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MUMIA/1018: Die Dinge fallen auseinander (Mumia Abu-Jamal)


Kolumne 1.002
Die Dinge fallen auseinander

Gegenwärtig sehen wir eine Welt, wie wir sie bisher nicht kannten, die nun aber existiert. Eine lautlos daherkommende Krankheit erzeugt eine beklemmende Atmosphäre und entfesselt bisher nicht gekannte Ängste / Mit Nachtrag zu Mumias Lage im Knast

von Mumia Abu-Jamal, März 2020


Der großartige nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe (1930-2013) veröffentlichte 1958 einen Roman über die verheerenden Auswirkungen des europäischen Kolonialismus auf den afrikanischen Kontinent. Sein Buch »Things Fall Apart« (deutsch: 1959/1998: »Okonkwo oder das Alte stürzt«) ist ein Klassiker der afrikanischen Literatur und bis heute durch ständige Neuauflagen das meistgelesene Buch eines afrikanischen Autors. Achebe beschreibt darin anhand der Geschichte eines Dorfes, wie die auf traditionellen Werten und Regeln basierende afrikanische Gesellschaft durch koloniale Herrschaft und christliche Missionierung zerfällt. Mit dem englischen Titel seines Werkes lehnte Achebe sich an das Gedicht »The Second Coming« an, das der berühmte irische Autor William Butler Yeats (1865-1939) nach den verheerenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verfasst hatte. Darin heißt es: »Die Dinge fallen auseinander/ Das Zentrum bietet keinen Halt/ Reine Anarchie befällt die Welt.«

Gegenwärtig sehen wir vor unseren Türen und Fenstern eine Welt, wie wir sie bisher nicht kannten, die nun aber existiert. Eine lautlos daherkommende, unsichtbare Krankheit erzeugt eine beklemmende Atmosphäre und entfesselt bisher nicht gekannte Ängste. Führende Politiker setzen sich in Pose und brüsten sich mit dem, was sie alles zu tun gedenken. Ihr Gerede hat indes nur wenig Substanz und ergibt noch weniger Sinn. Aber in jeder Äußerung steckt zwischen den Zeilen ein geradezu fieberhaftes Verlangen: »Lobt mich, lobt mich, lobt mich!«

Während hier in den USA nun täglich Dutzende, ja Hunderte sterben und Zehntausende erkranken, weil sie sich mit dem Coronavirus SARS-2 infiziert haben, werden Billionen von US-Dollars locker gemacht und fallen wie überreife Früchte vom Baum. Doch sie verrotten wie Fallobst am Boden, sind sinnlos, und ihre Wirkung verpufft. Denn die Politiker reden zwar von früh bis spät, doch ist keine wirkliche Lösung für diese weltumspannende Krise in Sicht. Vor ein paar Wochen suchte eine Pandemie das reichste Land der Welt heim, und nun werden wir Zeugen, wie »die Dinge auseinanderfallen«.


Copyright: Mumia Abu-Jamal
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Nachtrag: Infolge der SARS-2-Pandemie hat Pennsylvanias Gefängnisbehörde DOC ein striktes Besuchsverbot über alle Haftanstalten verhängt; zunächst bis zum 10. April. Auch alle Gefangenen des Staatsgefängnisses Mahanoy in Frackville, in dem Mumia Abu-Jamal einsitzt, sind von dieser Maßnahme und von intern auferlegten Kontaktbeschränkungen betroffen. Laut DOC-Pressemitteilung vom 28. März seien bislang unter Pennsylvanias Häftlingen keine Covid-19-Erkrankungen festgestellt worden. Getestet wird jedoch nur, wer typische Symptome aufweist. Eine persönliche Mitteilung Abu-Jamals zu seinen aktuellen Haftbedingungen liegt noch nicht vor. Prison Radio in San Francisco erklärt dazu, es halte trotz der Arbeit von zu Hause aus den Kontakt zu Mumia und anderen Gefangenen, weil »wir der Rettungsanker für die Gefangenen (sind), die genausoviel Angst haben wie wir alle«. Ein Virus sei durch Gefängnismauern nicht aufzuhalten. »Wir sehen jetzt deutlicher als je zuvor, dass wir alle miteinander verbunden sind«, so Noelle Hanrahan vom Radioprojekt. (Jürgen Heiser)

Übersetzung: Jürgen Heiser
Erstveröffentlicht in "junge Welt" Nr. 76 vom 30. März 2020

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Quelle:
Der Beitrag entstammt der Website www.freedom-now.de
mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Heiser
Internationales Verteidigungskomitee (IVK)
Postfach 150 323, 28093 Bremen
E-Mail: ivk(at)freedom-now(dot)de
Internet: www.freedom-now.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2020

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