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STANDPUNKT/107: Ein Tabubruch - Die Erlaubnis zum Einsatz der Bundeswehr im Innern (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 34/35/36 - 2.-4. Quartal 2012
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Ein Tabubruch: Die Erlaubnis zum Einsatz der Bundeswehr im Innern
Anmerkungen zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012

Von Wolfram Wette



"Karlsruhe erlaubt Bundeswehreinsatz im Innern" meldete der Berliner "Tagesspiegel" am 17. August 2012.(1) Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" titelte noch genauer: "Karlsruhe erlaubt Einsatz militärischer Kampfmittel in Inland".(2) Unter ähnlichen Überschriften informierten die überregionalen und regionalen Zeitungen in Deutschland ihre Leser über eine Aufsehen erregende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Sie war bereits am 3. Juli 2012 gefallen, wurde der deutschen Öffentlichkeit jedoch erst durch eine Pressemitteilung des Gerichts vom 17. August bekannt - mitten im Sommerloch, zur Hauptferienzeit, unter dem Dach der alle Aufmerksamkeit absorbierenden Finanzkrise.(3) Am 24. August 2012 veröffentlichte das Gericht auch den Wortlaut der Entscheidung.(4)

In früheren Phasen der Geschichte der Bundesrepublik löste das umstrittene Thema "Militäreinsatz im Innern", wenn es aus irgendeinem aktuellen Anlass wieder einmal in die öffentliche Debatte geriet, jeweils einen Aufschrei der Empörung aus.(5) Jetzt aber, im Sommer 2012, blieb es merkwürdig ruhig. Die meisten Medien berichteten kurz über das Urteil und über einige Politikerkommentare, um sich dann neuen Themen zuzuwenden. Meine Wahrnehmung des Vorgangs war deckungsgleich mit jener der Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh. Sie schrieb: "Aber der Aufschrei blieb aus. Ein bisschen pflichtschuldige Berichterstattung und leises Gemecker. Regierung und Opposition verbuchen das Urteil als Erfolg. Man geht zur Tagesordnung über. Drei Tage später scheint die Angelegenheit vergessen."(6)

Immerhin gab es einige wenige kritische Journalisten, die - das muss zu ihrer Ehrenrettung festgehalten werden - die Tragweite der höchstrichterlichen Entscheidung sogleich erkannten und Alarm schlugen. Heribert Prantl, der Innenpolitiker der "Süddeutschen Zeitung", kommentierte mit Aufsehen erregender Schärfe: "Ein Katastrophen-Beschluss".(7) Mit seiner "selbstherrlichen Entscheidung" habe das Bundesverfassungsgericht, was ihm überhaupt nicht zustehe, die Verfassung geändert. "Das ist ein einmaliger, ein unerhörter Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik und ihres Verfassungsgerichts." Karlsruhe habe ohne Not mit der bundesrepublikanischen Tradition gebrochen, die lautete: "Kein Bundeswehreinsatz im Innern!"

Ähnlich argumentierte Christian Bommarius im Leitartikel der "Frankfurter Rundschau": Mit seiner Entscheidung zum bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Inland widerspreche das Gericht nicht nur dem Wortlaut der Verfassung, es überschreite auch dramatisch seine Kompetenzen.(8) Einer der besten demokratischen Traditionen sei der Garaus gemacht worden: "Nach den Erfahrungen in der Weimarer Republik und vor allem in der NS-Diktatur war klar, dass nie wieder bewaffnete Streitkräfte im Inneren eingesetzt werden dürften, nicht einmal in Fällen des Notstands. Daran hielt die Bundesrepublik selbst bei der 'Wiederbewaffnung' und der Einfügung der Wehrverfassung 1956 fest, und daran hielt sie fest, als die in der Bevölkerung hoch umstrittene Notstandsverfassung 1968 ins Grundgesetz gelangte. Damit wurde zwar der Einsatz der Bundeswehr im Inland erlaubt, aber in eng begrenzten, genau bezeichneten Fällen, und - zur Beruhigung der jahrelang aufgepeitschten Debatte - der bereits zitierte Art. 87a Abs. 2 GG eingefügt: 'Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.' Damit war nie zweifelhaft, dass die Bundeswehr zwar zur Katastrophenhilfe herangezogen werden kann, aber nur ohne Verwendung spezifisch militärischer Waffen." Bommarius attackierte die Verfassungsrichter: "Die 'ausdrückliche' Erlaubnis, bewaffnete Streitkräfte im Inneren einzusetzen, die jahrzehntelang niemand im Grundgesetz finden konnte, weil es sie nicht gab, die auch der Erste Senat nicht entdeckte, weil sie nie ins Grundgesetz hineingeschrieben worden ist, hat nun der Große Senat ermittelt - obwohl sie noch immer nicht im Grundgesetz steht."

Der Kommentator der Wochenzeitung "Die Zeit", Heinrich Wefing, brachte die Bedeutung der Verfassungsgerichtsentscheidung so auf den Punkt: "Seit vergangenem Freitag leben wir in einer anderen Republik. [...] Diese Bundesrepublik hat eine ihrer ältesten Grundüberzeugungen aufgegeben, nicht nach langen Debatten in Parlament und Öffentlichkeit, sondern durch eine Entscheidung von sechzehn Richtern. Fortan ist es nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen, dass die Bundeswehr auf Bundesbürger schießt." Das sei "ein spektakulärer Kurswechsel", der allerdings von der Öffentlichkeit kaum bemerkt worden sei.(9)


Gegenposition nur bei der Linken

Seitens der Politik fielen die Bewertungen des Karlsruher Urteils unterschiedlich aus. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) teilten in einer gemeinsamen Erklärung mit, die Entscheidung des Gerichts bestätige die Rechtsauffassung der Bundesregierung.(10) Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) distanzierte sich von der höchstrichterlichen Entscheidung zumindest indirekt mit dem Satz: "Nicht alles, was verfassungsrechtlich möglich ist, ist politisch richtig."(11) Damit wollte sie offenbar ausdrücken, man müsse ja in der politischen Praxis nicht anwenden, was das Gericht erlaube. Für den SPD-Bundestagsabgeordneten und Innenexperten Michael Hartmann bedeutete die Karlsruher Entscheidung "keinen grundsätzlichen Wandel". Er beklagte, dass das Gericht die Begriffe "ungewöhnliche Ausnahmesituation katastrophalen Ausmaßes" nicht näher definiert habe, sodass die Politiker in ihrer Entscheidung letztlich allein gelassen würden.(12) Der Verteidigungsexperte der Grünen, Omid Nouripour, hob darauf ab, dass das Gericht die Grenzen für einen Militäreinsatz im Innern "eng gesteckt" habe und die Entscheidung daher "alles andere als ein Freifahrtschein für einen Bundeswehreinsatz im Inland" sei.(13) Die Politikerin der Partei Die Linke, Ulla Jelpke, wertete die Karlsruher Entscheidung als "Verfassungsänderung durch die Hintertür" und als einen "Türöffner zu weiteren Militarisierung der Innenpolitik und damit zur Aushebelung demokratischer Rechte".(14) Insgesamt betrachtet, waren die Politiker-Kommentare - ausgenommen die Linkspartei - also eher verhalten und bewegten sich zwischen Zustimmung und vorsichtiger Kritik, was unter anderem dem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht geschuldet sein mochte, das sowohl in der Politik als auch in der Öffentlichkeit hohes Ansehen genießt.

Die Zustimmung der Repräsentanten von CDU/CSU konnte nicht verwundern, forderte diese Partei doch schon seit langem, verstärkt seit der deutschen Einigung, eine Grundgesetzänderung, die den Einsatz der Bundeswehr im Innern ermöglichen sollte. Dagegen hatte die SPD bislang, auch aufgrund negativer historischer Erfahrungen seit den Zeiten des deutschen Kaiserreichs,(15) auf einer strikten Aufgabentrennung von Militär und Polizei bestanden und anderslautenden Bestrebungen eine Absage erteilt. Die eher verhaltene Reaktion des SPD-Innenpolitikers Michael Hartmann auf die Karlsruher Entscheidung, besonders seine Einschätzung, "dass das Verfassungsgericht auch weiterhin einen bewaffneten Militäreinsatz grundsätzlich ausschließt, indem es diesen allenfalls als letzte Mittel zulässt",(16) stellt den Versuch dar, das Problem klein zu reden. Tatsächlich überlässt es das Gericht der Definitionsmacht der Bundesregierung, wann ein außergewöhnlicher Katastrophenfall vorliegt. Eine gerichtliche Nachprüfung einer solchen Regierungsentscheidung zum Militäreinsatz im Innern dürfte wegen der Eilbedürftigkeit in Krisensituationen ohnehin nicht möglich sein.

Das Parlament wird durch den Richterspruch, anders als bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, vollständig ausgehebelt. Die Bundesregierung soll als Kollegialorgan alleine entscheiden, wobei man sich schwerlich vorzustellen vermag, dass in einer Krisensituation das gesamte Kabinett überhaupt zusammentreten kann. Daher suchen die Innenpolitiker von CDU/CSU auch bereits nach einem kleineren Entscheidungsgremium.


Eine verfassungsrechtliche Zäsur

Im Gegensatz zu der verhaltenen Kritik der Oppositionsparteien teile ich die Bewertung der oben zitierten Journalisten, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung ein Tabu brach. Besteht der Kern des Urteils doch darin, dass nunmehr die Tür zum Einsatz der Bundeswehr im Innern mit Kriegswaffen und nach militärspezifischen Einsatzgrundsätzen geöffnet ist. In einem Katastrophenfall tritt die Bundeswehr künftig nicht mehr als unbewaffneter Gehilfe der Polizei auf, wie es bei Flutkatastrophen und Überschwemmungen schon praktiziert wurde (Artikel 35 GG), sondern auf Befehl der Bundesregierung als eigenständiger Akteur.

Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die Bundeswehr auch bislang schon unter genau festgelegten Bedingungen im Innern eingesetzt werden konnte. In dem 1968 neu eingefügten Artikel 87 a Absatz 4 GG, heißt es, dass bei einem inneren Notstand - bei einer "drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung" - zur Abwehr dieser Gefahr "Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer" eingesetzt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht entschied nun aber, dass der Streitkräfteeinsatz in bestimmten Fällen auch nach Artikel 35 (Rechts- und Amtshilfe; Katastrophenhilfe) erlaubt ist.

Beruhigend auf Politiker und Öffentlichkeit wirkte es, dass das Gericht die früher getroffene Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz bestätigte, dass ein gekapertes und als Waffe eingesetztes Passagierflugzeug nicht abgeschossen werden darf, weil der Staat nicht berechtigt sei, über das Leben der Menschen zu verfügen. Als weitere Einschränkung legte das Gericht fest, das Militär dürfe nicht gegen eine "demonstrierende Menschenmenge" eingesetzt werden.

Um den Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung noch einmal deutlich zu machen: Im Jahre 2006 hatten die sechs Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts klargestellt, dass die Bundeswehr in einem Katastrophenfall nach Artikel 35 des Grundgesetzes zwar zur Unterstützung der Polizei herangezogen werden dürfe, dass der Einsatz militärischer Waffen dabei jedoch ausgeschlossen bleibe.(17) 2012 vertraten 15 der 16 Richter des Plenums in diesem Punkt eine andere Rechtsauffassung. Sie machten - unter bestimmten Bedingungen - den Weg frei für einen Militäreinsatz im Innern mit Kriegswaffen. Ganz unabhängig davon, wie wahrscheinlich es ist, dass die Bundesregierung in einer außergewöhnlichen Krisensituation dem Militär tatsächlich einen Einsatzbefehl erteilen wird oder nicht, handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Zäsur. Die Trennung von Polizei und Militär, von Innen und Außen, bis dahin als eine zivilisatorische Errungenschaft gefeiert, wurde preisgegeben, ohne dass dafür eine zwingende Notwendigkeit bestand oder ein messbarer Gewinn an Sicherheit erkennbar wäre.

Man fragt sich, welche Szenarien den Verfassungsrichtern vor Augen gestanden haben mögen, als sie die Bedingung für einen Militäreinsatz im Innern formulierten, es müsse um die Gefahrenabwehr in einer "ungewöhnlichen Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes" handeln. Als eine neuartige Krisenerfahrung konnte eigentlich nur der terroristische Angriff auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001 in Frage kommen. Aber welche Lehren lassen sich aus diesem umstürzenden Ereignis ziehen? Allenfalls die, dass Geheimdienste und Polizei, die den Terrorangriff vielleicht hätten verhindern können, versagt haben; weiterhin, dass die Rache der US-Regierung in der Form des "War on Terror" gegen den Irak und gegen Afghanistan zwar Hunderttausende von Toten gekostet, aber den Terrorismus nicht besiegt und auch keinen stabilen Frieden gebracht haben. Man konnte insgesamt lernen, was man auch schon vorher hätte wissen können, dass nämlich militärische Mittel zu Bekämpfung des Terrorismus nicht geeignet sind.


Nur eine Gegenstimme aus dem Gericht

Einer der 16 Bundesverfassungsrichter, Professor Reinhard Gaier, stimmte nicht zu und gab ein umfangreiches Sondervotum ab.(18) Sein zentrales Monitum lautete, dass der Plenarbeschluss im Ergebnis "die Wirkungen einer Verfassungsänderung" habe.(19) Gaier erinnerte an einige Etappen der bundesrepublikanischen Verfassungsgeschichte, die für den Bereich des Militärischen von besonderer Bedeutung waren: "Das Grundgesetz ist auch eine Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war." Die Bundesrepublik Deutschland sei 1949 als "Staat ohne Armee" entstanden. Eine Wende habe im Jahre 1956 die Einfügung der Wehrverfassung in das Grundgesetz gebracht. Eine zweite Zäsur sei die Einfügung der Notstandsverfassung in das Grundgesetz im Jahre 1968 gewesen. Damals sei der Einsatz des Militärs beim Katastrophennotstand und beim Inneren Notstand sehr restriktiv geregelt worden. Bei beiden Verfassungsänderungen habe der Gesetzgeber "nicht aus dem Blickverloren, dass der Einsatz von Streitkräften im Innern mit besonderen Gefahren für Demokratie und Freiheit verbunden ist und daher ebenso strikter wie klarer Begrenzung bedarf".(20) Die Verfassung ziehe, so Gaier, "aus historischen Erfahrungen die gebotenen Konsequenzen" und mache "den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens". Die 2006 vom Bundesverfassungsgericht getroffene Feststellung, dass auch im Katastrophennotstand der Einsatz militärischer Mittel ausgeschlossen sei, gelte für ihn bis heute. Wer dies ändern wolle, müsse sich die politischen Mehrheiten für eine Verfassungsänderung beschaffen.


Sind die Verfassungsrichter dem Militär in besonderer Weise verpflichtet?

Damit ist zugleich die Frage angesprochen, ob und gegebenenfalls wie die höchstrichterliche Entscheidung, in besonderen Ausnahmefällen den Einsatz der Bundeswehr im Innern rechtlich zu ermöglichen, überhaupt noch geändert werden kann. Erforderlich wäre eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Da jedoch voraussichtlich weder die Befürworter einer solchen Grundgesetzänderung noch ihre Gegner eine Zweidrittelmehrheit organisieren können, wird der Gerichtsentscheid vom 3. Juli 2012 vermutlich noch sehr lange Bestand haben.

Reinhard Gaier hatte schon an der Entscheidung von 2006 mitgewirkt. Von den damals beteiligten sechs Verfassungsrichtern war er der Einzige, der auch noch im Jahre 2012 amtierte. Die anderen waren ausgeschieden und hatten jüngeren Kollegen Platz gemacht. Das wirft die Frage auf: Gibt es eine neue Generation von Richterinnen und Richtern, für die der Zweite Weltkrieg und das 1949 geschaffene Grundgesetz mit seinem Friedensgebot eine weit zurückliegende Vergangenheit darstellen, die auch von der Friedensbewegung und den Massenprotesten gegen die Golfkriege wenig geprägt wurden und die sich, ähnlich den juristischen Eliten in der Zeit des ersten deutschen Nationalstaats, dem Staat und seinem Militär in besonderer Weise verpflichtet fühlen nach dem Motto: "Recht ist, was den Waffen nützt"?(21)


"... wir müssen uns auf einiges gefasst machen."

Mit der Entscheidung von 1994 hat das Bundesverfassungsgericht den Einsatz der deutschen Streitkräfte außerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen rechtlich abgesichert, und zwar mit der äußerst knappen "Mehrheit" von vier zu vier Stimmen. Mit ihrem "Out of Area-Urteil" machten die Richter seinerzeit der Weg frei für eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik.(22) Durch ihren Spruch wurde der Verteidigungsbegriff territorial entgrenzt und bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht. Nun konnte die Politik sogar ungestraft sagen, dass die Sicherheit Deutschlands "auch am Hindukusch" verteidigt werde (Verteidigungsminister Peter Struck, SPD, im Jahre 2002)(23) Die Folgen des Afghanistan-Krieges sind bekannt.(24) 1994 also machten die Bundesverfassungsrichter den Weg frei für den Einsatz der Bundeswehr im Ausland, 2012 öffneten sie die Tür für den Militäreinsatz im Innern. Wenn die Wirkungen des neuen Urteils so stark sein sollten wie die von 1994, dann können wir uns auf einiges gefasst machen.


Prof. Dr. Wolfram Wette ist Historiker und DFG-VK-Mitglied.


Anmerkungen

(1) Karlsruhe erlaubt Bundeswehreinsatz im Inland [nach Berichten von dpa/dapd]. In: Der Tagesspiegel 17. August 2012. Siehe:
http://www.tagesspiegel.de/politik/bundesverfassungsgericht-karlsruhe-erlaubt-bundeswehreinsatz-im-inland/7012358.html

(2) FAZ 18. August 2012, S. 1.

(3) Bundesverfassungsgericht, Pressestelle. Pressemitteilung Nr. 63/2012 vom 17. August 2012. Beschluss vom 3. Juli 2012 2 PBvU 1/11: Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgericht" zum Einsatz der Streitkräfte im Innern ("Luftsicherheitsgesetz").

(4) Bundesverfassungsgericht. Entscheidungen - 2 PBvU 1/11 vnm 3. Juli 2012. Text in:
http://www.bverfg.de/entscheidungen/up20120703_2pbvu000111.html

(5) Vgl. den Gastbeitrag: Bei derTrennung von Polizei und Militär soll es bleiben. Wolfram Wette kritisiert die Bestrebungen Schäubles, die Bundeswehr im Innern des Landes einzusetzen. In: Badische Zeitung, 11. Januar 2007, S. 4; ders., Militarisierung der Innenpolitik. In: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik. Kultur, Wirtschaft. 10. Jg., Nr. 2, 27. Januar 2007, S. 40-42.

(6) Juli Zeh: Die Richter, die Soldaten und die Angst. Karlsruhe hat den Einsatz der Bundeswehr im Innern erlaubt. Das Urteil bricht mit den Prinzipien der Verfassung - und macht das Land trotzdem nicht sicherer. In: Süddeutsche Zeitung 1./2.9.2012, S. 2.

(7) Kommentar von Heribert Prantl: Ein Katastrophen-Beschluss. Bundeswehreinsatz im Innern. In: Süddeutsche Zeitung vom 18./19.8.2012, S. 4.

(8) Christian Bommarius: Goggelmoggel in Karlsruhe. Bundeswehreinsatz im Inland. In: Frankfurter Rundschau 17. August 2012. Siehe auch:
http://www.fr-online.de/meinung/leitartikel-bundeswehreinsatz-im-inland-goggelmoggel-in-karlsruhe,1472602,16912208.html. Gleichlautender Artikel in: Berliner Zeitung, 18. August 2012. Siehe auch:
www.berliner-zeitung.de/meinung/10808020,10808020.html

(9) Heinrich Wefing: Historisches Urteil. Es ist nun nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen, dass deutsche Soldaten auf Bundesbürger schießen. In: Die Zeit Nr. 35, 23. August 2012, S. 1.

(10) Regierung streitet über Folgen von Verfassungsgerichtsurteil. In: Zeit-online 17. August 2012.

(11) Ebda.

(12) Ebda.

(13) Ebda.

(14) Ebda.

(15) Hinweise in Wolfram Wette: Der Feind in Innern. Soldaten als Polizisten? Die deutsche Geschichte zeigt, warum wir auch weiterhin gut daran tun, die Aufgaben der Polizei von denen des Militärs strikt zu trennen. In: Die Zeit Nr. 24, 5. Juni 2003, S. 76.

(16) Regierung streitet über Folgen von Verfassungsgerichtsurteil. In: Zeit-online 17. August 2012.

(17) Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006. BVerfGE 115, 118.

(18) Das Sondervotum wurde veröffentlicht als Bestandteil der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung. Siehe:
http://www.bverfg.de/entscheidungen/up20120703_2pbvu000111.html : Abweichende Meinung des Richters Gaier zum Plenumsbeschluss vom 3. Juli 2012 - 2 PBvU 1/11, 60-89.

(19) Ziff 61.

(20) Ziff 62.

(21) Vgl. Helmut Kramer/Wolfram Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Mit einem Geleitwort von Hans-Jochen Vogel. Berlin 2004.

(22) Da der Begriff Militarisierung gelegentlich kritisiert wird und eine Abwehrhaltung provoziert, sei hier angemerkt: Militarisierung meint keine Rückkehr zum historischen Militarismus der Zeit vor 1945, sondern den lapidaren Sachverhalt, dass die Bundeswehr als ein Instrument deutscher Außenpolitik angesehen und eingesetzt wird.

(23) Unter Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) erhielt die Bundeswehr im Mai 2003 neue Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR). Die Kernaussage dieser Richtlinien hatte Struck bereits am 4. Dezember 2002 am Beispiel des Afghanistan-Einsatzes erläutert: "Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt." Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Struck.

(24) Vgl. die kritische Bilanz nach neun Jahren in: Friedensgutachten 2010. Hrsg. von Christiane Fröhlich. Margret Johannsen, Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler. Münster 2010.

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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit
Nr. 34/35/36 - 2.-4. Quartal 2012, S. 3 - 6
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen)
mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2013