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STELLUNGNAHME/135: Gefahrenanalyse im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz (Jürgen Heiducoff)


Gefahrenanalyse im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz

Von Jürgen Heiducoff, 7. Februar 2020
Huadin, Provinz Jilin, Volksrepublik China


Die Münchner Sicherheitskonferenz ist weltweit das führende Forum für Debatten zu den drängendsten internationalen Sicherheitsrisiken und Gefahren.

Das 21. Jahrhundert eröffnet uns nicht nur nie da gewesene Potenzen, sondern birgt gleichzeitig auch neue Risiken für unsere Menschen in sich.

Anzahl, Brutalität und Hinterlist der Kriege auf unserem Erdball wachsen. Diese Kriege "brechen nicht aus" wie ein Naturereignis, sondern werden auch durch eine interessenorientierte Politik des Westens provoziert und befeuert. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Welle der Gewalt auch gegen uns richtet.

Eine aktuelle Gefahr könnte derzeit von der durch den Aufmarsch im Rahmen der Übung "Defender Europe 2020" gegen die Russische Föderation provozierten militärischen Konfrontation ausgehen. Die gewollte Zurschaustellung von Fähigkeiten der NATO-Streitkräfte kann leicht zu einer militärischen Gegenwirkung führen. Es ist m.E. unverantwortlich, weiterhin blind auf eine deeskalierende Wirkung der Abschreckung zu setzen.

Eine andere Gefahr unserer globalisierten und auf Wachstum ausgerichteten Zivilisation resultiert aus deren Anfälligkeit gegen neuartige Viren. Dies zeigt die Coronaepidemie, die leicht zu einer Pandemie werden kann. Sie hat die Potenz, großen volkswirtschaftlichen Schaden anzurichten und eine gesellschaftliche Krise auszulösen.

Diese beiden ausgewählten Gefährdungen widerspiegeln sich m.E. nur unzureichend in einer präventiven und verantwortungsvollen Politik des Westens.

Ob die bevorstehende Münchner Sicherheitskonferenz diese Gefahren behandeln wird?

In Wissenschaft und Medizin hingegen werden große Anstrengungen unternommen, um auf die Folgen des möglichen Einsatzes von Waffengewalt und auf andere Gefahren und Angriffe vorbereitet zu sein. Dies zeugt von Verantwortung vor allem gegenüber Nichtkombattanten in möglichen Gewalt- und Gefahrenszenarien.

Hier zwei Beispiele für das Engagement in Wissenschaft und Medizin:

Erstes Beispiel aus der Medizin:

Die Gefäßgesellschaft West führt am 7. und 8. Februar 2020 ein Gefäßsymposium im Congess Center Oberhausen durch. Hintergrund sind mögliche Szenarien nach Anschlägen oder anderen Gewalteinwirkungen. 1)

Prof. Dr. Achim Mumme, Leiter der Gefäßchirurgie des Katholischen Klinikums der Ruhr-Universität Bochum sagt: "Wir haben hier eine der größten Gefäßchirurgien des Landes, aber wenn es zu einem Massenanfall von Schuss- oder Explosionsverletzungen käme, wären wir hilflos". 2) Krieg ist eben blutig! Zum Symposium sind Spezialisten der Bundeswehr eingeladen, die von ihrer Erfahrung in Kriegsgebieten berichten und neue Techniken vermitteln werden, so Dr. Mumme. Mit Schuss- oder Explosionswunden hätten die Kliniken hierzulande nur wenig zu tun. Verletzte Gliedmaßen würden abgebunden, um ein Verbluten zu verhindern. Aber dadurch wird der verletzte Körperteil komplett von der Durchblutung abgeschnitten und stirbt irgendwann ab. Nach allerhöchstens sechs Stunden ist Schluss: "Dann muss man amputieren", unterstreicht der Mediziner. "Wenn mehrere so erstversorgte Patienten zeitgleich in die Klinik eingeliefert werden, können wir vielleicht nur einem sein Bein retten."

Die Bundeswehr in Krisengebieten verfügt über neue Methoden und Techniken, um mit dem massenhaften Anfall solcher Verletzungen fertig zu werden. Hier greifen die Spezialisten beispielsweise auf spezielle Gefäßumleitungen zurück, sogenannte Shunts. Diese verschaffen den Helfern ausreichend Zeit, um verletzte Soldatinnen und Soldaten zum Beispiel aus Afghanistan nach Deutschland in Bundeswehrkliniken zu fliegen und dort zu operieren. "Diese neuen Möglichkeiten sind äußerst hilfreich, aber man muss ihre Anwendung lernen", so Achim Mumme weiter.

Zweites Beispiel aus der Biowissenschaft und der Virenforschung:

Ich erlebe vor Ort und an der gesellschaftlichen Basis der Volksrepublik China die Wirkung der Coronaepidemie. Natürlich haben die Leute Angst, infiziert zu werden. Zu wenig ist bekannt über Herkunft, Ausbreitung und Folgen des neuen Virus. Die Verunsicherung wird verdrängt durch diszipliniertes Befolgen der öffentlichen Empfehlungen. Die Menschen tragen die Verluste durch eingeschränkte Bewegungsfreiheit, geschlossene Betriebe und verteuerte Versorgung mit Würde. Mir ist kein Beispiel bekannt, dass die entstandene Lage das Vertrauen in den Staat untergräbt. Wie wenig liest man darüber im deutschen Blätterwald. Schadenfreude und sogar rassistische Bemerkungen verunglimpfen das fleißige Volk im Osten.

In dieser Lage der Verunsicherung kommen auch Gerüchte und Schuldzuweisungen auf. Aber es wird auf verschiedene Forschungsvorhaben in den Biowissenschaften und auf eine Diskussion über die Grundlagen und Grenzen missbrauchsgefährdeter Forschung zurück gegriffen. Da sowohl die innerwissenschaftliche als auch die sonstige internationale sicherheitspolitische und gesellschaftliche Debatte weiter kontrovers geführt wurde, hat ein interdisziplinäres Symposium bereits am 3. Juli 2014 in Freiburg die Beziehung von Forschungsfreiheit zu Fortschritt und Verantwortung in den Biowissenschaften weiter beleuchtet. Im Fokus standen Grundlagen und Grenzen von besorgniserregender missbrauchsgefährdeter Forschung, sog. "Dual-Use-Research of Concern". Gerade diese biowissenschaftliche Forschung steht in dem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Nutzen, dem Risiko des Missbrauchs wissenschaftlicher Erkenntnis und internationalen, europäischen und nationalen rechtlichen Vorgaben und Regulierungsversuchen wie insbesondere der B-Waffenkonvention.

In dem Symposium wurden durch verschiedene Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft und Praxis im interdisziplinären Austausch Ansätze zur Lösung dieses Spannungsfeldes erarbeitet. Diese sollen sowohl der Forschungsfreiheit als auch der Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung durch die Vorbeugung von Missbrauch für B-Waffen gerecht werden. 3)

Wem kann man verübeln, wenn angesichts der Unklarheit über den Ursprung des Coronavirus gerade in einem der am dichtesten besiedelten Regionen Chinas unbegründete Verdachtsmomente aufkommen? Die Motiv- und Interessenlage trägt ihren Anteil zusätzlich.


Anmerkungen:

1) https://www.gg-west.de/de/Gefaesssymposium/Programm/
2) http://idw-online.de
3) https://bundesstiftung-friedensforschung.de/blog/das-missbrauchsrisiko-in-den-biowissenschaften-biosicherheitsrelevante-forschung-zwischen-freiheit-fortschritt-und-verantwortung/

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Quelle:
© 2020 by Jürgen Heiducoff
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2020

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