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OFFENER BRIEF/073: Afrin - Friedensforscherinnen und Frauenrechtlerinnen fordern eine politische Lösung (Frauen für Afrin)


Kampagne "Frauen und Frauenorganisationen für Frieden in Afrin/Nordsyrien"
Pressemitteilung vom 23.02.2018

Offener Brief an die Bundesregierung:

Friedensforscherinnen und Frauenrechtlerinnen fordern eine politische Lösung statt der Duldung der militärischen Angriffe der Türkei auf die nordsyrische Region der Selbstorganisierung


Eine politische Lösung und Friedensverhandlungen, die Frauenvertreterinnen und Vertreter*innen der Selbstverwaltungsregion in Nordsyrien (DFNS) einbeziehen, werden in einer Stellungnahme gegen den Angriffskrieg auf Afrin gefordert. Diese Stellungnahme wurde von Friedensforscherinnen und Frauen sowie Frauenorganisationen, die sich für Frauenrechte engagieren, unterzeichnet und als offener Brief dem Kanzleramt sowie dem Außenministerium zugestellt. Sie wurde zudem als öffentliche Petition im Deutschen Bundestag eingereicht.

Die Stellungnahme steht als Initiative im Rahmen der am 21. Februar 2018 offiziell gegründeten Kampagne "Frauen und Frauenorganisationen für Frieden in Afrin/Nordsyrien".

Der offene Brief vertritt einen frauenpolitischen Standpunkt gegen den Angriff auf Afrin: "Hier wird versucht auszuradieren, was aufgrund des Beispielcharakters als bedrohlich verstanden wird: Das selbstorganisierte Zusammenleben verschiedener kultureller Gruppen und die verankerte, selbstbewusste Beteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen." Der gesellschaftliche Neuaufbau in Nordsyrien, der seit 2012 als Prozess demokratischer Selbstorganisierung stattfindet, wird als "vielversprechend" beschrieben. Ein Erfahrungsaustausch nicht zuletzt mit dem dort entwickelten Wissenschaftsansatz der Jineolojî wird gewünscht.

"Als Friedensforscherinnen und für Frauenrechte engagierte Frauen wissen wir, dass eine stärkere Geschlechtergleichheit und eine Vielfalt von Geschlechtervorstellungen, wie sie in der DFNS entstehen und verankert werden, sich deutlich auf das friedliche Zusammenleben innerhalb und zwischen Gesellschaften auswirken." Die Möglichkeit eines nachhaltigen Friedens in Syrien wird in der Stärkung der Geschlechtergerechtigkeit gesehen.

Zu den Unterzeichnerinnen zählen die weltweit agierende Organisation FriedensFrauen Weltweit - PeaceWomen Across the Globe (PWAG), Dr. Christine M. Klapeer (Geschlechterforschung, Universität Göttingen), Prof. Dr. Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Soziologie, Universität Gießen), Dr. Mechthild Exo (Hochschule Emden, Frauensprecherin Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung), Waltraud Bischoff von der Projektgruppe "Frauen wagen Frieden" und weitere Organisationen und Personen. Zudem tragen die Organisationen der neu gegründeten Frauenkampagne für Frieden in Afrin/Nordsyrien die Stellungnahme mit.

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Offener Brief an die Bundesregierung und öffentliche Petition an den Deutschen Bundestag:

Stellungnahme von Friedensforscherinnen und anderen für Frauenrechte engagierten Frauen zum Angriff auf Afrin/Nordsyrien

Der Krieg der Türkei in Nordsyrien, der nach der Erklärung von Staatspräsident Erdogan darauf zielt von Afrin (Efrîn) im Westen bis an die Grenze des Irak im Osten "alle Terroristen auszurotten", meint einen Angriff auf die dort seit 2012 bestehende demokratische Selbstverwaltung. Die demokratische Autonomie und Geschlechterbefreiung wurde unter dem Namen "Rojava" bekannt, vor allem nachdem Ende 2014 der IS erfolgreich aus Kobanî zurückgeschlagen wurde. An dem gesellschaftlichen Neuaufbau, der basisdemokratisch und kommunal organisiert wird, sind die vielen kulturellen Gruppen der Region beteiligt: neben Kurd*innen auch Assyrer*inne, Araber*innen, Ezid*innen, Turkmen*innen etc. Deshalb wurde der kurdische Name Rojava 2016 durch Demokratische Föderation Nordsyrien (DFNS) ersetzt. Die de facto autonome Region umfasst die drei Kantone Efrîn, Kobanê und Cizîrê.

Rojava bzw. die Demokratische Föderation Nordsyrien steht für eine aktive Beteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, für doppelte Führungsspitzen aus einer Frau und einem Mann in allen Ämtern, fortschrittliche Frauengesetze, ein von Frauen geschriebener Gesellschaftsvertrag, autonome Frauenstrukturen als parallele und eingebundene Strukturen, Frauenzentren, -beratungsstellen, - akademien, sogar ein Frauendorf. Die Jineolojî, eine Sozialwissenschaft vom Frauenstandpunkt aus, wurde verankert und hilft die Fragen des Neuaufbaus kooperativ zu beantworten. Im Oktober 2017 hat der erste Studiengang Jineolojî begonnen, im August wurde ein Jineolojî-Forschungszentrum in Efrîn und im September eines in Cizîrê eröffnet.

Als Friedensforscherinnen und engagierte Frauen*/Trans/Inter stellen wir uns gegen den Angriff der Türkei auf die nordsyrische Region der Selbstorganisierung. Dieser Angriff ist nicht nur völkerrechtswidrig. Hier wird versucht auszuradieren, was aufgrund des Beispielcharakters als bedrohlich verstanden wird: Das selbstorganisierte Zusammenleben verschiedener kultureller Gruppen und die verankerte, selbstbewusste Beteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Vernichtung der wertvollen Entwicklungen in der Region, mit der jetzt gedroht wird, zu dulden würde allen feministischen und an Frauenrechten orientierten Analysen und Ansätzen für Friedenspolitik widersprechen. Wir stellen uns gegen jede Form von Waffenlieferung und Kriegsunterstützung der deutschen Regierung an die Türkei.

In der Region drohen Massaker. Die deutsche Regierung, andere Staaten, die EU, die UN müssen sich deutlich gegen diesen Krieg aussprechen und für eine sofortige Einstellung der Angriffe einsetzen.

Statt der praktizierten Duldung dieses Krieges muss eine politische Lösung für Syrien unter Einbezug der Demokratischen Föderation Nordsyrien (DFNS) und insbesondere der Frauenvertreterinnen mit allen Mitteln vorangebracht werden.

Als Friedensforscherinnen und für Frauenrechte engagierte Frauen wissen wir, dass eine stärkere Geschlechtergleichheit und eine Vielfalt von Geschlechtervorstellungen, wie sie in der DFNS entstehen und verankert werden, sich deutlich auf das friedliche Zusammenleben innerhalb und zwischen Gesellschaften auswirken. In der DFNS wird vieles entwickelt, von dem wir gerne mehr lernen wollen. Wir als Friedensforscherinnen in Deutschland sind an einem solidarischen Austausch von Erfahrungen interessiert und dulden den Angriff auf diesen vielversprechenden Gesellschaftsaufbau nicht.

Unterzeichnerinnen:

  • FriedensFrauen Weltweit - PeaceWomen Across the Globe (PWAG)
  • Informationsbüro Nicaragua e.V., Wuppertal
  • Prof. Dr. Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Professur für Allgemeine Soziologie, Justus-Liebig-Universität Gießen
  • Dr. Christine M. Klapeer, Studienfach Geschlechterforschung, Fakultät für Sozialwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen
  • Ass. Prof. Nazan Üstündağ, Boğaziçi University, z.Z. Berlin
  • Dr. Mechthild Exo, Lehrkraft für Transkulturalität und internationale Entwicklungen, Hochschule Emden/Leer, Frauensprecherin der
  • Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK)
  • Dr. Ilina Fach, Marburg
  • Wiebke Lass, Gesellschaft für sozioökonomische Forschung (GSF)
  • Waltraud Bischoff, Projektgruppe "Frauen wagen Frieden"
  • Bele Grau, Köln
  • Ferdos Dini
  • Ramona Juretzka, Düsseldorf
  • Sowie die Initiatorinnen und Unterstützerinnen der Kampagne "Frauen und Frauenorganisationen für Frieden in Afrin/Nordsyrien":
    WJAR - Stiftung der freien Frau in Rojava
    Marche Mondiale des Femmes in Deutschlang (MMF)
    Dachverband des Ezidischen Frauenrates (SMJÊ)
    Frauen für Frieden e.V. Hessen
    Kurdisches Frauenbüro für Frieden Ceni e.V.
    (namentlich hier die Initiatorinnen)

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Frauenkampagne für Frieden in Afrin gegründet: Aufruf zum Handeln

Am Mittwoch, den 21. Februar 2018, wurde in Rüsselsheim die Kampagne "Frauen und Frauenorganisationen für Frieden in Afrin/Nordsyrien" gegründet.

Anlass dafür ist der Angriffskrieg des türkischen Militärs gegen Afrin, u.a. mit deutschen Leopard-2-Panzern, wozu die deutsche Regierung schweigt und sich damit zum Komplizen macht. Dieser militärische Angriff richtet sich gegen die demokratische Selbstverwaltungsregion in Nordsyrien, die dort lebenden Menschen und insbesondere auch gegen die aufgebauten Frauenstrukturen. In den letzten Jahren hatten hunderttausende arabische, ezidische, christliche und andere Geflüchtete dort Aufnahme gefunden. Die Kampagne setzt sich zum Ziel, die Kriegstreiberei in Syrien zu beenden und eine internationale Frauenlobby für Frieden aufzubauen. Damit soll der von Frauen stark geprägte Gesellschaftsaufbau in Nordsyrien, der frauenemanzipatorische Anliegen ins Zentrum stellt, geschützt und gestärkt werden.

Von der Bundesregierung fordert das neue Bündnis von Frauen und Frauenorganisationen "den völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei in Nordsyrien zu verurteilen und weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Genozid insbesondere durch die Luftbombardierungen von Wohngebieten zu verhindern" sowie "Waffenlieferungen an die Türkei sofort zu beenden". Außerdem wird frauenpolitisch die Beteiligung von Frauen an demokratisch repräsentierten Friedensverhandlungen gefordert sowie "einen nachhaltigen Frieden in der Region zu fördern durch die Stärkung von Fraueninitiativen im Friedensprozess und die Unterstützung der bestehenden Prozesse zu Geschlechtergerechtigkeit und die Aufhebung von Geschlechterstereotypen".

Die Kampagne wendet sich vor allem auch an Frauen in unterschiedlichen Zusammenhängen sowie an Frauenorganisationen und fordert diese auf, sich aktiv gegen den Krieg in Afrin einzusetzen. Für den Internationalen Frauentag, 8. März, wird vorgeschlagen, ein entsprechendes Zeichen mit dem Motto #WomenRiseupforAfrin sichtbar zu setzen.

Zu den Initiatorinnen und Unterstützerinnen der Kampagne gehören die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (KFD) des Bistums Trier, die Internationale feministische Aktionsbewegung Marche Mondiale des Femmes in Deutschland (MMF), der Verein "Frauen für Frieden e.V. Hessen", die Stiftung der freien Frau in Rojava (WJAR), der Dachverband des Êzidischen Frauenrats e.V. (SMJÊ), das Kurdische Frauenbüro für Frieden (Ceni e.V), die Landesarbeitsgemeinschaft der Frauennotrufe Rheinland-Pfalz, das "Frauenbündnis Rheinland-Pfalz", die Redaktion des Internet-Forums www.bzw-weiterdenken.de, Andrea Ypsilanti (Sprecherin des Instituts Solidarische Moderne, ISM), Prof. Dr. Dr. Frigga Haug (Institut für kritische Theorie) und weitere Unterstützerinnen.

Es wird gewünscht, dass sich weitere Einzelpersonen und Organisationen dem Kampagnenbündnis anschließen.

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Quelle:
Kampagne "Frauen und Frauenorganisationen für Frieden in Afrin/Nordsyrien"
E-Mail: frauenfuerafrin@mail.de
Internet: http://frauenfuerafrin.blogsport.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2018

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