Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → MEINUNGEN


OFFENER BRIEF/104: Gegen die atomare Aufrüstung Europas (IPPNW)


PPNW-Pressemitteilung vom 16.04.2020 Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland

Gegen die atomare Aufrüstung Europas


Mit einem offenen Brief haben sich die Ärzte-Organisationen IPPNW Schweiz und Deutschland, das Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Greenpeace, die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen ICAN, medico international sowie die Nuclear Free Future Foundation (NFFF) an Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Bitte gewandt, ihren politischen Einfluss gegen die nukleare Aufrüstung Europas einzusetzen. "Die Corona-Pandemie führt uns wieder einmal die Notwendigkeit einer Neugestaltung globaler Politik vor Augen", sagt Christian Weis, Geschäftsführer von medico international. "Ob Gesundheit, Klimawandel, Menschenrechte oder atomare Abrüstung: Die Welt steht vor drängenden Herausforderungen, die nur durch neue globale Kooperation angegangen und bewältigt werden können. Die Bundesregierung ist aufgefordert, hier neue Wege zu beschreiten."

"Nachdem bereits im vergangenen Jahr sowohl Russland als auch die USA den 1987 geschlossenen INF-Vertrag gekündigt haben, der den Vertragsparteien alle nuklear bestückbaren Mittelstreckenraketen verbietet, sehen wir mit großer Sorge, dass auch die in Deutschland stationierten Sprengköpfe durch neue, einsatzbereitere ausgetauscht werden sollen", betont Franz Moll, NFFF-Gründer und Vorstand. "Gleichzeitig will die Bundesregierung neue Kampfflugzeuge als Trägersysteme für diese US-Nuklearwaffen in Auftrag geben", kritisiert Christoph von Lieven von Greenpeace. "Damit wächst 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Gefahr eines Atomkrieges, der dann auch von deutschem Boden aus geführt werden soll."

In ihrem offenen Brief appellieren die beteiligten Organisationen an die Bundeskanzlerin, sich dafür einzusetzen, dass die Bundesregierung die Stationierung neuer Atomwaffen untersagt, keine neuen Trägersysteme für Atomwaffen beschafft und den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen von 2017 unterschreibt und ratifiziert. "Der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen ist ein Meilenstein in den weltweiten Abrüstungsbemühungen", unterstreicht ICAN-Direktorin Beatrice Fihn die Bedeutung des Atomwaffenverbotsvertrags. "Weil das Risiko größer geworden ist, dass Atomwaffen eingesetzt werden, muss die Bundesregierung die nukleare Abrüstung durch die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags weiter vorantreiben."

Die mit dem Friedensnobelpreis dafür ausgezeichnete Kampagne ICAN hat den Verbotsvertag bei den Vereinten Nationen maßgeblich mitinitiiert. 122 Staaten haben am 7. Juli 2017 für ihn gestimmt, 81 haben ihn inzwischen unterzeichnet, 36 ratifiziert - nicht jedoch Deutschland und auch kein anderer NATO-Staat. Deutschland könnte dem Vertrag beitreten und ihn ratifizieren, müsste dann aber dafür sorgen, dass die in Rheinland-Pfalz auf dem Fliegerhorst Büchel gelagerten US-amerikanischen Atombomben abgezogen werden. Die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands wäre davon nicht berührt.

Dr. Alex Rosen, einer der Mitbegründer von ICAN und Co-Vorsitzender der deutschen IPPNW sieht dringenden Handlungsbedarf auf Seiten der Bundesregierung: "Es kann nicht sein, dass Deutschland immer wieder von atomarer Abrüstung spricht, den wichtigsten völkerrechtlichen Baustein auf dem Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen boykottiert und an den Atombomben im eigenen Land festhält. Die Doktrin der atomaren Abschreckung, die auch Deutschland befolgt, ist nichts anderes als die Androhung eines atomaren Massenmords an der Zivilbevölkerung eines vermeintlichen Kriegsgegners. Diese Doktrin war schon im Kalten Krieg unmoralisch und falsch und ist es in der heutigen Welt umso mehr."

Doch Atomwaffen sind nicht nur eine Gefahr wenn sie eingesetzt werden: "Bereits der Abbau des Urans, dem notwendigen Rohstoff für nukleare Waffen, zerstört Natur und Umwelt großflächig und stellt eine massive Gefahr für dort arbeitende und lebende Menschen dar", ergänzt Olaf Bandt, Vorsitzender des BUND. "Der gefährliche Bergbau und die strahlenden Hinterlassenschaften haben weltweit zu zahlreichen Krebserkrankungen geführt."


Im Uranatlas, herausgegeben im September 2019 von BUND, Nuclear Free Future Foundation, IPPNW, Rosa Luxemburg Stiftung und Le Monde Diplomatique, finden Sie Hintergründe zu dem Thema unter:
www.nuclear-free.com/uranatlas.html

*

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Straße 1
10557 Berlin

Offener Brief
Gegen die atomare Aufrüstung Europas und für die Stärkung der UN-Friedensordnung

München, 16. April 2020

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

Wir befürchten, dass im Schatten der Corona-Pandemie andere existenzielle Themen in der internationalen Politik vernachlässigt werden. Neben Erderwärmung oder Artensterben gibt insbesondere die atomare Aufrüstung Anlass zur Sorge. Der Einsatz von Nuklearwaffen hätte katastrophale humanitäre und ökologische Auswirkungen. Bereits der Abbau des Urans, dem notwendigen Rohstoff für nukleare Waffen, zerstört die Natur und Umwelt großflächig und stellt eine massive Gefahr für dort arbeitende und lebende Menschen dar. Der gefährliche Bergbau und die strahlenden Hinterlassenschaften haben weltweit zu zahlreichen Krebserkrankungen geführt. Auch die Atombombentests vernichteten die Lebensgrundlage für Menschen, Tiere und Pflanzen und führten zu tausenden Strahlenopfern, wie heute noch die Tests auf dem Mururoa Atoll im Südpazifik zeigen. Wie das bedrohliche Virus kann diese Gefahr nur durch internationale Verständigung und gemeinschaftliches Handeln eingedämmt werden. Die Bundesregierung hat u.a. mit dem Vorschlag zum universellen Verzicht eines Ersteinsatzes bereits eine erste Initiative ergriffen.

Doch gerade jetzt besteht in Europa die Gefahr, dass auch durch Entscheidungen der Bundesregierung Fakten geschaffen werden, die einer echten Sicherheit durch atomare Abrüstung und international verbindliche Verträge zuwiderlaufen. In dreifacher Hinsicht sind wir direkt betroffen:

1) Die Nukleardoktrinen Russlands und der USA senken die Hemmschwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen auf unserem Kontinent. Die neu installierten "kleineren" Atomwaffen für einen "begrenzten Atomkrieg" sind besorgniserregend. Dies umso mehr, da ein atomarer Erstschlag vom NATO-Oberbefehlshaber (Tod Wolters) nicht mehr ausgeschlossen wird. Zwar sehen wir unmittelbar keine Anzeichen für eine Eskalation. Die fragile Beziehung und schlechte Verfassung der beiden Großmächte lassen jedoch keine sichere Prognose zu. Gewissheit besteht darin, dass sie im Ernstfall eine direkte Konfrontation meiden und Konflikte zu unseren Lasten austragen.

2) Die für dieses Szenario eingeplanten Sprengköpfe, darunter die im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Deutschland liegenden B 61 Atombomben, werden modernisiert. Sie sollen bereits in den kommenden Jahren in den Teilhabestaaten stationiert werden.

3) Die Bundesregierung will jetzt neue Kampfflugzeuge als Trägersysteme für diese US-Nuklearwaffen in Auftrag geben. Zugleich hat in den USA und in Russland die Entwicklung von Mittelstrecken-Trägersystemen begonnen, die keine ausreichende Vorwarnzeit erlauben, und die völkerrechtlichen Schranken (INF-Vertrag) wurden bereits gegen den europäischen Willen beseitigt.

Weitere Pfeiler der Rüstungskontrolle wanken. Der "New Start" Vertrag zur Begrenzung der strategischen Offensivwaffen steht vor dem Aus. Damit gäbe es zwischen den USA und Russland keine vertraglichen Verpflichtungen mehr zur Rüstungsbegrenzung. Selbst das "Open Skies" Abkommen zum gegenseitigen Überflug, welches der Vertrauensbildung dienen sollte, steht zur Disposition.

Frau Bundeskanzlerin, wir alle sehen, dass eine weltordnungspolitische Epoche, in der bestimmte Lager dominierten, zu Ende geht, und dürfen den Moment nicht verpassen, nun alle unsere Anstrengungen auf globale Kooperation zu konzentrieren. Nur so können wir dem Virus, der nuklearen Bedrohung und anderen globalen Herausforderungen erfolgreich begegnen. Wir wollen nicht, dass die internationale Ordnung unter dem Vorzeichen neuer Machtgefälle wieder dem Paradigma der Lagerspaltung untergeordnet wird. Alle können dabei nur verlieren.

Wir bitten Sie und fordern die Bundesregierung auf: die Stationierung neuer Atomwaffen zu untersagen, keine neuen Trägersysteme für Atomwaffen zu beschaffen und den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen von 2017 zu unterschreiben und zu ratifizieren. 122 Staaten haben für den Vertrag gestimmt, 81 haben ihn inzwischen unterzeichnet, 36 ratifiziert. Die Beispiele Griechenlands und Kanadas zeigen, dass die Beendigung der nuklearen Teilhabe möglich ist, ohne die NATO-Mitgliedschaft aufzugeben.

Nur eine atomwaffenfreie Welt ist zukunftsfähig. Deutschland muss hierzu die Friedensordnung der Vereinten Nationen stärken und weiterentwickeln, anstatt im Lager- und Aufrüstungsdenken zu verharren.

Wir bitten Sie, Ihren persönlichen und politischen Einfluss dafür zu nutzen.

Mit freundlichen Grüßen

Franz Moll
Gründer und Vorstand Nuclear Free Future Foundation

Beatrice Fihn
Direktorin ICAN

Olaf Bandt
Vorsitzender BUND

Martin Kaiser
Geschäftsführer Greenpeace

Dr. Alex Rosen
Vorstand IPPNW Deutschland

Christian Weis
Geschäftsführer medico international

Sascha Hach
Leiter Nuclear-Free Future Award

Johannes Mikeska
Geschäftsführender Vorstand ICAN Deutschland

Dr. Jean Jacques Fasnacht
Präsident PSR/IPPNW Schweiz

Matthias Eickhoff
Sprecher Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen


Den offenen Brief finden Sie zum Download unter:
nuclear-free.com/presse/NFFF_Offener_Brief_Merkel-04-2020.pdf

*

Quelle:
Pressemitteilung und offener Brief vom 16. April 2020
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel. 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang