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INTERNATIONAL/054: Türkei - Inhaftierter Kriegsdienstverweigerer weiter vor Gericht (Connection e.V.)


Connection e.V. - Pressemitteilung vom 29. September 2011

Türkei: Inhaftierter Kriegsdienstverweigerer Inan Süver steht weiter vor Gericht


(29.09.2011) Auf der am vergangenen Montag durchgeführten Verhandlung gegen den Kriegsdienstverweigerer Inan Süver wurde die Anklage wegen Befehlsverweigerung im Jahre 2010 fallengelassen. Das Gericht hielt jedoch die Anklage wegen Desertion im Jahre 2007 aufrecht. Damit droht Inan Süver nach einem Jahrzehnt der Verfolgung immer noch eine weitere Verurteilung wegen seiner Kriegsdienstverweigerung. Aufgrund vorheriger Urteile wegen Desertion wird er noch mindestens bis zum 13. Juni 2012 in Haft bleiben.

Connection e.V. verurteilte heute scharf die weiter vom türkischen Militär aufrecht erhaltene Praxis, Kriegsdienstverweigerer zu verfolgen. Der Europäische Gerichtshof hatte bereits am 24. Januar 2006 (...mehr) die wiederholte Bestrafung von Kriegsdienstverweigerern als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gebrandmarkt. In einem Urteil vom 7. Juli 2011 stellte das Gericht zudem fest, dass die Verurteilung eines Kriegsdienstverweigerers Artikel 9 der EMRK verletzt (...mehr). Damit erkannte das Gericht die Kriegsdienstverweigerung faktisch als Teil der in der EMRK festgelegten Menschenrechte an.

Aufgrund der Haftbedingungen im Gefängnis Balikesir im Süden des Bezirks Marmara ist Inan Süver am 6. September 2011 in Hungerstreik gegangen. Er fordert damit ein Ende der Bedrohung und Misshandlung durch andere Gefangene und die Verlegung in eine Zelle der politischen Gefangenen. Am 16. September erklärte Inan Süver gegenüber seiner Frau, dass er nun zum Todesfasten übergehe.

"Die Türkei verfolgt nicht nur die Kriegsdienstverweigerer mit unverminderter Härte, sie widersetzt sich auch allen Anforderungen aus dem Europarat, die Verfolgung einzustellen," erklärte heute Rudi Friedrich von Connection e.V. "Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 24. Januar 2006 ist noch immer nicht umgesetzt. Die türkische Regierung versucht auf Zeit zu spielen, auf Kosten der Verweigerer."

Connection e.V. fordert die sofortige Freilassung von Inan Süver. Connection e.V. fordert die Türkei zugleich auf, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen und alle Strafverfahren gegen Kriegsdienstverweigerer einzustellen.



Inan Süver: Ein Jahrzehnt der Verfolgung

2001: Inan Süver wird zum Militär einberufen. Wegen mehrmaliger Desertion wird er in drei Verfahren zu insgesamt 25 Monaten Haft verurteilt. Nach sieben Monaten wird er vorläufig aus der Haft entlassen. Inan Süver taucht daraufhin unter.

10. Oktober 2009: Nachdem Inan Süver das erste Mal von der Idee der Kriegsdienstverweigerung hörte, erklärt er: "Sehr geehrte Kommandanten, ich will Ihnen heute etwas mitteilen. Ich habe gehört, dass es so etwas wie ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Ich mache von meinem Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch. Sie sollen wissen, dass ich ein Feind des Staates bin, aber ich werde gegen Sie niemals eine Waffe in die Hand nehmen."

5. August 2010: Inan Süver wird erneut verhaftet. Er weigert sich, eine Uniform anzuziehen und wird deshalb wegen Befehlsverweigerung angeklagt. Zudem wird gegen ihn ein Verfahren wegen Desertion im Jahre 2007 eröffnet.

26. November 2010: Inan Süver wird in ein Militärkrankenhaus zur Überprüfung seiner Tauglichkeit überstellt und rückwirkend ab 2008 für untauglich erklärt.

8. März 2011: Das Gericht überstellt Inan Süver auf Antrag der Rechtsanwältin dem Militärkrankenhaus, um prüfen zu lassen, ob Inan Süver nicht bereits im Jahre 2007 untauglich war.

21. April 2011: Inan Süver flieht aus dem Gefängnis und wird wenig später wieder verhaftet. Zu seiner Flucht erklärt er: "Ich habe kein Verbrechen begangen, warum bin ich im Gefängnis?" Aufgrund der Flucht wird er mindestens bis zum 13. Juni 2012 in Haft bleiben.

26. September 2011: Auf einem erneuten Prozesstermin wird die Anklage wegen Befehlsverweigerung vom August 2010 fallengelassen. Die Anklage wegen Desertion im Jahre 2007 bleibt weiter bestehen, da es immer noch keine erneute Überprüfung der Tauglichkeit durch das Militärkrankenhaus gegeben hat. Ein erneuter Prozesstermin ist für den 5. Dezember 2011 anberaumt.



Zum Hintergrund

Die Türkei erkennt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht an. Jeder türkische Mann ist mit 20 Jahren zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet. Kriegsdienstverweigerer, die aufgrund ihrer Entscheidung die Uniform oder Befehle verweigern, werden wegen Befehlsverweigerung angeklagt und nach Verbüßung der Haftstrafe erneut einberufen. Dieser Teufelskreis kann ein Leben lang fortbestehen, da die Wehrpflicht in der Türkei erst nach Ableistung des Militärdienstes als erfüllt gilt.

Die wiederholte Bestrafung von Kriegsdienstverweigerern in der Türkei, der auch Inan Süver unterliegt, wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich als unvereinbar mit dem in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Verbot unmenschlicher Behandlung angesehen. In dem Richterspruch vom 24. Januar 2006 wird das Land zu einer Gesetzeskorrektur aufgefordert, um dies zukünftig zu verhindern (...mehr). In einer Stellungnahme des Ministerausschusses des Europarates zum Urteil forderte dieser am 23. September 2011 die Türkei auf, bis zum Dezember 2011 dem Ausschuss die Vorlagen für erforderliche gesetzliche Maßnahmen vorzulegen (...mehr).

Weitere Infos unter www.Connection-eV.de/z.php?ID=1471


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Quelle:
Pressemitteilung vom 29. September 2011
Connection e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2011