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MELDUNG/057: Der Friedenspreis des Westens (Johan Galtung)


Der Friedenspreis des Westens

Editorial

Von Johan Galtung, 11. Oktober 2010 - TRANSCEND Media Service


Ein weiteres Mal ist der Friedensnobelpreis für die westliche, sprich die US-Außenpolitik mißbraucht worden. Letztes Jahr gab es den Preis für Ansprachen, auf die keine Konsequenz außer der folgte, daß aus Protest gegen eventuelle Kürzungen beim britischen Trident-System ein paar altmodische, nukleare Ungetüme verschrottet und der Weg für eine großangelegte atomare Wiederbewaffnung mit Sprengköpfen und nuklearen Trägersystemen geebnet wurde. Rein sprachlich gesehen stand der Preis noch in Zusammenhang mit der in Nobels Testament erwähnten Reduzierung der ständigen Streitkräfte - und es ist sein Geld, das verwendet wird. In diesem Jahr verleihen sie den Menschenrechtspreis für innere Angelegenheiten Chinas, des Landes, das die USA als ihren Hauptkonkurrenten ansehen, und das ist weit entfernt von jeder Reduzierung der Streitkräfte oder von Nobels Engagement für die Verständigung unter den Nationen.

Aber bringen nicht die Förderung der bürgerlichen und politischen Menschenrechte im allgemeinen und die Demokratie im besonderen auch den Frieden unter den Nationen und Staaten voran? Die Politikwissenschaft des Westens hat diese These eines "demokratischen Friedens" in alter westlicher Tradition hervorgebracht. Was auch immer der Westen meint zu besitzen - Christentum, Handel, westliche Institutionen, Sport, Sprachen wie das Englische -, führt zum Frieden. Das alles zusammengenommen ergibt dann "Kolonialisierung für Frieden"; heute sind es die westlichen, individualistischen Menschenrechte und die Demokratie. Der Ostblock des Westens fügte dem noch hinzu, daß sozialistische Staaten keinen Krieg untereinander führen.

Sie alle machen den gleichen logischen Fehler: Sie vermischen verschiedene Ebenen der Analyse. Frieden wie auch Gewalt und wie auch Konflikt stellen ein Verhältnis dar, und das kann man nicht auf die Eigenschaften der Beteiligten reduzieren. Diese haben zwar einen Einfluß, aber sind weder notwendig noch hinreichend. So kommt es, daß die Vereinigten Staaten von Amerika, Israel, das Osmanische Reich und das Vereinigte Königreich (England) - gemessen an der Häufigkeit ihrer Beteiligung an Kriegen, geteilt durch die Anzahl der Jahre, die sie als Staat existieren - die kriegerischsten Nationen der letzten Jahrhunderte sind. Ihre Demokratie und ihre Menschenrechte haben die ungeheure Gewalt nicht verhindert - auch nicht in dem Vakuum, das die Osmanen hinterlassen haben.

Demokratie im Sinne des Dialogs und der gegenseitigen Ergründung, ohne daß man davon ausgeht, daß eine der Seiten das Monopol darauf besitzt recht zu haben oder falsch zu liegen, die eher auf einen umfassenden, kreativen Konsens abzielt als auf eine Mehrheitsmeinung, ist ein hervorragender Ansatz für Gewaltlosigkeit. Der Weg zum Frieden im Sinne des Abbaus direkter Gewalt führt über die Lösung von Konflikten mit Hilfe des Dialogs über die Konfliktgrenzen hinweg - und nicht nur innerhalb jeder Konfliktpartei. Weltdemokratie im Sinne einer Weltversammlung der Völker in einer UNO ohne Veto und mit einem Friedensrat wäre ein Ansatz, trifft aber von Seiten der USA und des Westens auf heftigen Widerstand.

Was ist mit den ökonomischen und sozialen Menschenrechten der Konvention von 1966, die von den USA nicht ratifiziert wurde? Führen diese nicht zu Frieden im Sinne von weniger Leid durch strukturelle Gewalt innerhalb der Staaten? Ja schon, aber es gibt keinen Hinweis darauf, daß reiche Staaten auf internationaler Ebene aggressiver und arme Staaten weniger aggressiv sind.

China hat in dieser Hinsicht einen riesigen Schritt nach vorn gemacht und 1991-2004 400 Millionen Menschen aus dem Elend in die untere Mittelschicht gehoben. Es folgt der ostasiatischen Entwicklungstheorie und -praxis, die in Japan, Taiwan und Südkorea gilt: Erst Verteilung und Infrastruktur unter autoritären Bedingungen, dann Wirtschaftswachstum und "Öffnung". An dieser Stelle kommen dann die bürgerlichen und politischen Menschenrechte ins Spiel. China war lange Zeit in dieser Phase, wie 30 Millionen Menschen, die jährlich ins Ausland reisen und wieder zurückkehren, beweisen. Und rund 80.000 offene Revolten im Jahr wegen verschiedenster Mängel in diesem unglaublich dynamischen Land. Der Preis für Liu Xiaobo kommt zwanzig Jahre zu spät und hat überhaupt nichts oder nur wenig mit dem internationalen Frieden zu tun.

Hätte man den gleichen Preis an palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen für ihren Kampf gegen die Besetzung ihres Landes verliehen, wäre das von Bedeutung gewesen. Ein Preis für die Bürgermeister von Hiroshima und ihre Friedenskonferenz, entsprechend Nobels drittem Punkt, hätte etwas bedeutet. Das hätte sich jedoch gegen die US-Außenpolitik und also auch gegen die norwegische Außenpolitik gerichtet, gegen die Kriterien für einen "Friedenspreis".

Ich weiß nicht, wessen die chinesische Regierung Liu Xiaobo anklagt, wenn sie ihn als Kriminellen bezeichnet. Aber ich kenne sehr wohl den größten Gerichtsskandal der norwegischen Geschichte - die Verhaftung Arne Treholts 1984, den man beschuldigte, für die Sowjetunion spioniert zu haben, der 1985 zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, von denen er achteinhalb Jahre absaß. Er war der erste Whistleblower, und "er könnte für den Frieden spioniert haben." Das hat er in der Tat: Als Staatssekretär im Seerechtsministerium unter dem renommierten Jens Evensen verhandelte er während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion über die arktischen Gewässer und verbesserte die Beziehungen zwischen den zwei Staaten auch über die Meeresfragen hinaus (das resultierte 35 Jahre später, in diesem Jahr, in einem guten Kompromiß über die umstrittene Grenzlinie).

Vor kurzem kam dann der Knall: Ein Beamter der norwegischen Geheimpolizei gab zu, daß die Beweise gefälscht waren. Ohne einen Beleg für vertrauliches Material in der Hand zu haben, das den Sowjets übergeben worden war, hatte man "Beweise" hergestellt, um zu zeigen, daß Treholt Bargeld in Dollarscheinen erhalten und diese in einen Koffer gesteckt hätte, und machte ein Foto in der Osloer Polizeistation. Es liegen viele Zeugenaussagen und technisches Beweismaterial dafür vor. Die Zusammenarbeit mit der CIA war eindeutig. Auf der norwegischen Seite waren nicht nur Polizeibeamte beteiligt, sondern auch der Oberste Gerichtshof, denn der Richter und die Generalstaatsanwälte für Norwegen und für Oslo müssen entweder informiert oder unverzeihlich leichtgläubig gewesen sein.

Lassen Sie uns hoffen, daß die Beweise gegen Liu Xiaobo nicht gefälscht sind und daß Staatsanwälte und Richter nicht Teil einer Verschwörung bilden. Lassen Sie uns hoffen, daß China nicht unter norwegischen Bedingungen krankt, sondern sich mehr an die Gesetze hält. Und lassen Sie uns hoffen, daß Jagland, ehemals Ministerpräsident und derzeit Vorsitzender des Nobelpreiskomitees, der anderen gern schlechtes Benehmen bescheinigt, sich jetzt vollkommen der Aufgabe widmet, seine eigene Partei und sein Land in Ordnung zu bringen. Und daß die enorme Leistung Evensins und Treholts, die zum Ende der Polarisierungspsychose Kalter Krieg beigetragen hat, angemessen gewürdigt wird.

Quelle des englischen Originals:
http://www.transcend.org/tms/2010/10/the-western-peace-prize/


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Quelle:
Transcend International
Basel, Schweiz
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E-Mail: tps@transcend.org
Internet: www.transcend.org
mit freundlicher Genehmigung von Johan Galtung
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2010