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MELDUNG/049: Es reicht - Verbände gegen Ausgrenzung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge


terre des hommes Deutschland e.V. - 22. August 2018

Es reicht - Verbände gegen Ausgrenzung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge

22.500 UMF wurden 2017 in Obhut genommen


Osnabrück - In einem gemeinsamen Appell fordern 54 Fachverbände der Kinder- und Jugendhilfe, Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingsräte, den Schutzbedarf von Flüchtlingskindern in den Mittelpunkt zu stellen.

Laut der heute vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen sind von den 61.000 Kindern, die im Jahr 2017 in Obhut genommen wurden, 22.500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

»Minderjährige Flüchtlinge sind in erster Linie Kinder. Deshalb müssen sie in der Kinder- und Jugendhilfe ihren Platz haben«, sagte Ursula Gille-Boussahia, Vorstand des Kinderhilfswerks terre des hommes. Die Kinder- und Jugendhilfe erbringe zusammen mit den Jugendlichen eine große Integrationsleistung. »Es gibt keinen Grund die Erfolge der Kinder- und Jugendhilfe zu ignorieren. Deshalb appellieren wir an die Bundesregierung, unbegleitete Minderjährige nicht schlechter zu stellen, etwa durch Änderungen bei den Leistungen oder eine Erstunterbringung in Ankerzentren«, so Gille-Boussahia.

Die Verbände warnen vor der Aufweichung rechtsstaatlicher Prinzipien und einer Stigmatisierung der jungen Menschen: »Die schrecklichen Taten einzelner rechtfertigen keine Diffamierung oder Schlechterstellung einer ganzen Gruppe«, so Gille-Boussahia.


Der Appel im Wortlaut
Flüchtlingskinder brauchen Hilfe, keine Ausgrenzung


Ein Appell von Fachverbänden aus Jugendhilfe, Freier Wohlfahrt und Menschenrechtsorganisationen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

begleitete minderjährige Flüchtlinge sind in erster Linie Kinder, ihr Schutz und ihre Förderung obliegt der Kinder- und Jugendhilfe. Jede rechtliche Konstruktion, die das in Frage stellt, jede Forderung, die ordnungspolitische Interessen über die Rechte von Kindern stellt, lehnen wir ab. Zunehmend stellen einige Politiker*innen und Journalist*innen Schutzsuchende pauschal als Kriminelle dar und scheuen sich auch nicht, Kindern und Jugendlichen, die allein geflüchtet sind, niedere Beweggründe zu unterstellen. Auch deshalb dreht sich der öffentliche Diskurs immer stärker um eine nur scheinbar notwendige verstärkte Ordnungspolitik. Dass geflüchtete Minderjährige Kinder sind, deshalb besonderen Schutz brauchen und Rechte haben, wird nicht mehr als rechtliche Verpflichtung und gesellschaftsvertragliche Selbstverständlichkeit gesehen, sondern als Minderheitenmeinung diskreditiert. Wir wehren uns dagegen und setzen uns für Fachlichkeit und rechtsbasierte Diskussionen und Entscheidungen ein.

Die Kinder- und Jugendhilfe ist als integratives und inklusives Konzept für alle Kinder und junge Menschen zuständig und unterstützt diese bei ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten. Dabei tritt sie Benachteiligungen entgegen und fördert die Chancengleichheit für alle Kinder und jungen Menschen. Konstruktionen von Fremdheit und Exklusion haben in der Kinder- und Jugendhilfe keinen Platz - im Gegenteil diversifizieren sich ihre Strukturen, um sich der Vielfalt ihrer Adressat*innen zu öffnen. Wir werden nicht zulassen, dass geflüchtete junge Menschen ausgeschlossen werden! Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aber auch geflüchtete junge Volljährige sind ein Teil der Zielgruppe der Kinder- und Jugendhilfe. Dieser Fortschritt, für den sich viele engagierte Menschen jahrelang eingesetzt und gestritten haben, droht jetzt durch die Einführung der sogenannten AnKER-Zentren, durch Änderungen bei den Verfahren zur Alterseinschätzung wie bspw. in Baden-Württemberg und ggf. auch bei einer möglichen SGB VIII-Reform wieder rückgängig gemacht zu werden.

Der Alltag der Kinder- und Jugendhilfe zeigt immer wieder aufs Neue, dass eine erfolgreiche Integration der jungen Menschen möglich ist. Das gelingt in erster Linie durch die Bemühungen der Jugendlichen selbst, aber auch durch das Engagement der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, der beteiligten Verwaltungen und Organisationen und aufgrund der hohen fachlichen Qualität und Nachhaltigkeit der Jugendhilfe, wie bereits in Studien dargelegt. Allerdings werden deren Erfolge in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen durch den momentanen politischen Diskurs und die polarisierende öffentliche Debatte in Frage gestellt und schlecht gemacht: Die kriminellen Taten einiger weniger junger Flüchtlinge überlagern dabei die Wirklichkeit und die Erfolge der großen Mehrheit. Das Fehlverhalten Einzelner rechtfertigt und legitimiert keine verleumdenden Diffamierungen einer ganzen Gruppe oder gar ihren Ausschluss aus staatlicher Fürsorge. Wer eine strafbare Handlung begeht, kommt vor Gericht. Wer zufälligerweise aufgrund rechtlicher Definitionen zum gleichen Personenkreis zählt, darf nicht aufgrund der Taten anderer beurteilt werden.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommen nach Deutschland, weil sie vor individuellen Bedrohungen, durch Krieg, Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung, Zwangsrekrutierung, religiöser Verfolgung, Zwangsprostitution, sexualisierter oder politischer Gewalt oder vor Perspektivlosigkeit fliehen. Wie andere Kinder und Jugendliche, die von der Jugendhilfe unterstützt werden, haben sie schwierige Lebenswege hinter sich und große Herausforderungen vor sich. Ihnen allen ist gemein, dass sie im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe allein nach ihrem individuellen Bedarf mit Blick auf die passende Unterstützung beurteilt werden. Rechte, Bedürfnisse und Potentiale von Kindern und Jugendlichen wahr und ernst zu nehmen, ist Grundlage, damit ihr Weg in ein eigenverantwortliches Leben gelingen kann. Für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen gilt nichts anderes. Diesen Weg wollen und werden wir deshalb weiter mit ihnen beschreiten.

Gemeinsam fordern wir Sie auf, sich bei den angekündigten Gesetzesvorhaben und Änderungen in der Praxis für Sachlichkeit und fachlich basierte Diskussionen einzusetzen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gehören in die Kinder- und Jugendhilfe. Sie dürfen nicht zum Spielball kurzfristiger politischer Machtinteressen gemacht werden.


Liste der unterzeichnenden Organisationen siehe unter:
https://www.tdh.de/was-wir-tun/arbeitsfelder/fluechtlingskinder/meldungen/fluechtlingskinder-brauchen-hilfe-keine-ausgrenzung/

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Quelle:
terre des hommes Deutschland e.V.
Ruppenkampstraße 11 a, 49084 Osnabrück
Telefon: 05 41 / 71 01-0, Telefax: 05 41 / 70 72 33
E-Mail: post@tdh.de
Internet: www.tdh.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2018

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