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REZENSION/030: Lukas Rietzschel - Mit der Faust in die Welt schlagen (SB)


Lukas Rietzschel

Mit der Faust in die Welt schlagen

von Christiane Baumann


Wenn der Schornstein im Schamottewerk nicht mehr raucht - Lukas Rietzschels sozialkritisches Romandebüt Mit der Faust in die Welt schlagen

"Ein Hochhaus stand noch, dagegen schlug Marco mit seiner bloßen Faust" (69) - Es ist eine Episode am Beginn von Lukas Rietzschels Roman-Erstling Mit der Faust in die Welt schlagen. Sie spielt im Schulhort, doch sie spiegelt exemplarisch, wie sich angestaute Wut im kindlichen Spiel entlädt. Aus dem Spiel wird wenige Jahre später bitterer Ernst, wenn der Neonazi Menzel erklärt: "Und dann will ich auf alles einschlagen, richtig rein mit der Faust, bis alles blutet." (293) Den Weg dorthin beschreibt Rietzschel in seinem Roman. Es kommt nicht so häufig vor, dass das Debüt eines Newcomers auf Anhieb die Feuilletons erobert und als einer der "besten und wichtigsten Romane des Jahres" (Stern) gefeiert wird. Rietzschels Roman über die Radikalisierung zweier Brüder in einem ostsächsischen Ort, die sie schließlich ins rechte Milieu führt, ist das gelungen. Dazu trug bei, dass das Erscheinen des Romans zeitlich mit den Ausschreitungen von Chemnitz im Frühherbst 2018 zusammenfiel, was ihn zum "Ost-Roman des Moments" (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) werden ließ. Der 1994 in der sächsischen Oberlausitz geborene Rietzschel hat in Interviews nachdrücklich den Anspruch auf Fiktionalität verteidigt. Er habe kein "Sachbuch" geschrieben, betonte er. Tatsächlich waren die Entwicklungen von Chemnitz während des Schreibprozesses nicht abzusehen. Die Aktualität verdrängte in der Diskussion zudem, dass Rietzschels Geschichte zwar in Ostsachsen angesiedelt ist, aber gesellschaftliche Zusammenhänge aufzeigt, die keineswegs nur Ostdeutschland betreffen.

Der Roman beginnt im Jahr 2000 in Neschwitz in der sächsischen Oberlausitz, elf Jahre nach der Wende. Der Ort liegt in der Landschaft "wie ein Steg zwischen Tongruben und Steinbrüchen," (10). Tristesse deutet sich an. Im Hintergrund ist der Schornstein des Schamottewerkes zu sehen, "eine Ziegelesse, die nicht mehr rauchte, seitdem die Mauer gefallen war." (10) Nach dem Werk schloss die Kantine, die für kurze Zeit noch einen Treffpunkt der ehemaligen Arbeiter bildete. Die Industriebrache steht in scharfem Kontrast zu den einst vollmundig versprochenen "blühenden Landschaften". Dennoch schauen die Zschornacks optimistisch in die Zukunft, bauen sie doch ein Haus, das demnächst bezogen werden soll. Die Zeichen stehen auf Neubeginn und Aufbruch, Ausbruch aus dem sozialen Milieu der Wohnblöcke, der Plattenbausiedlung. Doch in den sprachlichen Bildern kündigt sich bereits Unheilvolles an. Das "Feld" am Haus "sah aus wie ein schwarzes Loch", wie der "Trichter eines Vulkans", wie "Dresden, als es brannte" (11), wobei der sechsjährige Tobi mit diesem Feuer und der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg noch nichts anfangen kann.

Erzählt wird aus der Perspektive der Brüder Tobias und Philipp. Der Leser sieht mit ihren Augen die Welt, hört mit ihren Ohren die Gespräche der Erwachsenen, der Eltern, die für "Lehrer, Ärzte, Beamte, Bonzen und Politiker" (13) nur Verachtung übrig haben, denn sie sind etwas "Besseres", verdienen mehr Geld, haben einen privilegierten Status, während die Mutter als Krankenschwester und der Vater seit seiner Umschulung als Elektriker arbeitet: "Abschluss aberkannt, Umschulung, Umschulung, Weiterbildung" (15) - Brüche in den Erwerbsbiographien werden als Ergebnis der Wiedervereinigung sichtbar. Der Vater von Tobias und Philipp hatte ursprünglich Kupplungen gebaut: "Was uns alles versprochen wurde" (15), heißt es dazu lapidar.

Das stillgelegte Schamottewerk, das als Motiv den Roman durchzieht, wird zum Symbol verlorener Existenzen und für den Verlust der Identität. Als der Schornstein gesprengt werden soll, erzählt der Großvater von den Männern, "die über Generationen dort arbeiteten. Söhne, Väter, Großväter. Kamen gemeinsam nach Hause. Wurden gemeinsam arbeitslos." (131) Die gewachsenen sozialen Strukturen gehen mit der Schließung des Werkes systematisch kaputt. Die Grundschule geschlossen, "keine Sparkasse mehr, kein Bäcker, keine Apotheke, kein Arzt." (297) Enttäuschungen, Kränkungen und Existenzängste schlagen zu Buche. Die Schicksale sind bedrückend, denn sie verbindet der soziale Abstieg. Uwe wird von seiner Frau in Richtung Westen verlassen, weil sie dort besser verdient. Gerüchte, er habe sie bespitzelt, zerstören seine Existenz. Er verfällt dem Alkohol, verliert die Arbeit und nimmt sich schließlich das Leben. Junge, gut ausgebildete Mädchen verlassen die Region, weil sie im Westen bessere berufliche Chancen haben. Der Neonazi Menzel resümiert in seinem Jargon: "Die Weiber hauen alle ab. [...] Nichts mehr zu ficken" (313). Auch von den Jungen nutzt jeder, dem sich die Chance bietet, die Möglichkeit, in die alten Bundesländer zu gehen. Mit der Abwanderung aus dem ländlichen Raum gerät das soziale Gefüge ins Wanken. Die Jugendlichen, die bleiben, fühlen sich als "Versager" (265). Marcos Bruder ist im Knast, Felix drogenabhängig und im Gefängnis, Axels Bruder noch immer arbeitslos. Als in der ehemaligen Grundschule Flüchtlinge untergebracht werden sollen, bringt das das Fass zum Überlaufen. Tobias, nach dem Tod des Großvaters und der Trennung der Eltern entwurzelt, sieht den Brandanschlag als letzte Möglichkeit, um inmitten von empfundener Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit ein Zeichen zu setzen.

Der Roman ist episodisch angelegt. In einzelnen Szenen werden markante Situationen zwischen 2000 und 2015 aufgeblendet, die zusammengesetzt einen Film ergeben, dessen Bilder das sukzessive Abgleiten der Brüder in das rechte Milieu dokumentieren und so gut wie kommentarlos für sich stehen. Jahresangaben und Zeitereignisse, von Nine Eleven über die Anschläge auf die Asylbewerberheime in Hoyerswerda und Rostock bis zum Einmarsch der Russen auf der Krim, erzeugen Authentizität, die den Charakter des Dokumentarischen verstärkt und sich auch in der verwendeten Alltagssprache widerspiegelt. Es wird mit Jargonismen gearbeitet, die das Milieu sehr genau einfangen. Szenerie und Situationen werden wie im Sekundenstil, einem naturalistischen Stilelement, beschrieben. Tristesse und zunehmender Kommunikationsverlust sind in das Staccato-Erzählen übersetzt. Die Sprache wirkt mit ihren unvollständigen Sätzen und hingeworfenen Wortfetzen bruchstückhaft, wie der Spiegel einer zerbrochenen Welt und wie das Gegenprogramm zu den langen, kunstvollen Sätzen eines Thomas Mann, von dem sich Rietzschel auch im Interview absetzt, hingegen Autoren wie John Steinbeck, bei dem es um "Arbeiter und Ungerechtigkeit" (Leipziger Volkszeitung) geht, bevorzugt.

Der "Auftritt der Welt" (51) im Fernsehen mit Bildern, die Krieg und Vernichtung assoziieren, erreicht auch die kleine Welt von Neschwitz. Er wird als bedrohlich empfunden. Dieses Gefühl der Bedrohung, latenter Rassismus, der sich besonders im Verhältnis zur sorbischen Minderheit zeigt, und ungelöste soziale Probleme als Ergebnis einer von Profitstreben geprägten Gesellschaft bilden eine gefährliche Mischung, die zum Nährboden rechter Gewalt wird. "Es braucht mal wieder einen richtigen Krieg" (294), meint Tobias, womit sich der Kreis zur eingangs erinnerten Zerstörung Dresdens schließt. Rietzschel zeigt in seinen filmischen Szenen, dass die Übergänge von der stillen Mitwisserschaft über das Beschmieren der Wände mit Nazisymbolen und Sachbeschädigung bis zur Mitgliedschaft in Neonazi-Netzwerken, zu offener Gewalt und zum Anzünden der Grundschule fließend sind. Ihm gelingt zudem in seinem Erzählen aus der Perspektive der Brüder die Gratwanderung, dass sich der Leser einerseits in ihre Sichtweise einfühlt, andererseits zunehmend Distanz zum Erzählten aufbaut.

Der Roman dokumentiert den sozialen Abstieg einer ländlichen Region nach Schließung des Schamottewerkes und damit einhergehenden massiven Entlassungen. Die daraus resultierenden Traumata der Elterngeneration wirken in den Kindern nach. "War doch logisch, dass die alte DDR sich wehren würde" (270), sagen die Neonazis, die, um 1990 geboren, diese DDR gar nicht mehr kennengelernt haben. Etwas anderes scheint hier zu oszillieren. Mit der Wiedervereinigung wurden im ehemaligen Arbeiter- und Bauern-Staat die bürgerlichen Eliten wieder in ihre Rechte eingesetzt. Damit war der privilegierte Status der Arbeiterschaft in der DDR, Zugänge zu Bildung und Kultur, die massiv gefördert wurden, eine im Vergleich zu Intellektuellen komfortable Entlohnung und anderes, passé. Auch das spielt wohl beim Hass auf bessergestellte "Lehrer, Ärzte, Beamte, Bonzen und Politiker" eine Rolle, die als Eliten den Staat repräsentieren. Der Roman-Erstling des 25-jährigen Lukas Rietzschel ist eine engagierte Wortmeldung zum Rechtsruck in unserer Gesellschaft, der keineswegs nur den Osten betrifft. Er zielt auf die sozialen Ursachen, indem er zeigt, was es bedeutet, wenn der Schornstein des Schamottewerkes nicht mehr raucht und "Vulkane" ausbrechen, deren Lavastrom die Botschaft "Unser Land. Unsere Heimat" (314) verkünden.

Lukas Rietzschel
Mit der Faust in die Welt schlagen
Roman
Berlin, Ullstein Buchverlage 2018
317 Seiten,
20,00 Euro,
ISBN: 978-3-550-05066-4

4. April 2019


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