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STANDPUNKT/502: Eine Zeitenwende für die Welt? (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Eine Zeitenwende für die Welt?

von Günter Buhlke, 22. Dezember 2022


Der Jahreswechsel richtet unsere Gedanken wieder stärker auf die Zukunft der Familien. Die Hoffnungen richten sich auf Gesundheit, Frieden und Wohlergehen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sprach auf der letzten Generalversammlung der UNO von einer Zeitenwende, ohne jedoch näher zu erklären, wohin die Reise für Deutschland und für die Menschheit nach seiner Auffassung geht.

Wieder hin zu den Verhältnissen der 30/40-ziger Jahren des 20. Jahrhunderts? Damals gestaltete eine rechte faschistische Bewegung in Italien, Deutschland, Spanien, Japan, Rumänien und der Baltenländer die Welt nach ihrem Verständnis. (W. Abendroth, E. Nolte "Theorien über den Faschismus").

Die Bewegung stellte sich damals in Deutschland als Interessenvertreter des Mittelstandes und der Arbeitermassen gegen die Auswüchse des Monopolkapitals dar. Ersichtlich schon aus ihrem Namen als Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, kurz Nazi. Sie genoss das Wohlwollen der national denkenden Großen der Gesellschaft. Ihr Verständnis ließ die massenhafte Ermordung von Menschen mit jüdischem Glauben zu. Die Bewegung trieb bekanntlich die Länder der Welt in den 2. Weltkrieg.

Oder dachte der Kanzler etwa in Richtung einer künftigen Gesellschaftsordnung, die Angesichts der Tragödien der Kriege und des Antisemitismus eine humane Gesellschaft dauerhaft etablieren will? Der Krieg in der Ukraine hat viele aufgeschreckt. Zu zerstörerisch sind die Waffensysteme geworden. Gleichzeitig droht der Klimawandel den Planeten für Menschen unbewohnbar zu machen, wie es Stéphane Hessel in einer Streitschrift ("Empört Euch", Ullstein) ausdrückte. Er blieb nicht bei der Beschreibung stehen. Hessel beklagte Abgeordnete und Politiker, die wirksame Veränderungen nicht vornehmen.

Der Kanzler schweigt, was er unter der Zeitenwende in seiner Rede versteht.

Die Gleichheit, Brüderlichkeit und der Frieden sind als gesellschaftliche Zielmarken der Zukunft von der CDU, FDP, SPD und den Grünen abgeschafft.

Am 8. Dezember 2022 eröffnete das Deutsche Historische Museum in Berlin eine Ausstellung über 14 geschichtliche Kipppunkte, die zum tiefem Nachdenken anregt, wenn historisch andere Wege beschritten worden wären! Beispielsweise: "Was wäre passiert, wenn zur Beendigung des 2. Weltkrieges die erste Atombombe über Deutschland abgeworfen worden wäre?". Ein anderes Szenario für die Besucher der Ausstellung: "Am 13. August 1961 standen sich in Berlin am Checkpoint Charlie ein amerikanischer und ein russischer Panzer nur wenige Meter gegenüber". Dank vernunftbegabter Politiker in Washington und Moskau blieb der Frieden erhalten. Auf Präsident Kennedy soll der Ausspruch zurück gehen: "Ich habe lieber einen kommunistischen lebenden Sohn, als einen toten".

Eine Geisteshaltung, die im 2. Weltkrieg trotz ideologischer Gegensätze die Antihitlerkoalition zwischen den USA, Russland (UdSSR) und Großbritannien zuließ. Die Koalition entwickelte die Kraft, den Faschismus in Deutschland und Japan zu besiegen. Die Truman-Doktrin von 1947 zerbrach die humane Zusammenarbeit mit ihrer Kernthese "den Sozialismus aufhalten und zurückdrängen". Sie gab den Startschuss für den Kalten Krieg, der noch nicht am Ende zu sein scheint, wenn man die aktuellen Frontstellungen in der Ukraine betrachtet oder die Abschlusspapiere der letzten Monate von G7- und NATO-Tagungen liest.

Rechte bis hin zu faschistoiden Bewegungen sind nach dem 2. Weltkrieg keinesfalls aus der Welt verschwunden. In Lateinamerika haben sie es zu Regierungen geschafft (Chile, Brasilien, Argentinien, Paraguay u.a.), die von den USA toleriert wurden. In den USA gab es Extremhandlungen, beispielsweise die Apartheid-Politik, den Watergate-Skandal, die Ermordung Kennedys bis zum Regierungswechsel von Trump, die Spuren hinterlassen haben. Eine wechselvolle Demokratie führt zum Nachdenken ("Unverkürzte Demokratie", Cristina Lafont, Suhrkamp,2021).

Die Weltgemeinschaft steht gegenwärtig an einer neuen Wegkreuzung bzw. einem Kipppunkt. Der Krieg in der Ukraine hat alle Merkmale, um einen 3. Weltkrieg auszulösen.

Die Kraft die Tragödie aufzuhalten und andere Wegrichtungen einzuschlagen, haben die vier Weltmächte USA, EU, sowie China und Russland im Verbund mit dem Weltsicherheitsrat der UNO. Sie verfügen über die notwendige Autorität, einen Weg der Entspannung vorzuzeichnen. Jeder von ihnen erklärt öffentlich, den Willen zum Frieden zu haben. Sie finden jedoch noch nicht die vertraglichen bindenden Details.

Grundlagen zur Beendigung des 2. Weltkrieges schuf die Antihitlerkoalition, die gemeinsam Wege fand, die zerstörerische faschistische Bewegungen Deutschlands und Japans zu besiegen. Die humane Vernunft hatte einen Sieg errungen.

Gegenwärtig könnte China als neue Großmacht zur Lösung des Ukraine-Konflikts beitragen, nicht nur als Mitglied des Sicherheitsrates. Das Land hat es geschafft, sich im Wesentlichen aus eigener Kraft von einem Entwicklungsland zu seiner aktuellen Größe empor zu arbeiten. Der Anschluss an die Wirtschaftsleistung der USA wurde erreicht, mit vergleichbar minimalen Staatsschulden.

Die USA hat ihre Entwicklung seit Jahren mit hohen Schulden finanziert und verbucht aktuell etwa 31 Billionen USD Staatsschulden mit einer Schuldenquote von 136 %. Die EU hat ihre in der Verfassung festgelegte Normquote von 65 % überschritten und liegt bei 78 %. Die VR-China ist Gläubiger der USA-Schulden und verbucht jährlich Exportüberschüsse. Mit der Öffnung des Marktes bot China dem westlichen System einen boomenden Markt mit 1,3 Mrd. Menschen und eigene Produktionsstätten in Chinas Sonderzonen. Voraussetzung war die Anerkennung der Gesetze des Landes, wie es international üblich ist. Chinas Volkswirtschaft hat die Erfahrungen der Planwirtschaften der sozialistischen Länder und Elemente der kapitalistischen Betriebswirtschaft genutzt. Genossenschaften und staatliches Eigentum (eiserne Reisschüsseln) waren zusammen mit dem privaten Eigentum an Produktionsmittel und gemischte Kapitalverhältnisse die Voraussetzungen für die erfolgreiche Entwicklung. Die Genossenschaft Huawei gehört zu den größten privaten Unternehmen in China. Nicht zu unterschätzen ist die staatliche, bilanzierte Planung der großen Bereiche (u.a. in Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Sicherheit, Verkehr, Wohnungswesen, Kultur) verbunden mit der partizipativen Demokratie der Parlamente des Landes.

Die Führungskonzepte Chinas unterscheiden sich von den der westlichen Ordnung in einigen Punkten: Die These der USA, dass es im Wettbewerb nur einen alleinigen Sieger geben kann, ist zweifelhaft. Im Sport gewinnen alle, die ihre bisherigen Bestleistungen überbieten. Natürlich gebührt der oder den Besten eine Trophäe. Im Wettbewerb der Gesellschaftssysteme gibt es keine einheitliche Zielmarke. Das lassen die unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsetappen der Länder nicht zu. Der Wettbewerb der Länder hat keine vergleichbare faire Grundlage (Rohstoffe, Folgen des Kolonialismus, traditionelles Lohnniveau, Steueraufkommen, Gewährung von Fördermittel, Subventionen, Zölle u.ä.). Im wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Ländern geht es nicht um einen Sieger, der Stärkster der Welt wird, sondern darum, die Lebensgrundlagen für seine Bevölkerung aus eigener Kraft zu verbessern.

Vielleicht wäre das ein Weg für die Zeitenwende, die der Bundeskanzler im Blick haben könnte. Das erfordert aber konkrete Beschlüsse des deutschen Parlaments und der Regierung.

Die VR-China pflegt im öffentlichen Umgang mit anderen Staaten einen achtungsvollen Sprachgebrauch, trotz historisch erlittener Leiden. Die Nordamerikaner haben einst England mit militärischen Marineeinheiten unterstützt, damit China seine Grenzen für den Opiumhandel öffnet. Damit nicht genug. Die USA unterstützten im chinesischen Bürgerkrieg Tschiang Kai Scheck, der auf die Insel flüchtete, mit Waffen und Munition und erklärten sich zur Schutzmacht. Ein Verhältnis, dass bis zur Gegenwart besteht. Die Vereinbarung erlaubt, dass amerikanische Flugzeugträger nahe der Insel kreuzen und ihre militärischen Muskeln spielen lassen. Eine Insel, halb so groß wie Bayern, die chinesisches Staatsterritorium ist.

Im Gegensatz zu Russland, der EU und den USA ist die VR-China nicht im Krieg in der Ukraine mit Waffentechniken und Finanzhilfen verwickelt. Das Land verfolgt auch keine öffentliche mediale Feindpolitik gegenüber dem Westen. Es bietet sein Konzept der friedlichen Koexistenz zum gegenseitigen Nutzen und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen an.

Seine aktive Mitarbeit zur Lösung des Konflikts in der Ukraine könnte Friedens-Impulse auslösen.

Die von der EU und den USA forcierten Menschenrechtsvorwürfe sollten keine Hindernisse sein. Zu hoch ist die Zahl der Verletzungen der Menschenrechte in den USA und der EU. Eine internationale Konferenz zu diesem Thema ist längst überfällig. In diesem Sinne ist der Beitrag vom 17.12.2022 in der Berliner Zeitung von Klaus Bachmann "Warum akzeptieren wir Tote im Meer?" [1] aufschlussreich.


Der Autor Günter Buhlke ex. Vorstand einer Berliner Wohngenossenschaft, ex. Direktor beim Schweizer Kaufmannsverband beschreibt in seinem neuen Buch "Hat die Welt eine Zukunft?" Verlag am Park, ISBN 978-3-947094-79-0 (Verlag am Park, 194 S.) Alternativen für eine humane Welt.


Anmerkung:
[1] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/wunderbare-deutsche-doppelmoral-katar-akzeptiert-tote-am-bau-wir-tote-im-meer-li.293202


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 24. Dezember 2022

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