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STANDPUNKT/076: Die Bibel - ein Buch der Gewalt und ihrer Überwindung (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 19 - III/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Die Bibel - ein Buch der Gewalt und der Überwindung von Gewalt
Aufforderung zum Dialog wider jeden totalitären Wahrheitsanspruch

Von Jochen Vollmer


Das Kreuz der Kirche mit dem Frieden ist begründet in einer falschen und unkritischen Lektüre der Bibel in ihrer Gesamtheit als "Heilige Schrift" und "Wort Gottes", in der unzureichenden Wahrnehmung der Pluralität und Widersprüchlichkeit der biblischen Gottesbilder, in der falschen dogmatischen Voraussetzung, die Bibel sei ein einheitliches Buch und rede von der ersten bis zur letzten Seite von ein und demselben Gott.


Wahrnehmungen Gottes in der Bibel

In der Bibel beider Testamente wird Gott in erschreckendem Maße als ein Gott der Gewalt bezeugt. Das erste Gebot "Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus der Gewaltherrschaft in Ägypten herausgeführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" (Exodus 20,2-3; Deuteronomium 5,6-7) gilt den aus Ägypten Befreiten. Die Lebensordnung des aus Ägypten befreiten Volkes wird mit harten Sanktionen und einem exzessiven Gebrauch der Todesstrafe durchgesetzt (z.B. Exodus 21,12-17.23-25; 22,17-23). Dieser Gott wacht mit fanatischem Eifer über sein Volk und hat den Genozid an den Ureinwohnern des Landes Kanaan befohlen, damit diese mit ihren Göttern Israel nicht zum Abfall von seinem Gott verführen (Deuteronomium 20,16-18).

Erst im Exil hat Israel gelernt, seine Erwählung neu zu verstehen, nicht mehr auf Kosten der anderen Völker, sondern als seine Berufung, seinen Gott als den Gott der ganzen Völkerwelt und den Schöpfer des Himmels und der Erde zu bezeugen. Im Exil ist Israel zur Erkenntnis des Monotheismus durchgestoßen, dass sein Gott, der eine und einzige Gott, auch der Gott der Völker und der ganzen Welt ist. Israel ist in der Katastrophe des Exils nicht zu den Göttern der Sieger übergelaufen, vielmehr hat es an seinem Gott festgehalten, den Zuständigkeitsbereich seines Gottes ins Universale ausgeweitet und die Götter der Siegermacht - die Gestirne - zu Schöpfungswerken seines Gottes degradiert (Genesis 1,14-19).

Im Exil hat Israel seine Berufung erfahren, zum Segen und zum Licht der Völker zu werden (Genesis 12,3; Jesaja 42,6; 49,6). Gottes Herrschaft der Gerechtigkeit und des Friedens erstreckt sich über alle Völker, ist universal und gegen niemanden gerichtet, darum notwendig gewaltfrei. Israel versteht sich als der Gottesknecht, der ohne Gewalt und zum Leiden bereit die Tora, die Lebens- und Friedensordnung seines Gottes, bis an die Enden der Erde zu bezeugen bereit ist (Jesaja 42,1-4; 49,1-6). Die Gemeinde der Heimgekehrten auf dem Zion sieht sich als die Kontrastgesellschaft, die nach Gottes Tora lebt, ihre Konflikte gewaltfrei austrägt und ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmiedet. Sie übt auf die umliegenden Völker - so die Vision nach Jesaja 2,2-5 und Micha 4,1-5 - eine solche Faszination aus, dass diese zum Zion wallfahren, die Friedenstora der dortigen Gemeinde lernen, den Krieg verlernen und ihre Schwerter ebenfalls zu Pflugscharen umschmieden.

Der Gott des Ersten Testaments hat eine beispiellose Karriere durchlaufen vom Stammesgott, der die Kriege der Stämme Israels führt, über den Gott des Staates Israel, der David erwählt hat und als Nationalgott den ewigen Bestand des israelitischen Königtums garantiert auf Kosten der anderen Völker, bis hin zum universalen Gott aller Völker und Schöpfer der ganzen Welt, der Israel beauftragt, zum Segen und zum Licht der Völker zu werden. Israel ist Gottes Weg zu den Völkern, die an Gottes Tora der Gerechtigkeit und des Friedens ohne Gewalt bis an die Enden der Erde teilhaben sollen.


Jesus hat Gott eindeutig gemacht

An diese Vision knüpft Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes an. Jesu Glaubensbekenntnis sind die Seligpreisungen der Bergpredigt (Matthäus 5,3-10): Die keine Gewalt gebrauchen, werden die Erde bewohnen und bewohnbar erhalten; die nach Gerechtigkeit hungern, nach einem menschenwürdigen Leben für alle, werden satt; die in der Absage an Gewalt Frieden machen, sind Gottes Söhne und Töchter, weil sie Gott in seiner unbedingten und universalen Liebe auch zu seinen Feinden entsprechen (Matthäus 5,43-48). Sie alle haben teil an Gottes neuer Welt, die jetzt schon anbricht.

Jesus hat Gott eindeutig gemacht, die Ambivalenz des unendlich liebenden und in seinem Zorn vernichtenden Gottes überwunden. Für Jesus ist Gott nicht der unnahbar Heilige, der mit dem Sünder nicht zusammen leben kann, sondern der Vater, der mit dem Kosenamen des Kindes "Abba" angeredet werden darf, der seinem zu den Schweinen heruntergekommenen heimkehrenden Sohn (nicht auf seine Heiligkeit und seine Würde bedacht!) entgegen rennt, ihm wortlos um den Hals fällt und ein maßloses Fest ausrichtet (Lukas 15). Für Jesus ist Gott der Vater, der das Nein der Menschen, seiner Söhne und Töchter, zu ihm aushält und der es nie über das Herz brächte, wie ein Richter ein definitives Todesurteil zu sprechen.

Auch Jesus weiß von Gottes Zorn, aber Gottes Zorn ist nicht definitiv, nicht sein letztes Wort, Gottes Zorn bleibt eine Gestalt seiner Liebe, die uns Menschen zwar den Folgen unseres falschen Verhaltens und unserer Irrwege überlässt, uns diese Folgen buchstäblich erleiden lässt in der bleibenden Hoffnung auf unsere Umkehr, dass wir uns der Einladung zu seinem Reich und dem Tun Bergpredigt, der Gerechtigkeit und des gewaltlosen Friedens in der Nachfolge Jesu nicht verschließen. Auch wenn Gott in seinem Zorn uns den Folgen unseres Neins und unserer Abkehr von ihm überlässt, hört er nach Jesus nicht auf, uns zu lieben.

Man hat ihm, Jesus, seinen eindeutig liebenden Gott nicht geglaubt. Jesus wurde von den Verantwortlichen seines Volkes an Pilatus ausgeliefert und als römischer Staatsverbrecher gekreuzigt. Seine Kritik an der Tora, die er neu im Sinne eines gelingenden Lebens für den Menschen auslegte ("Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat", Markus 2,27), seine Vollmacht, im Namen Gottes am Sühnekult des Tempels vorbei Sünden zu vergeben, seine Staatskritik, wie sie in der Zinsgroschenepisode und seinem Einzug in Jerusalem zum Ausdruck kam, machten ihn untragbar. In der Konfrontation mit der Kaisersteuer spricht Jesus dem Staat das Recht ab, über Gottes Eigentum, den Menschen zu verfügen. Der Kaiser, der Staat darf über Münzen und Sachen verfügen, denen er sein Bild aufprägen kann, nicht aber über den Menschen, den Gott nach seinem Bild geschaffen hat und der darum Gottes unantastbares Eigentum ist (Markus 12,13-17). Mit seinem Einzug in Jerusalem inszenierte Jesus die Dramaturgie des gewaltfreien messianischen Friedenskönigs nach Sacharja 9,9-10. Das konnte Pilatus kaum entgangen sein.

Im grundlegenden Widerspruch zu Jesu Botschaft und Verhalten ist Jesu Tod als Sühnetod gedeutet worden, den Gott verfügt hat, damit er auf Grund der Sündenstrafe, die sein sündloser Sohn stellvertretend für die sündigen Menschen auf sich genommen und erlitten hat, der sündigen Menschheit vergeben und ewiges Leben gewähren kann. Die Ungereimtheiten dieser Deutung können hier nicht erörtert werden, nur dies sei angemerkt: Wenn Jesus am Sühnekult des Tempels vorbei im Namen Gottes Sünden vergeben hat, kann sein Tod nicht als Sühnetod gedeutet werden. Der Vatergott Jesu ist nicht der unnahbar Heilige und Richter, der auf der tödlichen Sanktion von Sündenschuld, auf tödlicher Sühne um seiner Gerechtigkeit willen bestehen muss. Nach Immanuel Kant ist eine Geldschuld übertragbar, nicht aber eine moralische bzw. eine Sündenschuld. Eine derartige Übertragung widerspricht der Personwürde des Täters. Die Sühnetoddeutung ist allein an den Tätern orientiert, nicht an den Opfern.

Hat Gott als Richter in der stellvertretenden Hingabe Jesu die tödliche Sühne verfügt, so trifft das tödliche Gericht Gottes alle diejenigen, die nicht an Jesu stellvertretenden Sühnetod glauben. Der eine Gewaltakt Gottes in dem Sühnetod Jesu zieht unendlich viele Gewaltakte Gottes im Gericht an den Nichtglaubenden nach sich. Damit soll das Gericht Gottes nicht in Abrede gestellt werden, aber Gottes Gericht vernichtet nicht, es bringt zurecht und befreit zum Leben.

Hatte Jesus in seiner Botschaft wie in seinem Verhalten Gott als den unbedingt und unbegrenzt liebenden Vater eindeutig gemacht, so werden in das Gottesbild nach Jesus wieder die Züge grausamer und vernichtender Gewalt eingetragen (so besonders in der Vorstellung des Paulus vom Zorn Gottes als Voraussetzung seiner Theologie, Römer 1,18-3,20, in den Gerichtsgleichnissen des Matthäusevangeliums, Matthäus 18; 24-25, wie in der Offenbarung des Johannes). Diese gewaltsamen Züge in den Gottesbildern auch im Neuen bzw. Zweiten Testament haben die Gewaltgeschichte des Christentums entscheidend geprägt.


Die Bibel - eine Sammlung von Prozessakten im Streit um die Wahrheit Gottes

Die Bibel ist mitnichten eine Einheit und in ihrer Ganzheit "Heilige Schrift" und "Wort Gottes". Die Bibel ist ein vielstimmiger Chor, in dem einzelne Personen und Trägergruppen in einem Zeitraum von über eintausend Jahren auf höchst spannungsvolle und widersprüchliche Weise ihr Gottesbewusstsein, ihre Erfahrungen mit Gott und ihre Vorstellungen von Gott bezeugen, indem sie auf frühere Zeugnisse Bezug nahmen, diesen antworteten, sie interpretierten und aktualisierten, sie weiterführten und ihnen auch entschieden widersprachen. Treffender noch als das Bild vom Chor scheint mir das Bild von einem Prozess zu sein, in dem es wie in einem Gerichtsprozess um die Aufdeckung der Wahrheit geht, die Aufdeckung und die Erkenntnis der Wahrheit Gottes. In diesem Prozess kamen die verschiedensten Zeugen zu Wort, Zeugen, die Gott für sich allein gegen andere in Anspruch nahmen, Zeugen, die Gott als Befreiung erfuhren, als Partei ergreifend für die Armen und unter Gewaltherrschaft Leidenden, als Gesetzgeber, der mit fanatischem Eifer über der Einhaltung seiner Gesetze wacht und Übertretungen mit unbarmherzigen Sanktionen ahndet, der ein Volk erwählt und diesem seinem Volk die Nachbarvölker aufopfert, Zeugen, die im Namen Gottes die Errichtung des Staates Israel bejahten, und Zeugen, die in dem Staat Israel einen Abfall von Gott, ja den Sündenfall Israels sahen, weil Israel wie die anderen Völker sein wollte, Zeugen, die Gott partikular machten, weil er nur auf Israel bezogen ist, und Zeugen, die Gottes universales Heil für Israel und die Völker proklamierten, weil Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde ist und nicht der Vernichtung preisgibt, was er geschaffen hat, Zeugen, die Gottes unnahbare, kompromisslose und strafende Heiligkeit betonten, und Zeugen, die Gottes väterliche unbedingte und unbegrenzte Güte zur Sprache brachten und lebten.

Die Bibel eine Sammlung von Akten eines Prozesses, in dem es um die Erkenntnis und die Wahrheit Gottes geht. Bei einigen Akten und Zeugenaussagen kann man sogar so weit gehen und sagen, dass sie Gott auf der Anklagebank sehen, wenn unschuldig Leidende Gott ihr Leid ins Gesicht schreien (einige Psalmen, Hiob).


Falsche Zeugnisse wider Gott in der Bibel

Nicht alle Zeugenaussagen werden der Wahrheit Gottes gerecht, viele Zeugen verfehlen die Wahrheit Gottes, reden falsches Zeugnis wider Gott, verraten und lästern Gott, missbrauchen Gott für ihre Interessen, für ihre Herrschaft über Menschen, machen Gott partikular, indem sie ihn nur für sich selbst in Anspruch nehmen und anderen absprechen und vieles andere mehr. In allen Aussagen der Bibel über Gott oder als Gottesrede stilisiert Gottes Wort und Offenbarung sehen zu wollen, wie es in evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen geschieht, ist unverantwortlich und absurd. Zu viele Opfer hat ein derartiges Verständnis der Bibel gefordert. Die Bibel muss auch mit den Augen ihrer Opfer gelesen werden, mit den Augen der Opfer falscher Zeugnisse wider Gott, mit den Augen der Opfer biblisch legitimierter Gewalt.

In der Sammlung der biblischen Prozessakten, die im Laufe des vierten Jahrhunderts von der Kirche abgeschlossen wurde, ist kein definitiver Richterspruch über die Wahrheit Gottes zu finden. Der Prozess ist mit der Kanonbildung zwar formal abgeschlossen, aber er geht weiter, weil die Frage nach der Wahrheit Gottes offen bleibt. Wie kann ich mich in diesem Berg der Prozessakten - in der Bibel - zurechtfinden? Drei Kriterien möchte ich nennen. (1) Verbindlich sind für meine Wahrnehmung der Bibel die Erfahrungen, die Israel in Ägypten, in vorstaatlicher Zeit und im Exil gemacht hat, als es lernte, Gott als befreiende und herrschaftskritische Macht zu verstehen, die Gerechtigkeit schafft und das Heil als gewaltfreien Schalom für alle Menschen und Völker will. (2) Maßgebend ist für mich das Gottesbild Jesu, der sich mit seinem Leben bis zu seinem gewaltsamen Sterben für Gottes universale, ungeteilte, unbedingte gütige Vaterschaft verbürgt hat. (3) Hinter die europäische Aufklärung, die den Menschen im Namen der Vernunft für mündig erklärt, kann ich nicht zurück. Das Korrektiv der Vernunft lässt mich die historischen, kulturellen und sozialen Bedingtheiten auch der biblischen Überlieferungen erkennen, fordert die Universalität der Menschenrechte ein und weist die Religionen in die Schranken.


Das Doppelgesicht der monotheistischen Religionen

Die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sind doppelgesichtig, sie bergen in sich ein erschreckendes Gewaltpotenzial und zugleich ein befreiendes Friedenspotenzial. Sie vertreten vielfach einen triumphalistischen, totalitären und exklusiven Wahrheitsanspruch. Sie behaupten, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, und haben ihren Wahrheitsanspruch in ihrer Geschichte auf vielfache Weise mit Intoleranz, Friedlosigkeit und Gewalt verbunden und durchgesetzt.

Die alleinige und ausschließliche Verehrung eines Gottes führt zur Unterscheidung des einen wahren Gottes und der vielen falschen Götter. Die Negierung und Bekämpfung der falschen Götter und ihrer Anhänger ist schon in den biblischen Überlieferungen und ihrer Wirkungsgeschichte im Christentum mit viel Gewalt und Blutvergießen verbunden. Insofern scheinen diejenigen Recht zu haben, die sagen, monotheistische Religionen seien per definitionem Religionen der Gewalt.

Es ist ein Gott, aber der Gottesbilder sind viele. Das Gewaltpotenzial der monotheistischen Religionen besteht nun in dem grundlegenden Fehler, dass die Anhänger des einen Gottes ihr Gottesbild mit Gott identifizieren, nicht zwischen ihrem Gottesbewusstsein, ihrer Vorstellung von Gott und dem Sein, der Wirklichkeit Gottes unterscheiden und demjenigen, der ein anderes Bild von Gott hat, eines falschen Glaubens oder gar des Unglaubens bezichtigen. Israel hat nach vielen seiner Überlieferungen die "fremden" Götter der anderen Völker bis aufs Blut bekämpft und sich keine Rechenschaft darüber gegeben, wie viel es den Gottesvorstellungen der anderen Völker im Prozess seiner eigenen Glaubensgeschichte verdankt und welche Elemente dieser Gottesvorstellungen es seinem Gottesglauben integriert hat. Nicht anders ist auch das Christentum in seiner Geschichte nach der konstantinischen Wende verfahren. Nachdem die Lehre des Christentums definiert war, waren auch die Gegner und Feinde des christlichen Glaubens ausgemacht, die Ungläubigen, die Häretiker und Ketzer, die Juden und Heiden, die man dann in der irrigen Auffassung, Gott die Ehre zu geben, auf Leben und Tod verfolgen konnte.

Damit die monotheistische Religion des Christentums ihres Friedenspotenzials innewerden kann, ist es unabdingbar notwendig, dass zwischen Gottesbild, Gottesvorstellung, der Lehre von Gott und dem Sein, der Wirklichkeit Gottes unterschieden wird. In der Christentumsgeschichte wurde faktisch vom vierten Jahrhundert an die Lehre von Gott (der Dreieinigkeit Gottes und der Vergottung Jesu Christi und seiner zwei Naturen, wahrer Gott und wahrer Mensch) mit Gott gleichgesetzt, was für alle Abweichler von der rechten und reinen Lehre blutige Folgen hatte. Die Lehre von Gott ist menschliche Antwort auf Erfahrungen Gottes, immer vielfach bedingt und gebrochen durch unsere jeweiligen Denkvoraussetzungen, durch unseren kulturellen und sozialen Referenzrahmen und Kontext, auch durch unsere persönliche Biographie, immer nur auf dem Weg zur Wahrheit Gottes, nie mit der Wahrheit Gottes identisch. Wollen die monotheistischen Religionen ihr Friedenspotenzial erkennen und ausschöpfen, so ist die Unzulänglichkeit und Begrenztheit jeder Lehre von Gott zur Geltung zu bringen und in der Praxis zu bewahrheiten.

Es hat den christlichen Glauben in der lutherischen Ausprägung beschädigt, dass Luther in seinem Katechismus das Bilderverbot "Du sollst dir kein Bild von Gott machen" (Exodus 20,4-6) ersatzlos gestrichen hat. Wir können nur in Bildern von Gott reden, und auch Jesus hat, wenn er von Gott erzählte, Bildgeschichten erzählt, aber die Bilder, die wir für Gott gebrauchen, müssen offen sein, sie dürfen keinen begrenzten Rahmen haben. Die Lehre definiert Gott, und weil sie Gott definiert, verfehlt sie Gott und grenzt die Menschen aus, die sich die "Definition" Gottes nicht zu eigen machen. Jesus hat Gott als unbedingte und unbegrenzte Vatergüte ausgelegt und er hat Menschen zum Glauben an diesen Gott eingeladen. Der Vater im Gleichnis stellt seinem älteren Sohn kein Ultimatum, sondern er wirbt um ihn und redet freundlich auf ihn ein, am Fest teilzunehmen (Lukas 15). Es ist unvorstellbar, dass der Vater von einem bestimmten Zeitpunkt an die Tür zuschlägt. Von der zugeschlagenen Tür erzählen erst die Gleichnisse nach Jesus (z.B. Matthäus 25,1-13). Ist Gott unbedingte und unbegrenzte vorbehaltlose Liebe, so gilt seine Liebe unterschiedslos allen Menschen, nicht nur denen, die an ihn glauben, sondern auch denen, die nicht an ihn glauben können, die anders glauben und lehren. Gott ist der Schöpfer und Vater aller Menschen, nicht nur derer, die an ihn glauben. Wo Gottes Vaterschaft anderen Menschen abgesprochen wird, wird Gott verfehlt und verraten. Luther konnte den Soldaten empfehlen, vor der Schlacht noch ein Vaterunser zu beten und dann dreinzuschlagen (Kriegsleuteschrift), welche Perversität Erasmus von Rotterdam zutiefst empört hat (Klage des Friedens).


Gott ist der Vater aller Menschen

Gott ist der Vater aller Menschen, die ihn auf sehr unterschiedliche Weise wahrnehmen, an ihn glauben, ihn verehren und ihm im Kult und im Alltag dienen. Es wäre absurd, anzunehmen, dass er nur diejenigen als seine Kinder anerkennt, die an ihn im Sinne einer bestimmten Religion glauben. Schon in einer Familie, in einem Geschwisterkreis nimmt jedes Kind seine Eltern auf eigenständige und unvertretbare Weise wahr; kein erwachsenes Kind kann seine Wahrnehmung für die allein richtige halten und seinen Geschwistern das Recht ihrer Wahrnehmung absprechen. Auch das Christentum muss lernen, dass nicht es allein Gott in rechter Weise wahrnimmt, dass auch die Geschwister der anderen Religionen Gotteserkenntnis haben, dass sich die Wahrheit Gottes wie das Licht in vielen Religionen bricht, dass keine Religion für sich das Ganze der Wahrheit Gottes reklamieren kann.

Alle Religionen sind auf dem Weg zu Gott. Keine Religion ist schon am Ziel der Wahrheit Gottes. Wo die Anhänger der verschiedenen Religionen sich gegenseitig Teilhabe an der Wahrheit und der Erkenntnis Gottes zugestehen können, wo sie im Bewusstsein der Vaterschaft Gottes über alle Menschen sich als Geschwister gegenseitig annehmen, werden sie ihre eigene Gotteserkenntnis nicht mehr mit einem triumphalistischen und totalitären Wahrheitsanspruch exklusiv vertreten. Erst wenn wir als Anhänger der drei monotheistischen Religionen so zu "theologischer Abrüstung" bereit sind, werden wir dem Friedenspotenzial unserer Religionen gemäß leben und zum Dialog, zu einem gedeihlichen Miteinander und Frieden fähig werden.

Die universale Liebe Gottes verbindet unterschiedslos alle Menschen. Christen berufen sich auf Jesus, weil ihnen an Jesus Gott aufgeht als der unbedingt und unbegrenzt liebende Vater, weil Jesus sich mit seinem Leben bis zu seinem Sterben für diese Wahrheit Gottes verbürgt hat. Diesen Gott haben Christen und Christinnen in der Nachfolge Jesu kraft seines Geistes zu bezeugen und ihm entsprechend zu leben. Die universale Liebe Gottes verbindet unterschiedslos alle Menschen, die Lehre von Gott trennt und grenzt aus, macht aus den Menschen Gottes Anhänger und seine Feinde. Gegen die Feinde Gottes ist dann der Gebrauch von Gewalt frei gegeben. Darum ist "theologische Abrüstung" im Blick auf die Lehre das Gebot des Friedens, das das Friedenspotenzial des Christentums als einer monotheistischen Religion frei setzt.


Eine Gott verharmlosende Karikatur?

Man hat immer wieder eingewendet und sich darin auf die Bibel berufen, die Rede vom unbedingt und unbegrenzt liebenden Gott sei eine Gott verharmlosende und verniedlichende Karikatur. Unverzichtbar für das Reden von Gott sei seine Heiligkeit und seine Gerechtigkeit, die den Sünder, den Übertreter seiner Tora zur Rechenschaft zieht und bestraft. Dazu ist zu sagen: (1) Der "heilige Gott", der die Befolgung seiner Tora unabdingbar einfordert und vor allem Unreinen (das er ja selbst geschaffen hat!) einen abgrundtiefen Abscheu hat, nach dessen Urteil alle, die seiner ethischen und seiner kultischen Tora nicht entsprechen, ihr Leben verwirkt haben, das nur durch die stellvertretende Sühne seines sündlosen Sohnes gerettet werden kann, ist eine Erfindung von Menschen. Der gütige Vatergott Jesu ist nicht der unnahbar Heilige, der mit dem Sünder und Unreinen nicht zusammen leben kann. (2) Der Mythos vom Sündenfall und die Lehre von der Erbsünde, wonach der Mensch auf Grund seiner Sünde dem Tod verfallen sei, sind ein theologisches Konstrukt, das weder dem Gottesbild Jesu noch der Realität des Menschen standhält. Auch wenn wir heute wissen, dass wir den so genannten Sündenfall nach Genesis 3 nicht historisieren, in ihm also kein historisches Ereignis sehen dürfen, so als habe es in der Geschichte des Menschen einmal eine Zeit "vor dem Fall" gegeben, so haben wir aus diesem Wissen noch nicht die notwendige Konsequenz gezogen, dass Gott den Menschen "als Sünder" geschaffen hat, auf vielfältige Weise begrenzt, mit der Erblast von Selbstbehauptung, Aggression und Gewalt, als ein Zwischenergebnis der Evolution (nach Eugen Drewermann sind wir das missing link zwischen dem Affen und dem wahrhaft humanen Menschen). (3) Der Tod ist nicht die Folge der Sünde, vielmehr hat Gott den Menschen von Anfang an begrenzt und sterblich geschaffen. (4) Die Sünde hat erst durch Paulus (und in seiner Nachfolge durch Augustin und Luther) das zentrale Gewicht in der Theologie bekommen. Die Überlieferungen von Jesus reden nur am Rande von der Sünde; zentral in der Verkündigung Jesu waren die leidenden Menschen; Jesus hat die Menschen nicht auf ihre Sünde hin angesehen, sondern auf das hin, was sie leiden und was sie hoffen. (5) Der unbedingt und unbegrenzt liebende Gott Jesu ist alles andere als harmlos und niedlich. Er mutet denen, die ihm, Jesus, seinen Gott glauben, das Tun der Bergpredigt im Verzicht auf Vergeltung, in radikaler Gewaltfreiheit wie in der Liebe zu den Feinden zu. (6) Gott setzt seine Leben schaffende Gerechtigkeit nicht mit "heiliger", ausgrenzender und vernichtender Gewalt durch. Seine Heiligkeit ist die Macht seiner grundlosen und unbedingten Liebe, die das Herz von Menschen erreicht, das Böse überwindet und Versöhnung stiftet.

Die Bibel in der spannungsreichen und widersprüchlichen Pluralität ihrer Überlieferungen tradiert auch falsche Gottesbilder, uns zur Warnung, wie wir von Gott nicht denken und reden dürfen. Kein biblisches Bild von Gott darf mit Gott gleichgesetzt werden. Keine biblische Überlieferung repräsentiert die ganze Wahrheit Gottes. Der Pluralismus der biblischen Überlieferungen ist eine Aufforderung zum Dialog wider jeden totalitären Wahrheitsanspruch. Die biblische Gotteserkenntnis ist in dem Prozess, in dem es um die Wahrheit Gottes geht, eine Gotteserkenntnis auf dem Weg. Hinter die Bürgschaft Jesu für Gottes unbedingte und unbegrenzte, universale und darum gewaltfreie Liebe können wir nicht zurück. Jesus hat Gott eindeutig gemacht. In der Perspektive Jesu können wir die Bibel nur kritisch lesen und das heißt: Wir müssen Abschied nehmen von allen biblischen Traditionen, die Gott partikular machen, die Gott nur für eine bestimmte Menschengruppe gegen andere in Anspruch nehmen, die beanspruchen, über die absolute Wahrheit Gottes zu verfügen, die mit Gott menschliche Herrschaftsinteressen zu legitimieren versuchen, die Gott und Gewalt zusammen denken. Der universalen Vaterschaft und Vatergüte Gottes entspricht die Geschwisterlichkeit aller Menschen in der Absage an jede Form von Gewalt.

Dr. Jochen Vollmer ist Ruhestandspfarrer und Mitglied des Versöhnungsbundes.


*


Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 19, III/2008, S. 9 - 13
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2008