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REZENSION/016: Christian Kracht - Die Toten (Roman) (SB)


Christian Kracht

Die Toten

von Christiane Baumann


Die Achse des Bösen - ein Totentanz im Nō-Theater
Schweizer Literaturpreis für Christian Krachts Roman Die Toten

Der Schweizer Autor Christian Kracht räumt mit seinem neuesten Roman Die Toten kräftig ab. Nach dem Hermann-Hesse-Literaturpreis, den er in dieser Woche in Karlsruhe in Empfang nehmen konnte, erhielt er den hochdotierten Schweizer Buchpreis 2016. Und last but not least: Für den Bayerischen Buchpreis 2016 wurde er inzwischen auch nominiert.

Kracht, der als wenig auskunftswillig zu seinem Werk gilt, sorgte bei der Verleihung des Schweizer Buchpreises für einen Eklat, indem er wortlos, urkundenlos und danklos aus dem Baseler Theater stürmte (Tagesanzeiger vom 14.11.2016). Ob er nun soziophob ist, an seinem Genie-Image arbeitet oder ihn der mit 30.000 Schweizer Franken dotierte Preis einfach überwältigte - es sei dahingestellt. Letztlich kann es nur um das Buch gehen, das die Schweizer Jury als "eine gelungene Verknüpfung von großem literarischen Können mit einer hellsichtigen Diagnose unserer Gegenwart"[1] würdigte.

Christian Kracht (*1966) wurde 1995 mit seinem Erstling Faserland der "Pop-Literatur" zugeschlagen, einer literarischen Richtung, die ästhetisch schwer zu fassen ist. Die Pop-Art entwickelte sich als Kunstströmung in den 1950er Jahren in den USA, kam in den 1960ern dann auch in Europa an und erlebte in den 1990er Jahren in Deutschland eine Renaissance. Sie formierte sich als Protest gegen den Ästhetizismus und die elitäre Kunstanschauung des Establishments, montierte und verfremdete Vorgefundenes, Populäres vom Comic bis zur Filmsequenz, vom Schlager bis zum Krimi. Es ging um eine "Anti-Kunst" oder besser Gebrauchskunst. Die selbst ernannten Pop-Literaten Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander Schönburg und Joachim Bessing trafen sich Ende der 1990er Jahre in Berlin und veröffentlichten ihre dort geführten Gespräche 1999 unter dem Titel Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Das zielte auf Provokation. In der Folgezeit sorgten Krachts Romane, 1979 (2001), Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), Imperium (2012), immer wieder für politische Kontroversen. Auch sein neuer Roman Die Toten macht hier keine Ausnahme, wenngleich er sich von der Pop-Literatur entfernt hat. Vom Verriss - "ärgerlicher und total überflüssiger Stuss" (Frankfurter Rundschau, 07.09.2016) - bis zur "Revolution" der Literatur (ARD druckfrisch, 29.08.2016) war da alles zu lesen bzw. zu hören.

Der Roman Die Toten führt in die 1930er Jahre und damit in jene Zeit, in der die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen. Es sind zugleich Jahre des technischen Umbruchs in der Filmbranche. Der Stummfilm wird vom Tonfilm abgelöst. Kino ist "Krieg mit anderen Mitteln", stellt UFA-Chef Alfred Hugenberg fest, "man müsse den Erdball überziehen mit deutschen Filmen, kolonialisieren mit Zelluloid" (S. 114). Deutsche Großmachtsphantasien machen sich breit. Mittendrin der abgehalfterte Schweizer Filmregisseur Emil Nägli, der nach Berlin fliegt und sich von Hugenberg für einen millionenschweren Gruselfilm unter Vertrag nehmen lässt, der in Japan gedreht werden soll. Keine Geringeren als die jüdischen Filmkritiker Siegfried Kracauer und Lotte Eisner überreden Nägli zu diesem "deplazierten faustischen Pakt" (S. 123). Dabei ahnt er nicht, dass diesen Deal eigentlich ein Beamter im japanischen Außenministerium eingefädelt hat. Masahiko Amakasu will dem "US-amerikanischen Kulturimperialismus" mit einer "zelluloiden Achse" (S. 29, 30) zwischen Tokio und Berlin entgegenwirken. Dazu schreibt er nach Deutschland an die UFA Film AG und wird erhört.

Nägli geht nach Japan, doch der Gruselfilm kommt nicht zustande. Stattdessen entsteht eine Art Dokumentarfilm, "den er so genannt hat wie dieses Buch" (S. 206), statt Fiktion also fiktive Authentizität. Der Roman spielt mit Authentischem und Fiktivem, montiert beides spielerisch zusammen. Das Attentat auf den Premierminister Inukai vom Mai 1932, mit dem das Militär in Japan politischen Einfluss auf die Regierung gewann, versetzt er in das Jahr 1933 und damit in jenes Jahr, in dem Japan aus dem Völkerbund austrat und in Asien seinen aggressiven Expansionskurs begann. Reale Personen, die sich in die Filmgeschichte einschrieben, wie Lotte Eisner, Siegfried Kracauer und der Regisseur Fritz Lang, tauchen in geradezu bizarren Situationen auf. Die Stummfilm-Ikone Charlie Chaplin, der sich 1947 vor dem "Komitee für unamerikanische Umtriebe" verantworten musste, betritt die Bühne wie das deutsche Film-Idol Heinz Rühmann, der in der Nazizeit seine steile Karriere startete. Sind die Einen auf dem Weg ins Exil, so kommen den Anderen die neuen Machthaber in ihren ehrgeizigen Karriereplänen und ihrem Opportunismus gerade recht. Zu diesen Mächtigen gehört neben dem UFA-Chef und Medienboss Alfred Hugenberg auch Ernst ("Putzi") Hanfstaengl als Auslandspressechef der NSDAP, den Nägli "mephistophelesgleich" (S. 109) erlebt und der bezeichnenderweise in einem kanadischen Internierungslager einen kranken Fuß als "Mephistopheles' Huf" (S. 145) hinter sich herzieht. Durch die Montagetechnik wird beim Leser, der sich permanent mit geschichtlichen Zusammenhängen und historisch verbürgten Personen auseinandersetzen und in Beziehung setzen muss, die fiktive Illusion systematisch unterlaufen, erhält der Roman einen authentischen Sound. Der teuflische, faustische Pakt, den Nägli eingeht, weist zudem auf das literarische Vorbild. Doch geht es Goethes Faust um Erkenntnis, so Nägli um schnöden Mammon.

Krachts Roman wartet mit einer originellen Idee in raffinierter Machart auf. Die strenge Form, die dem japanischen Nō-Theater entlehnt wurde, steht im Kontrast zur lockeren Szenenfolge, die weder streng chronologisch angelegt ist noch den Eindruck erweckt, dass hier stringent erzählt werden will. Die drei Roman-Teile folgen also dem jo-ha-kiū: Das Spiel beginnt "langsam und verheißungsvoll", beschleunigt im zweiten Teil, um dann "kurzerhand und möglichst zügig zum Höhepunkt" (S. 104) zu kommen. Dabei wird eher beiläufig auf Ezra Pound verwiesen, der zusammen mit Ernesto Fenollosa 1917 ein Buch zum japanischen Nō-Theater veröffentlichte. Pound erlebte den ersten Weltkrieg als Zäsur, ließ ihn doch das massenhafte Töten an der Zukunftsfähigkeit Europas zweifeln. Dass er später begeisterter Anhänger Mussolinis wurde, sich auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht vom Faschismus lossagte und in den USA aufgrund seiner antisemitischen und antiamerikanischen Propaganda wegen Landesverrats angeklagt und zur unerwünschten Person wurde, wird zum Background des Romans und führt zugleich in sein geistiges Zentrum. Die Achsenmächte Deutschland unter Hitler, Italien unter Mussolini und das vom Militär dominierte Japan rüsteten sich Anfang der 1930er Jahre für ihren Eroberungsfeldzug, trafen sich in ihrem Expansionsstreben. Diese Umbruchsituation, in der sich der Faschismus etablierte, interessiert Kracht. Der Roman paraphrasiert diese politische Konstellation als "zelluloide Achse" in einer kulturellen Parallelwelt.

Näglis Versagen als Filmemacher in deutschem Auftrag bleibt folgenlos, denn Hugenberg wird von Goebbels abgelöst, wie der Roman behauptet, was de facto nicht stimmt. Alfred Hugenberg, der 1886 zu einer Gruppe junger, oppositioneller Autoren mit Karl Henckell, einem Parteigänger der Sozialdemokratie, gehörte, die im Umfeld des deutschen Naturalismus in der Sammlung Quartett literarisch debütierten [2], avancierte im Deutschen Kaiserreich zum Medienmogul, dessen Konzern weite Teile der deutschen Presse kontrollierte. Während der Weimarer Republik bereitete er dem Nationalsozialismus mit seiner Propaganda den Boden und beförderte Hitlers Aufstieg maßgeblich. 1933 wurde er Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung in dessen erstem Kabinett, gab diesen Posten jedoch nach wenigen Monaten auf. Goebbels war bereits Minister. Er übernahm Hugenbergs Amt nicht, jedoch als Propagandaminister seine Rolle. Die Propaganda-Maschinerie und Manipulation der Massen erreichte mit ihm eine neue Qualität und der auktoriale, allwissende Erzähler, der sich hin und wieder einmischt mit Feststellungen wie "wir erinnern uns" (S. 106), weiß, was kommt.

An die Stelle des nicht gedrehten Films, diese von Eisner und Kracauer angeregte "Allegorie [...] des kommenden Grauens" (S. 120), tritt Krachts Roman, der ins Heute zielt, sind doch der Auftrieb von Nationalismus und rechtspopulistischen Parteien wie rechtsradikalen Gruppierungen unübersehbar. Kriegsgräuel und Vernichtung, schaut man nach Syrien, sind kaum noch in Worte zu fassen. IS-Terror und Gewalt machen sich im Alltag breit. Gewaltszenen in Film, Fernsehen und Computerspiel sind zu einer beängstigenden Normalität geworden. Krachts Roman durchzieht eine Spur der Gewalt unterschiedlicher Provenienz. Sie reicht von verbaler und psychischer Gewalt bis zum Mord und Holocaust. Sie gehört zur Kindheit von Nägli wie auch von Amakasu. Dabei verstecken sich im Roman Gewalt und das aufziehende Grauen des Faschismus subtil hinter der Maske feiner Ironie, die immer wieder ins Groteske kippt. Die Gewalt, das Böse, kommt ästhetisiert daher. Den Grundton schlägt die Eingangsszene des Romans an: Erzählt wird eine Filmsequenz, in der ein Japaner Seppuku begeht. Die grauenvolle Szenerie erscheint - wie im Nō-Theater - in der Maske des ritualisierten Selbstmords, mit dem ein Samurai, der aufgrund eines Fehlverhaltens sein Gesicht verloren hat, die Würde und Ehre der Familie wiederherstellen kann. Am Schluss ist die Maske gefallen: Näglis deutsche Freundin Ida, eine Schauspielerin, prostituiert sich in jeder Hinsicht, um in Hollywood Karriere zu machen. Sie scheitert, verliert ihre Identität und stürzt sich vom "H" des berühmt-berüchtigten Namenszuges. Beim Sturz in die Kakteen, wird ihr Gesicht zerfleischt. Sie verliert endgültig ihr Gesicht und damit ihre Würde.

Die Toten ist ein Roman, der Tod und Gewalt in einen Ästhetizismus verpackt, der mitunter schockiert und sprachlos macht. Man muss bei der Lektüre nicht nur japanisches Vokabular nachschlagen, um das Erstarrtsein in Konvention und Tradition sowie die Klaviatur des staatlich sanktionierten Chauvinismus zu begreifen, sondern vor allem sehr genau lesen. Ist es ein Zufall, dass James Joyce, den Ezra Pound protegierte, in seiner letzten Novelle Die Toten dieses Gefangensein in Vorurteilen in einem Kammerspiel inszenierte, während Kracht die große nationale Bühne präsentiert? Manches gerät am Schluss, bei dem sich die Szenen überschlagen, zur Kolportage. Manches Sprachliche gleitet ab in Manierismus, wenn "der Pazifik [...] sich pazifisch" verhält (S. 187) oder ein "versunkenes Oszillieren" (S. 195) zu hören ist. Aber: Wer von "Stuss" redet, ist in den Subtext des Romans ebenso wenig eingedrungen wie derjenige, dem er sich als "Revolution" offenbart. Ein Ereignis ist er allemal.


Anmerkungen:

[1] http://www.schweizerbuchpreis.ch
[2] Quartett. Dichtungen. Unter Mitwirkung von Arthur Gutheil, Erich Hartleben, Alfred Hugenberg hg. v. Karl Henckell. Hamburg 1886.


Christian Kracht
Die Toten
Roman
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016
212 Seiten
20 Euro
ISBN: 978-3-462-04554-3

17. November 2016


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