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AUTOREN/055: Sisyphos in seinem Jahrhundert - Zum Tod von Günter Grass (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2015

Hanjo Kesting Sisyphos in seinem Jahrhundert
Zum Tod von Günter Grass

Von Hanjo Kesting


Ein paar Wochen nach der Todesnachricht scheint bereits alles gesagt. Wortgewaltig sei er gewesen, streitbar, herausragend. Ein Gigant. Ein Glückskind. Der Schriftsteller der deutschen Schuld. Der Erfinder des magischen Realismus aus dem Geist des deutschen Barock. Dichter, Zeichner und öffentlicher Mahner. Ein Deutscher und ein Pole, beides zugleich. Das ganze Jahrhundert in einer Person. Unser Grass.

All das trifft zu, all das ist richtig. Was kann noch gesagt werden?

Vor allem, dass er, entgegen seinem öffentlichen Bild, ein leiser, aufmerksamer, liebenswürdiger Mann war, fest in sich ruhend, von bezwingendem Charme, beschwingt und tänzerisch noch in hohem Alter, immer ein Mittelpunkt, ein Regent, auch wenn er schwieg. So habe ich ihn erlebt, seit ich ihn in den 70er Jahren kennenlernte. Wo er auftrat, blitzten die Kameras und bildeten sich Pulks von Reportern, doch sie entlockten ihm keine Siegerpose; in seiner Gelassenheit schien er es gar nicht zu bemerken. Es war eine Gelassenheit, die man nicht lernen kann.

Mit Günter Grass sei einer der wichtigsten Schriftsteller der deutschen Literatur gestorben, lautete die feste Formel der Nachrichtenredaktionen bei seinem Tod. Doch bereits die Zahl und Länge der Nachrufe wie überhaupt die immense öffentliche Reaktion bewiesen, dass Grass nicht bloß ein Autor neben anderen war. Er war der Repräsentant. Er und kein anderer. Das ist nicht immer eine Frage des literarischen Ranges. Es gibt Autoren, die im Stillen Großes schaffen und auf stille Weise Wirkung tun, während zur Repräsentanz, neben der schöpferischen Fülle und Beständigkeit, auch die öffentliche Wirksamkeit gehört, nicht zuletzt die Identifikation von und mit anderen. Repräsentanz ist nicht etwas, das man wählen oder für das man sich entscheiden kann. Sie fallt einem zu, so wie sie Charles Dickens in England, Victor Hugo in Frankreich und Alexander Puschkin in Russland zufiel. Diese Autoren, schrieb Theodor Fontane, sind wie große Ströme, "auf denen die Nationen fahren und hineinsehn in die Tiefe...". Zu diesem Schlag von Autoren gehörte Günter Grass.Wenn der Titel eines "nationalen Dichters", wie zu Gerhart Hauptmanns Zeiten, bei uns auch nicht mehr vergeben wird, so schrieb er dennoch weiter an dem Projekt, das einst "Nationalliteratur" genannt wurde. Gerade das hat ihn befähigt, zu einem Autor der "Weltliteratur" aufzusteigen.

Der Schriftsteller als Bürger

Die Rolle des Repräsentanten, auf die er innerlich vorbereitet schien und die er bereitwillig annahm, wurde ihm zuweilen verübelt. Man sah darin präzeptorale Anmaßung. Auch mit seinem persönlichen Temperament schien er von Anfang an eher zu polarisieren als Brücken zu bauen. Als Grass sich entschloss, für Willy Brandt in den Wahlkampf zu ziehen, war er bereits ein berühmter Autor. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass ein "politisierender" Schriftsteller damals, Anfang der 60er Jahre, in keinem guten Ruf stand. Die Losung "Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied!" galt bis weit ins 20. Jahrhundert. Über Heinrich Manns Untertan, den größten politischen Roman der Deutschen, schrieb Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, er sei zwar ein gut geschriebenes Pamphlet, aber ein ganz dürftiges Kunstwerk: "Der hassende Politiker erschlägt den anschauenden Dichter...". Das war die Grundmelodie. Bei den Nazis landeten die Bücher Heinrich Manns und anderer "politisierender" Dichter gar auf den Scheiterhaufen. Und auch danach hielt die Abneigung bis in die 50er Jahre. Von heute aus ermisst man daher kaum, wie kühn Grass' Entschluss war, sich in die Politik einzumischen, als Schriftsteller-Bürger aufzutreten, aktiv Wahlkampf zu betreiben und für die EsPeDe zu trommeln.

Die Sozialdemokratie war für ihn ohne Alternative, nach rechts ohnehin, aber auch nach links. Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik gab er sich offen als Gegner der Kommunisten zu erkennen. Das zwangsvereinigte SED-Regime hat er härter und beharrlicher kritisiert als andere Vertreter der literarischen Zunft. Er war es, der nach dem Bau der Mauer im August 1961 einen Brief an die Mitglieder des DDR-Schriftstellerverbandes schrieb: "Wer schweigt, wird schuldig." Danach war er in der DDR persona non grata. Das hat ihn nicht davon abgehalten, mit den Schriftstellerkollegen der DDR in Kontakt zu bleiben, sie zu ermuntern, sich für sie einzusetzen. Die Dankbarkeit dafür ist bis heute spürbar als Sympathiebonus, den Grass im Osten des Landes genießt. Der Neomarxismus der rebellierenden 68er besaß für ihn keine Anziehungskraft; die Anwürfe, denen er deswegen ausgesetzt war, hat er einfach an sich abprallen lassen. Er bekannte sich dazu, ideologisch ein Revisionist zu sein. 50 Jahre blieb er der SPD verbunden, im Prinzip unverbrüchlich, mit Kritik niemals geizend, bis zum bitteren Parteiaustritt 1993 aus Anlass des sogenannten "Asylkompromisses". Das hat ihn nicht gehindert, auch später wahlkämpfend und werbend für die Partei einzutreten. Sozialdemokrat zu sein, war für ihn nicht aktuelle Zweckmäßigkeit, sondern eine geistige Lebensform.

Das Risiko der öffentlichen Person

Für einen Schriftsteller seines Ranges war es dennoch ein riskanter, gefährlicher Entschluss, sich der Herausforderung des Politischen zu stellen. Ohne die Anziehungskraft Willy Brandts wäre es kaum möglich gewesen. Der Autor der "Danziger Trilogie" musste fürchten, in den Mühen der Ebenen sein kreatives Genie und seine künstlerische Vitalität einzubüßen, sich in ein Doppel-Ich aufzuspalten, dessen eine Hälfte, der Künstler und Schriftsteller, im Laufe der Zeit von der anderen Hälfte, der Öffentlichen Person, immer mehr aufgezehrt und überwältigt werden würde. Grass hat diese Doppelrolle 50 Jahre lang ausgehalten und dabei eine Kraft und Ausdauer bewiesen, die jeden Schwächeren längst zermürbt hätte. Sein anarchisches Künstlerpotenzial ist durch die öffentliche Rolle vielleicht geschwächt, aber nicht paralysiert worden.

Mit seinem politischen Engagement hat Günter Grass unser Bild vom Schriftsteller verändert. Es war sein geschichtliches Verdienst, auch wenn die Autoren von heute wenig Gebrauch davon machen. Doch muss man daran festhalten, dass es nicht der Funktionär, sondern der große Schriftsteller Grass war, der als Wahlkämpfer die Säle füllte. Seine politische Wirksamkeit beruhte auf seiner literarischen Kompetenz, war ohne sie nicht denkbar. Die schöpferische Rolle als Prosa-Autor wurde schlagartig deutlich mit seinem ersten Roman, der Blechtrommel, einem berühmten Erstling wie einst Die Leiden des jungen Werthers und Buddenbrooks. Danach waren Hundejahre, Katz und Maus, Der Butt und Das Treffen in Telgte Marksteine der Nachkriegsliteratur. Nicht zu vergessen das großartige, auch quantitativ bedeutende Werk als Lyriker, das sein ganzes Leben begleitet hat. Daneben war er unablässig als Zeichner, Maler und Bildhauer produktiv, sich in der einen Tätigkeit gleichsam von der anderen erholend. Alle diese Tätigkeiten bestanden nebeneinander, gleichberechtigt, befruchteten sich wechselseitig. Aus Zeichnungen gingen Gedichte hervor, aus Gedichten Prosawerke, letztere verlangten nach Illustration. Alles wuchs aus einer kreativen Wurzel. Kein Buch, dessen Umschlag Grass nicht selbst gestaltet hätte. Auch darin war er eine Ausnahmeerscheinung, ein Fürst der Literatur wie aus einem anderen Zeitalter.

In der literarischen Kritik hatte man sich seit den 80er Jahren angewöhnt, seine späteren Bücher an den frühen Geniestreichen zu messen und vom Nachlassen seiner Fantasie und literarischen Produktivkraft zu sprechen. Bereits der Roman vom Butt, dieses große Märchen, das vor Lebenskraft strotzt und die ganze Welt, nach dem Vorbild von François Rabelais, in ein Buch zu verwandeln sucht, hatte unter diesem Vorwurf zu leiden. Mehr noch neun Jahre später Die Rättin, und vollends, nach weiteren neun Jahren, der Fontane-Roman Ein weites Feld, der auch ein Roman über die wiedergefundene Einheit der Nation war. Der führende Kritiker des Landes zerriss das Buch des Schriftstellers symbolisch auf der Titelseite eines Nachrichtenmagazins. Danach begann sich in den Feuilletons gegenüber Grass ein herablassender Ton einzuschleichen. Als er 1999 den Nobelpreis erhielt, war die Freude vielfach gedämpft durch das "Zu spät!" der Zwischenrufer.

Das Bekenntnis

Sieben Jahre später erschien Beim Häuten der Zwiebel, das zwischen romanhafter Erzählung und Autobiografie changierende Erinnerungsbuch. Mit seiner kraftvollen Erzählweise und sprachlichen Dichte zeigte es den 79-jährigen Autor auf der Höhe seiner Meisterschaft. Leider reichten zwei Zeilen aus, das Buch (das wichtigste, auch literarisch wichtigste seiner späten Zeit) nicht wirklich zur Kenntnis zu nehmen: zwei Zeilen des Bekenntnisses, mit 17 Jahren für einige Monate der Waffen-SS angehört zu haben. Man fragte mit Recht, warum das Bekenntnis so spät kam. Die Antwort stand im Buch: aus Scham. War es die Erklärung eines Tartuffe?

Von Ibsen, dem norwegischen Dramatiker, stammt das Wort: "Leben heißt: dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich, Dichten: Gerichtstag halten über das eigene Ich." Das ganze Werk von Günter Grass, das literarische wie das öffentliche, war ein Gerichtstag-Halten über sich selbst, über die frühen Irrtümer, die jugendliche Blindheit, den bedrückenden Wahn, in dem er einige Zeit befangen war. Auch seine sogenannte Streitbarkeit hat ihre tiefere Ursache zweifellos hier. Sie kam aus dem Wissen und der eigenen Erfahrung, wie anfällig Menschen für solch einen Wahn sein können. Grass hatte sich durch sein Werk und seine Lebensleistung geschützt geglaubt. Doch kam sein Bekenntnis zu spät, um die lebenslang gespielte Rolle des Moralisten unbeschädigt zu lassen. Das Scherbengericht fiel unerbittlich aus und kleinlaut klang, was er danach an den israelischen Botschafter schrieb: "So kann ich nur bitten, dass alles, was nach meinem siebzehnten Lebensjahr meine umwegreiche Entwicklung ausgemacht hat, und was sich erkennen lässt als das, was ich als Schriftsteller und Künstler sowie als engagierter Bürger meines Landes geleistet habe, als Gegengewicht wahrgenommen wird."

Der finstere Märchenerzähler

Es hat ihn nicht vor Invektiven bewahrt, in denen teils alte Rivalitäten wiederauflebten, sich teils ödipaler Überdruss der Jüngeren austobte. Ein jeder glaubte sich befugt, sein Stäbchen über Grass zu brechen. Heinrich Heine schrieb, wenn man an einen "König der Literatur" das kritische Messer lege, dürfe man es nie an der gebührenden Courtoisie fehlen lassen, "gleich dem Scharfrichter, welcher Karl I. zu köpfen hatte, und, ehe er sein Amt verrichtete, vor dem König niederkniete und seine allerhöchste Verzeihung erbat". An solcher Höflichkeit hat man es Grass gegenüber oft fehlen lassen.

Dabei gehörte er, wie Nadine Gordimer gesagt hat, zu der Handvoll Autoren, die die Grenzen der Dichtung in ihrer Generation gesprengt haben, so wie in der vorherigen Generation James Joyce, Marcel Proust und Robert Musil. "In meiner Vorstellung", schrieb Gordimer, "ist Günter Grass der Daumen dieser Hand, dieses kräftige und vorzügliche Werkzeug, ohne das man nichts greifen kann, wie behende auch die anderen Finger mit dem Stoff des Lebens spielen." Grass war ein machtvoll fabulierender, ein "barocker" Autor und auf Grimmelshausen und die Dichter des Barock als Ahnherren hat er sich immer wieder berufen. Ihrer Sprachkraft, ihrem Weltgefühl galt seine Neigung und Sympathie. In dieser Epoche mit ihren endlosen Verheerungen sah Günter Grass die Ursache für die historische Verspätung Deutschlands und viele Fehlentwicklungen der späteren Zeit: "Der Dreißigjährige Krieg", schrieb er, "war und ist wohl immer noch Quelle wie Stimulans deutschsprachiger Literatur". Sein eigenes Werk ist tief in der deutschen Geschichte verankert und wurde fortwährend aus ihr gespeist. Das hat ihm den Vorwurf nicht erspart, ein Gegner der deutschen Einheit gewesen zu sein. Dabei war er der Dichter der Einheit, längst bevor sie geschichtlich real wurde. Die Erzählung Das Treffen in Telgte beschwor in der Literatur, im einigenden Band der Sprache, die fehlende nationale Einheit, sei es von 1647, sei es von 1947: die unverlierbare Einheit der Kulturnation.

Auch wenn das öffentliche Bild dieses Schriftstellers von seinen politischen Aktivitäten bestimmt war, entzogen sich seine Romane und Erzählungen einer eindeutigen Zuordnung. Grass hat nie vergessen, dass Literatur ein Mittel ist, die Starre des Politischen aufzulösen und uns an die Vielfalt unserer Wahrnehmungen zu erinnern. Die märchenhaften Verwandlungen und Metamorphosen, die sich in seinen Büchern vollziehen, sind Ausdruck einer Weltsicht, die das rein Politische, Gesellschaftliche ebenso umgreift wie überschreitet. Grass springt durch Mythen und Legenden, Geschichte und Geografie oft vermittels des uralten Kunstgriffs, das menschliche Treiben aus der Sicht von Tieren zu betrachten. Seine Bücher stehen der Tierfabel nahe, und seine Erzählweise nähert sich dem Märchen. Die Blechtrommel und Der Butt sind große Märchen, düster und ausweglos wie viele Märchen der Brüder Grimm, ihre Stoffe kommen aus der Tiefe des dunklen, mörderischen 20. Jahrhunderts, das allen romantischen Zauber in Lügenwerk und Missetat zu verwandeln suchte. Von Richard Wagner ist gesagt worden, er habe den Mythos durch das Leitmotiv erlösen wollen. Von Günter Grass ließe sich sagen, er habe das Märchen mit den Mitteln der Aufklärung erlösen wollen. Nur kann man nicht sicher sein, dass Märchen sich aufklären lassen. Ähnliches hatte wohl Horace Engdahl, der Sekretär der Stockholmer Akademie im Sinn, als er bei der Nobelpreisverleihung sagte: "Der Spatenstich des Günter Grass gräbt tiefer als der der meisten, und er findet, wie die Wurzeln des Guten und Bösen miteinander verschlungen liegen."

Grass' Werk wird sich als dauerhaft erweisen, und seine historische Rolle wird mit seinem Tod hoffentlich wieder deutlicher ins Bewusstsein treten. Mir gefällt der Gedanke, dass er in anderen Ländern, vor allem in Polen, hoch geschätzt wird. In dem frühen Gedicht Pan Kiehot heißt es: "Ich sag es immer, Polen sind begabt".


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschienen seine Bücher Augenblicke mit Jean Améury (Wallstein Verlag Göttingen) und Das Geheimnis der Sirenen. Bilder und andere Abenteuer (Wehrhahn Verlag Hannover).

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2015, S. 61 - 64
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2015

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