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STANDPUNKT/055: Kosmos infernale - Tanz und Reigen... (Johann Galtung)


Wer treibt die Welt an? Das Unterbewußte(*)

von Johan Galtung - 30. Dezember 2013



Es handelt sich weder um eine einzelne Person noch um eine Gruppe von Personen, auch um kein einzelnes Land oder eine Gruppe von Ländern.

Aber sie können einem in die tiefsten Winkel ihres Bewußtseins eingeprägten Skript als Instrument dienen. Es sind keine bewußten Skripte, die man leicht abrufen kann. Jung nennt sie Archetypen, und sie äußern sich häufig in Form von Syndromen.

Stellen Sie sich vor, daß ein Akteur tief in Ihrem Inneren - Person, Geschlecht/Generation/Rasse/Klasse, Staat/Nation, Region/Zivilisation - für zwei Kräfte in der Welt programmiert wurde. Eine der Kräfte ist gut, die andere böse. Früher oder später wird eine letzte Schlacht um den Sieg der einen über die andere stattfinden: die Lösung.

Kurz gesagt das Dualismus/Manichäismus/Armageddon-Skript oder noch kürzer gefaßt DMA aus den Anfangs- und Endkapiteln der Bibel, das seit nunmehr fast 2000 Jahren das westliche Bewußtsein prägt. Vielleicht mit langfristigen Folgen?

Stellen Sie sich das alles angetrieben von dem entgegengesetzten Skript vor: Holismus - Holonen in vielen Abschnitten entlang zahlreicher Dimensionen - und Dialektik - Kraft und Gegenkraft in jedem der Holone - und Transzendenz, die darüber hinausführt zu einer neuen Dialektik, in eine neue Realität: die Lösung.

Kurz gesagt also Holismus/Dialektik/Transzendenz oder noch kürzer HDT - wie im Tao Te King, aber doch älter als Laotse -, seit Jahrtausenden eingeprägt in das chinesische Bewußtsein. Vielleicht mit langfristigen Folgen?

Es gibt jedoch einen Unterschied: DMA wurde durch das Christentum, den westlichen Säkularismus und das Staatssystem in den Osten exportiert, aber der Westen weiß ebenso wenig über die chinesische Denkweise wie über den Islam, zusammengenommen handelt es sich hier um über drei Milliarden Menschen. Vielleicht hätte das Gegenteil der Menschheit einen besseren Dienst erwiesen.

Diese Archetypen sind der Grundstein der Persönlichkeit, des Geschlechts- und Klassenunterbewußtseins, des Patriotismus/Nationalismus, des Regionalismus und der Zivilisation, der Menschheit: Die Kosmologie - Weltsicht - der tiefbegründeten Kultur, Struktur und Natur. So ist die Natur beschaffen, sagt man, das ist normal. Und andere nicken, da sie erfolgreich auf die gleiche Weise kodiert wurden. Sie stimmen zu, ohne daß sie sich überhaupt im klaren darüber sind, wem sie da eigentlich zustimmen.

Das Gegenmittel ist leichter gesagt als getan: mehr Bewußtsein bitte. Freud für die persönliche Ebene, Marx für die Klassen mit dem "falschen Bewußtsein", Jung für die ganze Menschheit. Sie sind Riesen, auf deren Schultern man stehen und die man auf jede Ebene verallgemeinern kann: mikro/meso/makro/mega.

Lassen Sie uns, das im Sinn, einige Schlußfolgerungen für das soziale Handeln im allgemeinen und für die Frage "Wer treibt die Welt an?" im besonderen ziehen.

Natürlich gibt es einen gewissen Raum für Rationalität, für die Ausrichtung der Mittel an den Zielen und für Versuch, Scheitern und erneuten Versuch. Aber woher kommen die Ziele? Das Ziel, sich mit dem eigenen Ziel gegen andere Ziele durchzusetzen oder das Ziel darüber hinaus zu gelangen auf eine Ebene, die beides oder mehr ermöglicht? Und woher stammen die Mittel? Aus dem Repertoire der Gewalt oder der gewaltfreien Suche nach etwas, das beides oder alles umfaßt? All das ist in den skriptgetriebenen Akteuren - sowohl bei HDT als auch bei DMA - im voraus angelegt, zusammen mit einer winzigen Spitze des Eisbergs an Rationalität. Das macht das Skript nicht irrational, doch der Rationalität der anderen wird manchmal die Stirn geboten.

So hat Jesus die DMA-Rationalität von Juden gegen Nichtjuden/Goyim zugunsten von Königreichen gebrochen, die mehr HDT sind. Aber DMA hat sich erholt und richtet sich gegen Juden, gegen Muslime/Hindus/Buddhisten/Heiden/Dissidenten, gegen alles, das nicht der Kirche angehört.

Marx nutzte DMA gegen DMA, die einzige Art von Kampf, die er beherrschte; und wie vorherzusehen war, wurde DMA dann gegen das Ergebnis eingesetzt. Freud war klüger, er wählte ein HDT des "Ich vs Es vs Überich", in dem keines über das oder die andere/n siegt. Die Praxis Jungs war weniger klar.

Und Gandhi? Das Kastensystem war als zu tiefgehender kultureller Struktur erstarrtes DMA über drei Jahrtausende hinweg durch die direkte Gewalt der Kshatriya geschützt und etwa 400 Jahre lang eingekapselt in ein Imperium. Sein Bewußtsein war übermenschlich, er stellte sich gegen das vertikale Kastensystem, auf die Seite der gewaltfreien Krieger und gegen das Imperium. Er war ein Genie, und dennoch erholte sich Indien und benutzte Ghandi gegen das Imperium, um das Kastensystem gegen englische Angriffe zu schützen. Es setzte sogar das Militär ein, um ihn zu bestatten. So, wie das Judentum das Christentum überlebt hat und jetzt fern von Palästina verwurzelt ist, geht Gandhis Saat außerhalb Indiens auf.

Die Skripte sind stark. Zwei US-Professoren offenbaren in der INYT (10. Dezember 2013) ihren Status als DMA-Sklaven. Sie feiern Machiavellis Realismus, weil sie das Problem zwischen Gut und Böse, Tugend und Sünde ansiedeln und aus ihrer Sicht Böse/Sünde mit in die Staatskunst gehört. Könnte es sein, daß alle drei vorprogrammiert waren? Das am meisten DMA-getriebene Land der Welt, die USA, ist voller guter, tugendhafter Menschen. Aber es gibt überreichlich DMA und zu wenig HDT. Es ist darin geübt, Übeltäter zu erkennen und zu vernichten (Powell, 9/11), aber nicht geschickt darin, mit anderen auf gleicher Ebene nach Lösungen zu suchen. Das Ergebnis ist: Selbstmord in Zwangslagen, Mord bei Meinungsverschiedenheiten, Krieg im Konfliktfall.

Und Hitler? Ein DMA-Extremist, ein Ausdruck des deutschen DMA-Extremismus, der vor 100 Jahren durch den DMA-Extremismus der Alliierten im Krieg besiegt wurde, um den Krieg am Leben zu halten, was zur dritten DMA-Runde in nur 75 Jahren führte. DMA brütet DMA aus, HDT brütet HDT aus. Ihre Begegnung ist problematisch angesichts der auf Verliererkurs befindlichen, DMA-getriebenen USA, des zweifelnden Westens, des Islam, der nach HDT-Ummah außerhalb des staatlichen Systems sucht und Chinas auf der Suche nach einer HDT-Weltharmonie.

Eichmann hatte DMA Loyalität bis zum äußersten geschworen und war zusammen mit Hitler nicht schuldig, einem Skript gefolgt zu sein - das tun wir alle -, sondern es unbewußt und unter Akzeptanz der Folgen getan zu haben. Es war Unterlassung und nicht nur Handeln auf Befehl. Das hatten sie gemein mit den meisten Deutschen, Japanern und den Alliierten zu der Zeit.

Auf diese Weise gehen Irrsinn, Verbrechen und die Irrationalität der Gewalt ungebrochen weiter. Alternativen werden kaum verstanden oder nicht erkundet. Reue und Entschuldigung/Vergebung für vergangene Sünden taugen nichts. Man muß ergründen, was hätte geschehen können, alternative Geschichte: Wie hätten der 1. und der 2. Weltkrieg verhindert werden können!

Und Breivik? Wie Hitler/Churchill/Stalin/Tojo/Roosevelt ins Extrem getriebenes DMA. Tiefgreifende Konfliktpolarisierung führte dazu, daß er den "Feind im Inneren" erkannte und eine individuelle Berufung spürte, etwas zu tun und sogar Massenmord beging in der - vergeblichen - Hoffnung, die allgemeine norwegische DMA anzustacheln. Das norwegische Gericht war allerdings blind gegenüber der Konfliktpolarisierung als Antrieb für das Skript.

Möge 2014 zu mehr Bewußtsein für die Gefahren und sogar Verbrechen der pathologischen DMA führen und zu gemeinsamen Erkundungen der Potentiale der HDT.


(*) Aus: "A Theory of Civilization", TRANSCEND University Press - TUP, Neuerscheinung im Frühjahr 2014, danach erscheint "Deep Culture, Deep Structure, Deep Nature".


Anmerkungen der SB-Redaktion:

Dichotomie: Neigung, die Welt in zwei scharf umrissene Teile zu trennen, die minimum subdivisio (wie "der Westen und der Rest") [siehe "A Theory of Civilization", https://www.transcend.org/tup/index.php?book=22]

Manichäismus: Konzept, daß der eine Teil nur gut und der andere nur schlecht ist; kämpft um Gefolgschaft [ebd.]

Armageddon: heißt diesen Kampf als unversöhnlich zu sehen, der mit dem Triumph des Guten oder des Bösen endet, deshalb sollte man das Gute besser stark machen [ebd.]

Kshatriya: Die Kriegerkaste, der zweite Stand im indischen Kastensystem

INYT: International New York Times

Ummah: kommt aus dem Arabischen und bezeichnet im allgemeinen die Gemeinschaft der Menschen islamischen Glaubens

Tojo: Hideki Tojo, General der japanischen Armee und Premier Japans während des II. Weltkriegs


URL des englischen Originals:
http://www.galtung-institut.de/home/johan-galtung/

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Quelle:
© 2013 Johan Galtung
TRANSCEND Media Service
mit freundlicher Genehmigung des Autors
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2013