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REZENSION/026: Inger-Maria Mahlke - Archipel (SB)


Inger-Maria Mahlke

Archipel

von Christiane Baumann


Geschichte unter dem "Okular eines Mikroskops"
Eine Begegnung mit der Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke und ihrem Roman "Archipel" in Magdeburg (21.11.2018)

Wie viel Magdeburg steckt im Roman Archipel, wird Inger-Maria Mahlke im Magdeburger Forum Gestaltung gefragt? Das zielt weniger auf die Geschichte, die auf der Kanareninsel Teneriffa angesiedelt ist. Es geht um Schreibkontexte, Inspirationen, denn die Autorin war 2017, als sie am Roman arbeitete, Stadtschreiberin in der Elbestadt. Mahlke beginnt von traumhaften Sonnenuntergängen mit Elb-Blick zu erzählen. Man spürt, dass sie mit Magdeburg eine Zeit kreativen Arbeitens verbindet. Erst 25 Prozent des Romans waren fertiggestellt, als sie an die Elbe kam. Am Ende ihres Magdeburg-Intermezzos lag das Buch vor. Vor kurzem wurde Mahlke für Archipel nun der Deutsche Buchpreis, die bedeutendste Auszeichnung, die der deutsche Buchhandel zu vergeben hat, verliehen. Es ist der vierte Roman der Schriftstellerin, die 1977 in Hamburg geboren wurde und deren Mutter aus La Laguna auf Teneriffa stammt, wie sie während der Lesung erzählt. Ihre Wurzeln erklären die Affinität zur Kanareninsel, auch, dass spanische Worte, Sätze, Motti und Lieder wie selbstverständlich in den Text eingewoben sind. So entsteht ein authentischer Sound, wobei das notwendige Nachschlagen im beigefügten Glossar den Lesefluss und den Sog, in den man bei der Lektüre gerät, stört. Fast scheint es, als sei das beabsichtigt, denn viele Daten und Ereignisse aus der spanischen Geschichte wie die "Nacht von Tejero" oder Details zum Westsahara-Kolonialkrieg, die Mahlke "antippt", dürfte selbst der politisch interessierte Leser nicht parat haben. So fordert der Roman während der Lektüre nachdrücklich zur Recherche auf und durchkreuzt Lesegewohnheiten.


Foto: © 2018 by Christiane Baumann

Inger-Maria Mahlke präsentiert ihr Buch
Foto: © 2018 by Christiane Baumann

Das trifft auch für die Romankonstruktion zu. Die Geschichte beginnt in der Gegenwart und arbeitet sich in Zeitschritten in die Vergangenheit vor, beziehungsweise zurück. Die Vergangenheit wird in der Gegenwart, im Moment des Erzählens, zum Aktionsraum der Zukunft. Dabei interessiert weniger die Rekonstruktion des Vergangenen, was die wie zufällig eingeblendet wirkenden Wirklichkeitsausschnitte unterstreichen. Das chronologische Vorwärtserzählen, so Mahlke, stelle die Gegenwart in zwanghaft kausale Zusammenhänge und verdecke die Fülle an Möglichkeiten, die individualbiographisch und gesellschaftlich andere Realitäten hervorgebracht hätten. Mahlkes episodenhaftes Erzählen verfolgt die Charaktere nicht in ihrer Entwicklung, sondern erhellt ihre "verschiedenen Identitäten", wie sie es nennt, in einer bestimmten Lebenssituation, schlaglichtartig. Alternativen werden denkbar, sowohl auf der individualbiographischen als auch auf der sozialen Ebene. Denn - und das ist das Herausragende an Mahlkes Buch: Ihr Familienroman, der über vier Generationen einhundert Jahre spanischer Geschichte aus der Inselperspektive Teneriffas ausschreitet, lässt in den szenischen Momentaufnahmen aus den Jahren 1919 bis 2015 ein gesellschaftliches und historisches Panorama entstehen: von der englischen Präsenz auf der Insel nach dem Ersten Weltkrieg, über die Etablierung des Faschismus, den Spanischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg, den Terror unter Franco bis zu den blutigen Kämpfen um Westsahara. Alles findet auf der Insel en miniature seinen Widerhall, muss in seinen Zusammenhängen aber vom Leser erschlossen werden.

Die Geschichte beginnt 2015 mit einer Ausstellung. Wie in einem Prisma laufen im Kreis der schönen Künste in Santa Cruz, in der Kunststudenten und Nachwuchskünstler Werke der Surrealisten "neu" (12) interpretieren, die Fäden zusammen: Liebe und Familie, Politik und Geschichte, Kunst. Ana und Felipe sehen sich mit ihrer Tochter Rosa die Ausstellung "80 Jahre surrealistische Konferenz" an, die an die Präsentation der Surrealisten, unter anderem Andrè Breton, Benjamin Péret und Oscar Dominguez, auf Teneriffa im Jahr 1935 erinnert. Die Szene spiegelt die Brüchigkeit der bürgerlichen Fassade wider. Da ist zunächst Rosa, bei der sich die Familienstränge der Bernadottes und Bautes kreuzen. Sie hat ihr Kunststudium in Madrid hingeworfen und gibt sich dem massenhaften Konsum des Reality-TV-Movies Survivor hin, einer Art Überlebenstraining für Inselbewohner. Ihr Vater Felipe Bernadotte, als Historiker gescheitert an seiner in die franquistische Repression verstrickten aristokratischen Dynastie, ist Alkoholiker und ohne Job. Ihre Mutter Ana Baute, Staatssekretärin im Tourismus-Ressort, kämpft mit einem Korruptionsskandal. Gefragt sind keine politischen Inhalte, sondern geschicktes Taktieren. Sie trauert nicht um den politischen Weggefährten, sie zieht sich etwas an, "das nach Trauer aussieht" (77), vor allem etwas Bezahlbares wie Zara oder Mango, obwohl ihr Chanel lieber wäre. Anas und Felipes Ehe existiert nur noch auf dem Papier. Man gibt das Bild der intakten Familie. Der Ausstellungsbesuch ist Pflicht, trifft sich doch dort die Politprominenz der Insel. Das ist insofern grotesk, weil es die Surrealisten waren, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gegen die saturierte Bürgerlichkeit protestierten, das Establishment ablehnten und Revolution und Anarchie propagierten. Es ist der Anfang des Romans, der Nachklänge auf den Surrealismus einfängt. "Sie nennen es Kunst" (61) - postet Rosa zur Ausstellung. Ihr Kunststudium beschreibt sie als Verzweiflung: "Alles schon da gewesen, und auch das bereits bearbeitet, nichts mehr besonders und die Kategorie besonders sowieso nicht tragfähig" (33). Langsam bewegt sich der Roman auf das Jahr 1919 zu, in dem sich, noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, die Surrealisten Breton, Soupault und Aragon in der Zeitschrift Littérature zusammenfanden, und rollt die Familiengeschichten der Bernadottes, Bautes und Morales' auf, die zugleich einen soziologischen Querschnitt der Gesellschaft liefern.

Die Bernadottes repräsentieren die aristokratische Oberschicht, waren Nutznießer der spanischen Kolonialpolitik und Parteigänger der faschistischen Falange, die 1937 in der Staatspartei des Diktators Franco aufging. Felipe zerbricht an dem Versuch, die Geschichte des spanischen Bürgerkriegs und der Repression auf den Kanarischen Inseln in privaten Überlieferungen aufzuarbeiten, denn er kann seinem familiären Erbe nicht entkommen. Anas Familie, die Bautes, gehörten zur anderen Seite, zu den Opfern der "blauen Periode", die von Inhaftierungen, Massenerschießungen, Mord und Repressalien des Franco-Regimes gekennzeichnet war. Ihr Onkel Jorge verschwand in den Folterkammern des Regimes. Ihr Vater Julio, tätig als linker Kurier, landete im KZ "Fyffes". Ana, die sich für Politik nie sonderlich interessierte, schlug sich auf die Seite der Konservativen. Der äußere Verfall des Hauses von Ana und Felipe wird zum Symbol der Zerrüttung der Familie und der sozialen Disparitäten. Die Krise der Familie findet ihr Pendant in allen gesellschaftlichen Bereichen. Profitgier verhinderte auf der Insel die Entstehung eines Wasserkreislaufs mit Klär- und Entsalzungsanlagen. Algenverseuchte Strände - eine Umweltkatastrophe, die vertuscht wird, legen davon Zeugnis ab. Nach der spanischen Niederlage im Westsahara-Konflikt verlor die Insel als Warenumschlagplatz ihre Bedeutung, was den wirtschaftlichen Niedergang einleitete. Eine geplatzte Immobilienblase hat die soziale Schieflage auf der Insel in der Gegenwart weiter verschärft. Die Folge ist ein wachsendes Heer von Gestrandeten und Chancenlosen: Arbeitslose, Prostituierte und Drogendealer, Graffiti-Sprayer und Hausbesetzer, "Menschen, die aus ihren Häusern geräumt wurden und sich in leerstehenden niederlassen" (99). Zu diesen sozial Deklassierten gehören die Morales-Frauen, die seit eh und je bei den Bernadottes als "Hilfe" arbeiten.

Erzählt wird das alles durch die Figuren. Der Leser taucht an den Schauplätzen in ihre Gedankenwelt ein. Es gibt keine Kommentare, um, wie Mahlke betont, jede "Zwangsbeschulung" zu vermeiden. Ihr photographisch genaues Erzählen lässt an den Sekundenstil naturalistischer Ästhetik denken, wenn das Tropfen des Wasserhahns beobachtet oder das Finale der Tour de France Kilometer für Kilometer, in Minuten und Sekunden verfolgt werden. Das Erzählte und das Erzählen sind zeitlich fast deckungsgleich. Das Leben wird durch das "Okular eines Mikroskops" (33) betrachtet. Jede Figur soll "genau so, wie sie ist" (86), in Szene gesetzt werden. Dieses übergenaue Erzählen erzeugt eine künstliche, eine verfremdete Realität, man könnte auch sagen eine "Surrealität", in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Momentaufnahme mit Träumen und Gedankenströmen verschwimmen, aber anders als im surrealistischen Denken, die ästhetische Überlegung immer präsent ist. Dieses ästhetische Verfahren bestimmt die Romankonstruktion, das Rückwärtserzählen, und lässt sich bis in die Motivik und Figurencharakteristik nachzeichnen. San Borondón, das achte Eiland, an das die Kanaren-Bewohner glauben, ist Mythos und als Bauprojekt der Zukunft zugleich künstliche Insel mit Hotel und Themenpark, die in der Gegenwart für Schlagzeilen sorgt. Sind die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließend, so verschwimmen auch die zwischen "Normalität" und Wahnsinn, was nicht zuletzt auf den Surrealismus weist, den "Sohn des Wahnsinns und der Finsternis" (Louis Aragon Pariser Landleben). Francisca, Felipes psychisch kranke Mutter, erlebt, wie in ihrem Alltag "alles verrutscht" (242): Personen, Vorgänge, zeitliche Zusammenhänge. Die Demenzkranken im Asilo, dem Heim "der barmherzigen Schwestern für in Not gefallene Alte" (29), in dem der 96-jährige Julio Baute als Portier seine Pflicht erfüllt, leben gedanklich in der Vergangenheit, in einer nicht mehr existenten Welt, die für sie gegenwärtig, erfüllend und tröstlich ist. Und wenn am Schluss des Romans die Moores, Bautes und Bernadottes Silvester 1919 "auf die Zukunft" (423) anstoßen, dann erkennt der Leser diese bereits als Krise der Gegenwart. Es sei die ultrapolarisierte spanische Gesellschaft vor der Franco-Zeit, die nicht mehr miteinander reden konnte, die auch gespalten war in zwei Lager, die ihr mit dem Blick auf die Gegenwart Angst mache, so Mahlke in Magdeburg, vor allem, wenn man sehe, wie schnell das gekippt sei; niemand hätte 1935 gedacht, dass es überhaupt kippen würde, fügt sie hinzu.

Am Anfang des Romans steht Rosas künstlerische Krise, wenn sie fragt: "Was ist noch möglich, wenn alles möglich ist?" (33) Orientierungslos und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens findet sie bei demenzkranken Menschen Halt, indem sie im Asilo bei der Arbeit hilft. Erstmals übernimmt Rosa soziale Verantwortung und schöpft aus dieser Tätigkeit plötzlich Ideen für ihre Installationskunst. In Mahlkes Archipel ist nichts vordergründig politisch, aber es sind diese Szenen, in denen sich eine geistige Haltung manifestiert, die die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Kunst stellt und damit den Bogen zu den Surrealisten spannt, die sich als Verfechter einer revolutionären Weltanschauung (Zunächst und immer Revolution, 1925) verstanden, um den Menschen "die Fragwürdigkeit ihres Denkens zu demonstrieren, ihnen deutlich zu machen, auf welch schwankendem Grund, über welchen Höhlen sie ihre anfälligen Häuser erbaut haben"[1] (133). Der Blick zurück weiß bereits um das Scheitern dieser Bemühungen und um die Fragilität der Zukunft.


Foto: © 2018 by Christiane Baumann

Die Autorin während der Lesung aus 'Archipel' im Magdeburger 'Forum Gestaltung'
Foto: © 2018 by Christiane Baumann


Anmerkung:
[1] Erklärung des Büros für surrealistische Foschungen, in Surrealismus in Paris 1919-1939, hg. u. mit einem Essay v. Karlheiz Barck, Leipzig Reclam 1986, S. 133.

Inger-Maria Mahlke
Archipel
Roman
Hamburg Rowohlt Verlag 2018
429 Seiten,
20,00 Euro,
ISBN: 978-3-498-04224-0


4. Dezember 2018


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