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MUMIA/704: Weißer Wahn (Mumia Abu-Jamal)


Kolumne # 758
Weißer Wahn

Neun schwarze Menschen wurden aus dem gleichen Grund der blindwütigen Vergötterung des weißen Überlegenheitswahns geopfert wie Tausende schwarze Männer und Frauen, die in den USA gelyncht und an Ulmen und Kiefern aufgeknüpft wurden: Als Opfer für die Idee, ein System ökonomischer Ungerechtigkeit bis in alle Ewigkeit aufrechtzuerhalten

von Mumia Abu-Jamal, Juni 2015


Ein junger Weißer, der gerade mal seine Volljährigkeit erreicht hat, betritt am Abend des 17. Juni in Charleston, South Carolina, die geschichtsträchtigste Kirche der afroamerikanischen Gemeinde der Stadt, um ein neues Kapitel dieser Geschichte zu schreiben. Er setzt sich neben die kleine Gruppe von Gläubigen in eine der Kirchenbänke und hört fast eine Stunde lang ihrer abendlichen Bibelstunde zu. In seinen Gedanken setzt er sich jedoch weder mit dem Leben und Wirken Jesu noch mit dem seiner Jünger auseinander. Ihn beschäftigt vielmehr sein Plan, hier einen Massenmord zu begehen. Als sich wenig später hinter ihm die Tür der »Emanuel African Methodist Episcopal Church« wieder schließt, sind neun schwarze Seelen, junge wie alte, ermordet, die Bibel in ihren Händen.

Der Weiße, der von seiner äußeren Erscheinung eher ein Jugendlicher ist als ein erwachsener Mann, war nicht in die Kirche gegangen, weil er an Fragen der Religion interessiert war. Er wurde von einem anderen »Glauben« getrieben, dem Irrglauben an die Vorherrschaft und Überlegenheit der Weißen, einem tiefsitzenden Hass auf seine schwarzen Mitmenschen.

Diese »white supremacy« saugen viele Weiße in Charleston, in South Carolina, in allen ehemaligen Sklavenhalterstaaten des Südens der USA wie überhaupt in den Vereinigten Staaten von Amerika mit der Muttermilch auf. So gewiss es ist, dass die Versklavung von Afrikanern in Amerika begründet und perfektioniert wurde, waren von Beginn an Abwertung, Ausbeutung und Unterdrückung jeder Faser schwarzen Lebens das ihr zugrundeliegende Prinzip. Das Wissen darum erklärt, warum das Massaker in der Kirche von Charleston verübt wurde. Neun schwarze Menschen wurden aus dem gleichen Grund der blindwütigen Vergötterung des weißen Überlegenheitswahns geopfert wie Tausende schwarze Männer und Frauen, die in den Vereinigten Staaten von Amerika gelyncht und an Ulmen und Kiefern aufgeknüpft wurden: Als Opfer für die Idee, ein System ökonomischer Ungerechtigkeit bis in alle Ewigkeit aufrechtzuerhalten.

Dylann Roof, der 21jährige Weiße, der beschuldigt wird, dieses Massaker begangen zu haben, hatte keine Freunde, mit denen er reden konnte, kein Zuhause, außer der Couch eines Kumpels, keinen Job und eine sehr reduzierte Beziehung zu seinen Eltern. Isoliert, entfremdet, allein auf der Welt blieb ihm als letzter »Besitz« nur sein Stolz, ein Weißer zu sein, das einzig Greifbare, was seinem Leben noch Sinn gab. Daraus zog er die Energie, die ihn zu dem Massaker in Charleston, South Carolina, antrieb. Dies lastet wie ein Alp auf der amerikanischen Seele, produziert Hass und Angst und droht weitere schwarze Leben zu verschlingen.


Copyright: Mumia Abu-Jamal 2015
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Übersetzung: Jürgen Heiser
Erstveröffentlicht in "junge Welt" Nr. 147 vom 29. Juni 2015

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Quelle:
Der Beitrag entstammt der Website www.freedom-now.de
mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Heiser
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Internet: www.freedom-now.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2015

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