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STANDPUNKT/126: Wie glaubwürdig ist ein Pazifist, der nach dem Ostermarsch ein Schnitzel isst? (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 3 - August/September 2014
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Wie glaubwürdig ist ein Pazifist, der nach dem Ostermarsch ein Schnitzel isst?
Plädoyer für die Erweiterung des Verständnisses von Gewaltfreiheit auf alle leidensfähigen Lebewesen

Von Gerhard Siefert



"Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit" lautet ein elementarer Grundsatz unseres Verbandes. Ich frage mich schon seit langem: Ist Krieg ein Verbrechen nur an Menschen und nicht genauso an unserer Mitwelt, an den Tieren und der Natur? Leiden nur Menschen am Krieg? Und weiter: Wenn auf der Opferseite also die Menschheit ist, wer ist dann auf der Täterseite?

Sind es nicht seit eh und je wir Menschen selbst, die wir, aus welchen Gründen auch immer, übereinander herfallen und uns gegenseitig massakrieren? Wer oder was bringt uns Menschen eigentlich dazu, immer wieder Kriege vom Zaun zu brechen und mit Gewalt unsere Interessen durchzusetzen? Sind dafür nur die Rüstungsfabrikanten, die Waffenhändler, die Generäle, die Konzerne und Machtpolitiker verantwortlich? Wie ist es zu erklären, dass seit Jahrhunderten bei Pogromen auf der ganzen Welt unzählige Menschen an anderen Menschen ihre Mordlust auslebten? Dass 1914 Millionen von Deutschen begeistert in den Krieg aufbrachen und dabei von ihren Familien, ihren Frauen, ihren Freunden und Kindern freudig umjubelt wurden. Dass Millionen von Deutschen an den Massenmorden in den KZs und an der Ostfront beteiligt waren? Waren das alles nur Opfer, die manipuliert wurden und eigentlich gar nicht wussten, was sie da taten?

So notwendig der Kampf für die Abschaffung des Militärs, der Waffenproduktion und des Waffenhandels ist, dies allein reicht offensichtlich nicht. Wenn wir auch die Ursachen von Krieg und Gewalt beseitigen wollen, müssen wir Menschen uns selbst auch ändern. Wir müssen uns fragen, welche Eigenschaften es sind, die uns dazu bringen, gegebenenfalls Konflikte mit Gewalt zu lösen und unsere Interessen auch mit Gewalt durchzusetzen.

Es ist vor allem die Gier nach Macht und Besitz, die uns dazu bringt. Und diese Gier ist klassenübergreifend und nicht nur auf "die da oben" beschränkt. Das gleiche gilt für die uns alle mehr oder weniger innenwohnende Bereitschaft zum Töten. Sie wird oft nur soweit unterdrückt, wie es die äußeren Umstände gebieten. Nur Moral und Erziehung - und natürlich auch die Angst vor Bestrafung - dämmen diese Gewaltinstinkte. Dies ist ausreichend durch Forschungen von Neuro- und Sozialpsychologen belegt. Andererseits steckt in uns auch die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe und tief in unserem Inneren das Wissen, dass wir mit dem Töten eines Lebewesens ein Tabu brechen.

Jede und jeder von uns hat ihre/seine eigenen Motive für das pazifistische Engagement. Was uns aber allen zu eigen sein sollte, ist ein gemeinsames ethisches Fundament, unabhängig von Religion und Weltanschauung. Und dieses Fundament muss Gewaltfreiheit in allen Bereichen unseres Lebens umfassen. Auch in den Bereichen, wo wir "nur" indirekt an Gewalt beteiligt sind. Wir können nicht Gewalt in bestimmten Lebensbereichen ablehnen und sie in anderen gutheißen oder tolerieren, bloß weil wir davon profitieren.

Gewaltfrei leben und ernähren

Hier komme ich nun an einen Punkt, der mir schon seit vielen Jahren als Pazifist zu schaffen macht. Ich fragte mich, wie ich einerseits gegen militärische Gewalt und für friedliche Konfliktlösungen eintreten und andererseits die ungeheure Gewalt ignorieren kann, die fühlenden, schmerzempfindlichen Wesen, den Tieren, in unserer menschlichen Gesellschaft angetan wird. Wie glaubwürdig ist mein Engagement gegen Gewalt, wenn ich nach dem Ostermarsch eine Bratwurst vertilge oder ein Schnitzel esse?

Wenn wir wirklich gewaltfrei leben wollen, dann müssen wir uns auch gewaltfrei ernähren. Anders werden wir meiner Meinung nach nicht auf eine höhere ethische Ebene gelangen und vergeblich ein Ende militärischer Gewalt fordern. Denn das eine ist nicht vom anderen zu trennen.

Durch die Art und Weise, wie wir uns in den Industrieländern ernähren, sind wir an Gewalttätigkeiten ungeheuren Ausmaßes direkt und indirekt beteiligt. Wir verursachen damit noch mehr Leid und Tod als mit unseren Waffenexporten und Kriegseinsätzen. Soweit es das Schlachten betrifft: In allen Kriegen und Völkermorden unserer gesamten Geschichte wurden rund 619 Millionen Menschen getötet. Wir töten ungefähr die gleiche Anzahl von Tieren alle fünf Tage.

Wie kann ich als Pazifist, als ein Mensch, der Gewalt ablehnt, insbesondere auch gegenüber den Schwächeren, glaubwürdig sein, wenn ich zu dem massenhaften Töten von Tieren und zu deren grausamer Haltung schweige und mich sogar daran beteilige, indem ich davon profitiere? Lebewesen, die uns Menschen vollkommen unterlegen sind, ausgeliefert, von unserem Wohlwollen abhängig und mit denen wir deshalb im Grunde machen können, was wir wollen.

Mitgefühl, Nächstenliebe gelten, wenn es sich um Tiere, vor allem um Nutztiere handelt, wenig bis gar nicht. Dabei haben sie ganz wesentliche Interessen mit uns gemeinsam. Wie wir wollen sie ein gutes Leben, frei von Not und Leid, und sie fürchten wie wir den Tod. Seit Darwin und Konrad Lorenz wissen wir, dass unsere Gefühle auch die ihren sind, zumindest bei Säugetieren und Vögeln. Aber das hat uns Menschen bisher kaum interessiert. Unser Blick auf die Tiere ist v.a. ein utilitaristischer. Uns hat seit je am meisten interessiert, wozu wir Tiere für unsere Zwecke nutzen und ausbeuten können. Und heute werden sie in den Industrieländern massenhaft gezüchtet, gehalten und geschlachtet für unseren Gaumenkitzel. Wie grausam das alles von statten geht, ist inzwischen ausreichend dokumentiert. Nur: Die meisten Menschen wollen dies nicht so genau wissen.

Unsere Gier nach Fleisch und anderen tierlichen Produkten erzeugt auch eine ungeheure strukturelle Gewalt. 40 Prozent der weltweiten Getreide- und 90 der Sojaernte werden an unsere Nutztiere verfüttert, während rund eine Milliarde Menschen an Hunger leidet. Täglich sterben rund 50.000 Kinder an den Folgen des Hungers. Jean Ziegler, ehemals Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, hat das in seinem Buch "Wir lassen sie verhungern" deutlich dargestellt. Jedes Steak, schreibt er, das wir essen, ist ein Schlag in das Gesicht eines hungernden Kindes. Mit den Nahrungsmitteln, die wir für unseren Konsum an Fleisch und Milchprodukten an die Nutztiere verfüttern, könnte man noch weit mehr als zwei Milliarden Menschen sättigen.

Für den wachsenden Anbau dieser Futtermittel werden in Südamerika immer mehr Wälder abgeholzt und Savannen umgepflügt. Unzählige Arten gehen so verloren. Ebenso wird mit der indigenen Bevölkerung umgegangen. Sie wird vielerorts mit brutalen Mitteln vertrieben und ihres Lebensraums beraubt. Die dortigen Kleinbauern werden mit allen möglichen Mitteln genötigt, ihr Land aufzugeben, damit die Landbarone große Anbauflächen für ihren (Gen-)Sojaanbau zur Verfügung haben.

Mit diesen Futtermitteln wird, auch in Deutschland, ein wachsender Fleischüberschuss produziert, der u.a. hochsubventioniert nach Afrika exportiert wird und dort die lokalen Märkte zerstört und die Menschen in die Armut treibt.

Als Pazifist reicht es mir deshalb schon lange nicht mehr, ein friedliches und zivilisiertes Verhältnis der Menschen untereinander anzustreben. Es ist höchste Zeit, dass wir auch unser Verhältnis zu unseren Mitgeschöpfen und zur ganzen Natur zivilisieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine friedliche Welt erst dann möglich ist, wenn wir Menschen der Gewalt ganz entsagen.

Umfassender Zusamenhang

Leo Tolstoi hat es ganz drastisch ausgedrückt: "Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben."

Und von Bertha von Suttner hören wir: "Wer die Opfer nicht schreien hören, nicht zucken sehen kann, dem es aber, sobald er außer Seh- und Hörweite ist, gleichgültig ist, dass es schreit und zuckt - der hat wohl Nerven, aber - Herz hat er nicht." "Meiner Überzeugung nach wird auch einst die Zeit kommen, wo niemand sich wird mit Leichen ernähren wollen, wo niemand mehr sich zum Schlächterhandwerk bereit finden wird. Wie viele unter uns gibt es schon jetzt, die niemals Fleisch äßen, wenn sie selber das Messer in die Kehle der betreffenden Tiere stoßen müßten!" Mahatma Gandhi sagte: "Ich fühle zutiefst, dass geistiges Wachstum in einem gewissen Stadium uns 'gebietet, damit aufzuhören, unsere Mitgeschöpfe zur Befriedigung unserer leiblichen Bedürfnisse zu schlachten."

Es gibt in der Antikriegsbewegung eine Tradition, die den Kampf für Frieden und gegen Gewalt in diesem umfassenden Zusammenhang sieht und entsprechende Schlussfolgerungen gezogen hat. Vertreter dieser Tradition waren neben Bertha von Suttner besonders Clara Wichmann und Magnus Schwantje, die schon vor 100 Jahren gegen Gewalt in jeglicher Form eintraten, indem sie sich nicht nur gegen die Militarisierung der Gesellschaft, sondern auch gegen die Todesstrafe und für einen humanen Strafvollzug, für die Emanzipation der Frauen und eben auch gegen Gewalt an Tieren und für ihre Rechte einsetzten. Sie waren in ihrem Denken ihrer Zeit weit voraus.

Clara Wichmann, Juristin und Philosophin reichte es nicht, "Auswüchse" im Umgang mit Tieren anzuprangern. Sie wies auf das Unrecht des ganzen Systems hin, das darin bestand, dass ein lebendes, beseeltes Wesen zu menschlichen Zwecken gebraucht wird, aber nicht erkannt wird, dass es als fühlendes Lebewesen eigene Rechte hat.

Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.
Leo Tolstoi

Magnus Schwantje erkannte wie Clara Wichmann die inneren Zusammenhänge der verschiedenen Bereiche von gesellschaftlicher und individueller Gewalt. Der Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben, der durch Schweitzers Schriften verbreitet wurde, stammte ursprünglich von ihm.

Schwantje hatte 1912 den 5. Kongress der Deutschen Friedensgesellschaft eröffnet und vertrat den "Bund für radikale Ethik" im "Deutschen Friedenskartell", der Dachorganisation der deutschen Friedensbewegung. 1927 sprach er auf einem pazifistischen Kongress in Würzburg über Tierschlachtung und Krieg. Für Schwantje waren die Friedensbewegung, die Tierschutzbewegung, sowie der Einsatz für eine humane und soziale Gesellschaftsordnung, für Frauenrechte und Kinderschutz ebenso für eine Reform des Strafrechts und des Erziehungswesens "verwandte Bestrebungen".

Menschenmord und Tiermord waren für Schwantje zwei Seiten einer Medaille. Die Wurzel aller gesellschaftlichen Übel "sah er in der Gewöhnung des Menschen an Grausamkeit, an rücksichtsloser Durchsetzung egoistischer Bestrebungen auf Kosten schwächerer Lebewesen, wie sie insbesondere die Gewohnheit des Fleischessens zwangsläufig mit sich bringt. Denn da der Mensch ohne Fleischnahrung gut bzw. sogar besser leben kann als mit, widerspricht es allen ethischen Prinzipien, aus Genusssucht anderen Lebewesen die Leiden zuzufügen ohne die eben deren Fleisch nicht zu erlangen ist" (Renate Brucker).

Auf dem Kongress in Würzburg sagte Schwantje: "Es zeugt von einem erstaunlichen Mangel an psychologischer Einsicht, wenn man glaubt, daß Wir die 'Heiligkeit', die Unantastbarkeit des Menschenlebens zur allgemeinen Anerkennung bringen könnten, solange die Menschen täglich im Blut unschuldiger Tiere waten, um sich ein leicht entbehrliches Nahrungs- und Genussmittel zu verschaffen. Die Ehrfurcht vor dem Menschenleben kann nur erwachsen aus der Ehrfurcht vor dem Leben in jeder Gestalt."

Damals hatte Magnus Schwantje noch keine Ahnung von den Dimensionen des heutigen Fleischkonsums und den unvorstellbaren Leiden, die wir Menschen tagtäglich millionenfach den Tieren zufügen. Aber immer mehr Menschen erkennen heute, dass die Zeit reif ist, eine neue Stufe auf unserem Weg zum Humanismus zu betreten. Dass die Ausbeutung der Tiere bis hin zur Schlachtung ein Ende haben muss und dass Gewalt in allen ihren Formen erkannt und bekämpft werden muss. Dazu gehört auch, dass wir uns gewaltfrei ernähren.

Die Konsequenz wäre, dass wir Pazifisten mit gutem Beispiel anderen vorangehen und dass bei Veranstaltungen der DFG-VK nur noch fleisch- und wurstfreie Kost sowie eine attraktive vegane Alternative angeboten wird. Was nicht geht: dass bei antimilitaristischen Aktionen wie z.B. beim GelöbNIX 2013 tierliche Symbole verwendet werden, um den politischen Gegner zu diffamieren. Abgesehen davon, dass solche Beleidigungen sowieso fragwürdig sind, werden die Fakten verdreht. Denn es sind nicht Schweine, die Menschen abschlachten. Schlächter sind Menschen, die in Kriegen andere Menschen und für unsere Schnitzel und Wurst jeden Tag zigtausende Schweine abschlachten.


Gerhard Siefert ist seit Jahrzehnten DFG-VK-Mitglied und war bis zu seiner Pensionierung Lehrer. Er lebt in Lahr am Rand des Schwarzwaldes, hat in den 1980er Jahren die dortige Friedensbewegung mit aufgebaut und hat sich in den letzten Jahren zunehmend für Tierschutz und im Naturschutzbund Deutschland (Nabu) engagiert.

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 3 - August/September 2014, S. 24-26
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2014