Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → BEDROHTE VÖLKER

AKTION/243: Offener Brief an Herrn Frank-Walter Steinmeier - Unterstützen Sie Bosnien, das Stiefkind Europas


Presseerklärung vom 26. Mai 2014

OFFENER BRIEF
An den Bundesminister des Auswärtigen
Herrn Frank-Walter Steinmeier
zur Zeit in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina

Unterstützen Sie Bosnien, das Stiefkind Europas!



Sehr geehrter Herr Minister,

zunächst möchten wir Ihnen danken, für Ihre konstruktiven und von großen Teilen der internationalen Öffentlichkeit geschätzten Bemühungen um die Erhaltung der bedrohten Einheit der Ukraine.

In diesen Tagen widmen Sie sich den Opfern der Flutkatastrophe in Bosnien-Herzegowina. Diese schlimmste nicht von Menschen verursachte Tragödie seit mindestens 150 Jahren hat nahezu jeden dritten Einwohner Bosnien-Herzegowinas getroffen.

Jetzt wurde ein Drittel der Ernte vernichtet, wurden über 230 Schulen zerstört, sind mehr als 100.000 Häuser und Wohnungen nicht mehr bewohnbar, wurden hunderte von Wirtschaftsbetrieben gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Ohnehin waren bereits zuvor 40 Prozent der Arbeitnehmer arbeitslos. Das ist die höchste Arbeitslosenquote Europas.

Mit großem Bedauern müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass eine Reihe von zukunftsweisenden Rückkehrprojekten im serbisch kontrollierten Teil des Landes durch das Hochwasser zerstört wurde. So wurden allein die 3.000 wiedererrichteten Gebäude der zurückgekehrten Flüchtlinge in Janja zu Ruinen.

Ein besonders trauriges Kapitel ist das Schicksal der seit Jahrhunderten in Bosnien ansässigen Roma-Gemeinschaft. Vielerorts wurden ihre Siedlungen einfach fortgeschwemmt.

Mit Ihrer Präsenz vor Ort demonstrieren Sie die große Bedeutung, die dieses kriegszerstörte, geteilte Land für ganz Europa hat. Denn zum ersten Mal seit den Verbrechen Hitlers und Stalins wurde eine europäische Volksgruppe - vor allem die muslimischen Bosnier - Opfer von Völkermord und Vertreibung, wurden Menschen in Konzentrations- und Vergewaltigungslagern gequält und ermordet.

Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für die Überlebenden des Völkermordes, dem etwa 150.000 Männer, Frauen und Kinder zum Opfer gefallen sind. 1992-1995 hatte die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem Außenminister Klaus Kinkel dem Genozid tatenlos zugesehen.

Dann hatte auch das wiedervereinigte Deutschland mit seiner Unterschrift unter den Friedensvertrag von Dayton die Teilung Bosniens mitunterzeichnet und so die Rückkehr von weit über einer Million Vertriebener nichtserbischer Zugehörigkeit unmöglich gemacht. Zwei Drittel der etwa 360.000 bosnischen Flüchtlinge wurden von deutschen Behörden gezwungen, nach Australien und Nordamerika auszuwandern.

Sehr geehrter Herr Minister, die Bevölkerung Bosniens befindet sich in einer ausweglosen Lage. Ausgerechnet nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat man die Teilung dieses multiethnischen Landes und die Schaffung einer Apartheid-Situation hingenommen ebenso wie die Entstehung von ethnisch gesäuberten Verwaltungseinheiten und einer überwiegend korrupten Politikerkaste, die sich Wiedervereinigung und dem Zusammenleben der ethnisch-religiösen Gemeinschaften widersetzt. Auch deshalb wird die Europäische Union in dieser schrecklichen Krisensituation Bosnien-Herzegowina jene Milliarde, die es Serbien gewährt, verweigern.

Wir bitten Sie, sich dafür einzusetzen, dass Bosnien genauso wie Serbien optimale humanitäre Unterstützung erhält und dass insbesondere deutsche Hilfswerke und Institutionen jetzt bei ihren Hilfeleistungen und ihrer Aufbauarbeit großzügige Förderung erhalten.

Schließlich bitten wir Sie, jeden möglichen Druck auf die Herrschenden in allen Teilen Bosniens ausüben, damit eine funktionierende gesamtbosnische Administration als Voraussetzung für den EU-Beitritt entstehen kann.


Herzlichen Gruß,

Tilman Zülch

*

Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 26. Mai 2014
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Telefon: 0551/499 06-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2014