Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → MEINUNGEN


STANDPUNKT/432: Ein Italiener im Ausland zu Zeiten des Coronavirus (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Ein Italiener im Ausland zu Zeiten des Coronavirus

Von Gerardo Femina, 11. März 2020


Die Dringlichkeit des Augenblicks besteht zweifellos darin, wie diese Epidemie gestoppt oder zumindest verlangsamt werden kann, und es ist sicherlich nicht die Zeit, um sich auf unangenehme Kontroversen oder sekundäre Themen zu konzentrieren. Aber es ist unmöglich, den Tumult der Gedanken und Beobachtungen zu stoppen, der in dieser Situation entsteht.

Ich lebe in der Tschechischen Republik und reise viel, und es ist überhaupt nicht angenehm, als Virus gesehen zu werden. Es ist überhaupt nicht angenehm, das Flugzeug mit der Sorge zu nehmen, am Ankunftsflughafen abgewiesen oder in Quarantäne gesetzt zu werden, nur weil man Italiener ist. Es ist nicht angenehm, an einer Schule vorbeizugehen und ein großes Schild zu lesen, auf dem jeder, der in Italien gewesen ist, aufgefordert wird, sich mit den Behörden in Verbindung zu setzen. Kurz gesagt, sie behandeln mich, einen zivilisierten und kultivierten Italiener, wie einen Chinesen oder einen Afrikaner! Dinge, die man noch nie zuvor gesehen hat! Es gibt keinen Respekt mehr!

Ich sagte mir, dass von 60 Millionen Italienern nur 2.000 infiziert sind. Wie können sie mich als Virus sehen? Ich bin Gerardo und nicht einer von vielen Italienern! Aber dann verstehe ich, dass sie Angst haben und den möglichen Seuchenüberträger, den äußeren Feind, gegen den sie sich verteidigen müssen, identifizieren müssen. Genauso wie wir Italiener die Chinesen und Asiaten im Allgemeinen behandeln. Ganz zu schweigen davon, wie wir jenseits des Coronavirus über die Einwanderer denken. Der andere, der Chinese oder der Einwanderer, ist nicht mehr eine konkrete Person mit einem Namen, sondern das anonyme Mitglied einer gefährlichen Gruppe, und als Teil dieser Gruppe ist er selbst gefährlich. Aber jetzt bin ich es, der Italiener, ein Element eines gefährlichen Ganzen! All dies war mir schon vorher klar, aber es auf der eigenen Haut zu erleben, ist etwas anderes.

Es stimmt, dass ich als Italiener mehr Glück habe als andere. Ich kann hoffen, dass ich nicht leicht zu erkennen bin, vor allem wenn ich in der Straßenbahn huste. Man kann mich verwechseln, sicher nicht mit einem Norweger, aber mit einem Spanier oder einem Franzosen. Aber welche Chance hat ein in Italien lebender Schwarzer, dass sie nicht herausfinden, zu welcher gefährlichen Gruppe er gehört?

Wie arrogant wir Italiener sind, wie eingebildet! Das Gefühl, dass wir zu den zivilisiertesten Menschen der Welt gehören, und von der Spitze unserer Position aus andere Zivilisationen beurteilen, die wir nicht einmal kennen. Aber wir lernen, dass sich die Dinge in sehr kurzer Zeit ändern können und dass das Sein und Fühlen auf einer Seite der Barrikade nur ein Standpunkt oder eine Frage der Zeit ist. Die Dinge ändern sich schnell, und wie uns die Tarotkarte "Das Rad des Schicksals" lehrt, könnten sich diejenigen, die sich heute als Gewinner fühlen, morgen schon innerhalb weniger Tage im Meer des Unglücks wiederfinden.

Bevor ich über eine andere Person urteile, vielleicht über einen Italiener, der in der Wohnung nebenan wohnt, oder über eine Person mit mandelförmigen Augen oder schwarzer Haut, bevor ich sie isoliere und als anonymes Element eines Ganzen sehe, sollte ich für einen Moment in Erwägung ziehen, dass diese Person ich sein könnte ...

Möge dieser verdammte Virus uns dazu dienen, Intelligenz, Solidarität und andere wesentliche Eigenschaften zu wecken, die alle nützlich sind, um sich innerlich nicht so arm zu fühlen!


Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Anne Schillinger dem ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

*

Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang