecherin der Ländergruppe Saudi-Arabien und Golfstaaten der deutschen Amnesty-Sektion.


Werden Sie jetzt aktiv und setzen Sie sich für Raif Badawi und seinen Anwalt Waleed Abu al-Khair ein!

Hier geht es zur Online-Petition für Raif Badawi
http://www.stopfolter.de/

Hier geht es zur Urgent Action für Waleed Abu al-Khair
https://www.amnesty.de/urgent-action/ua-098-2014-3/menschenrechtler-haft-angegriffen?destination=node%2F5309


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Das Urteil gegen Raif Badawi wurde inzwischen bestätigt,
siehe dazu die Amnesty-Pressemitteilung vom 8. Juni 2015:

NAHOST/170: Saudi-Arabien - Unrechtsurteil gegen den Blogger Raif Badawi bestätigt
www.schattenblick.de → Infopool → Bürger und Gesellschaft → Amnesty International

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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2015, S. 18-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2015

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