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REZENSION/034: Manja Präkels - Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß (SB)


Manja Präkels

Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

von Christiane Baumann


Vom Nachbarsjungen zum Nazischläger
Manja Präkels Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß erzählt vom Mauerfall, von sozialem Abstieg und rechter Gewalt

Die Ich-Erzählerin Mimi Schulz in Manja Präkels Romandebüt Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß steht zur Autorin in einer biographisch-authentischen Beziehung. Sie ist wie diese im Winter 1974 in einer Havelstadt geboren. Präkels stammt aus Zehdenick im brandenburgischen Landkreis Oberhavel, das seit 2013 offiziell den Beinamen "Havelstadt" trägt und sich durch die um die Jahrhundertwende dort entdeckten Tonvorkommen zu einer der bedeutendsten Ziegelei-Regionen Europas entwickelte. Der Roman reißt diesen historischen Hintergrund an und führt dann in das "Zeitalter der volkseigenen Betriebe" und in "die Stadt der Proletarier", in eine Kleinstadt mit "fernbeheizten Neubauwohnungen" und "Konsum-Verkaufsstelle" (12), wie sie für die DDR typisch waren. Das Bemühen um historische Genauigkeit, charakteristisch für dokumentarische Literatur, wird erkennbar. Den Eindruck der Authentizität verstärkt die Widmung, die an den Tod zweier Menschen erinnert und damit an Verlusterfahrungen der Autorin. Dieser dokumentarische Anspruch reibt sich an dem ungewöhnlichen Titel Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß, der auf Unmögliches, ja Unvorstellbares weist. Er deutet auf poetische Brechungen. Zugleich öffnet der historisch besetzte Name im Titel einen assoziativen Raum, der sich mit dem Zweiten Weltkrieg, der Nazizeit, mit Tod und Vernichtung verbindet und der das alte Sprichwort, "mit jemandem sei nicht gut Kirschen essen", aufnimmt. Damit ist das ästhetische Konzept des Romans im Spannungsverhältnis von Dokumentation und Fiktion ebenso umrissen wie das Themenfeld.

Das Erzählen beginnt an einem markanten Punkt. Der Tod des Vaters und das Wiedersehen mit "Hitler" beim Leichenschmaus, setzen das Erinnern in Gang. "Hitler", das ist der zwei Jahre ältere Oliver, ein Freund aus Mimis Kindheitstagen, mit dem sie in der kleinen Havelstadt aufwuchs. Präzise wird das DDR-Kleinstadtmilieu in der Havelstraße der 1970er Jahre beschrieben, in der "'alle uffnander'" (10) wohnen und eine verschworene Gemeinschaft bilden. Man begeht zusammen Geburtstage, Hochzeiten und Todesfälle. Alle tragen "die gleichen Stricksocken aus Wollresten" (11). Das führt zu Uniformität, meint aber vor allem soziale Gleichheit, ein Programm, das der Sozialismus vorgab: gleiche Chancen für alle, für Mann und Frau, für Kinder aus dem Intellektuellen- ebenso wie aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu. Mimis Mutter liefert ein Beispiel für die veränderten Geschlechterrollen. Die selbstbewusste Frau hat studiert und "rackert von früh bis spät" (12), um die Doppelbelastung durch Beruf und Familie zu stemmen. Als Pionierleiterin einer Schule und spätere Staatsbürgerkundelehrerin ist sie systemkonform und angepasst. Den Kontrapunkt hierzu bildet Mimis Vater: "Er roch nach Bier und Zigaretten, trug langes, zauseliges Haar, einen Dreitagebart" (12). Er betreibt einen Gemüseladen, wird wegen illegaler Geschäfte strafversetzt und rappelt sich wieder zum Laden-Chef auf. Der Vater, Kneipengänger und Fußballfan sowie zuständig für schöne Kindheitserlebnisse, sucht die Nischen. Biermann, der Name seines Hundes, ist Programm.

Mit dem Umzug in ein kleines Haus auf der anderen Seite des Flusses und der Einschulung bekommt Mimis vertraute Welt Risse. Mimi erlebt jene Sozialisierung, die alle nach dem Mauerbau in der DDR Geborenen mehr oder weniger prägte. Doch neben dem üblichen Pionier- und FDJ-Leben werden ihr als ausgezeichneter Schülerin und Tochter einer Pionierleiterin besondere "Ehren" zuteil. Dazu gehört der Aufenthalt in der Pionierrepublik am Werbellinsee, wo sie für den Weltfrieden nahezu militärisch getrimmt wird. Das Auseinanderfallen von sozialistischem Ideal und real-existierendem Sozialismus entwickelt sich in den 1980er Jahren zur prägenden Alltagserfahrung, der sich auch Mimi nicht entziehen kann. Im Ziegelwerk, dem Ort des polytechnischen Unterrichts, ist die Zeit vor einhundert Jahren stehengeblieben. Mobbing in der Schule gehört ebenso zur Realität wie das asoziale Milieu der halbverfallenen Mietskasernen, "Randexistenzen" (71) und sich unterschwellig äußernde Russen- und Ausländerfeindlichkeit. Die kinderreichen Findigs, die Mimi kennenlernt und deren Name auf die bekannte Hörfunkserie "Was ist denn heut' bei Findigs los?" anspielt, entsprechen so gar nicht der mustergültigen DDR-Radio-Familie, die täglich eine heile Welt vorgaukelt. Mimi fühlt sich wie der "letzte Pionier" - "Timur - ohne Trupp" (72) -, was ein zum Lektürekanon der DDR gehörendes Buch des sowjetischen Schriftstellers Arkadi Gaidar paraphrasiert. Mit dem Mauerfall ist diese Welt, deren Kapitel im Roman mit scheinbar zeitstabilen Begriffen wie "Fahnenappell", "Manöver", "Arbeit" oder "Schwüre" überschrieben sind, zerstört. Damit beginnt die eigentliche Geschichte, die in der Wende- und Nachwendezeit bis etwa 1995 angesiedelt ist.

Mit dem Ende der DDR gerät das bisherige Leben aus den Fugen. Der "Westen", grell und bunt, steht bis in die verbal gehaltenen Kapitelüberschriften - "feiern", "fahren", "tanzen" oder "kaufen" - für Betriebsamkeit und ziellose Bewegung. Das Land verfällt in einen Taumel nationaler Selbstüberhebung, der nahtlos in nationalistische Sprüche von der "Reinheit des deutschen Volkswesens" (101) übergeht. Doch der vom "Westgeld" ausgelöste kollektive Konsumrausch endet abrupt in den Schlangen vor dem Arbeitsamt. Die Welt zerfällt "in zwei Hälften" (120): in Arm und Reich. Das Vakuum aus Identitäts- und Arbeitsplatzverlust, Enttäuschung, Verunsicherung und Perspektivlosigkeit bildet den Nährboden für Radikalisierung und Gewalt. "Kahl rasierte Schläger" (116), denen sich immer mehr Schulkameraden und Freunde Mimis anschließen, beherrschen zunehmend die Schulhöfe. "Glatzenbanden" machen auf offener Straße "Jagd auf Unangepasste, Verweigerer oder Ängstliche" (127). Die rassistisch motivierten Ausschreitungen gegen Wohnheime mit Vertragsarbeitern und Asylanten in Hoyerswerda im September 1991 fallen mit ähnlichen Vorkommnissen in der Havelstadt zusammen. Mimi, selbst orientierungs- und haltlos, versucht, sich in der "Wolfshöhle", einem Treff von Metalfreaks, Kiffern, Hippies und Grufties, zu betäuben: "weiterfeiern, weitertanzen, weitertrinken" (146). Das rauschhafte Leben kompensiert geistige Leere und Ziellosigkeit. Ein Überfall der "Glatzen" (147) auf die "Wolfshöhle" Anfang Januar 1992, bei dem einer ihrer Freunde getötet wird, beendet das orgiastische Treiben. Mimi, wie gelähmt, will "verstummen", "liegen bleiben" und "wegfliegen". Angst, Wut und Ratlosigkeit machen sich breit.

Der Anführer der Neonazis, die in der Havelstadt "in den Krieg" (151) ziehen, ist Mimis einstiger Freund Oliver, der in einer "Verwandlung" (123) als "Hitler" aufersteht, was an Franz Kafkas gleichnamige Erzählung erinnert, in der sich Gregor Samsa an einem Morgen in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt sieht und damit jenen Zustand der Deformation verkörpert, den er als Mensch im kapitalistischen System bereits erreicht hat. Doch die "Verwandlung" in Präkels Roman ist nicht nur ein individueller, sondern ein gesellschaftlicher Vorgang. Die Havelstadt wird zu einem Ort rechter Gewalt, an dem der Widerstand engagierter Bürger scheitert, weil der Staat als Ordnungsmacht versagt. Auch die Justiz erweist sich als zahnloser Tiger, wenn der Anführer einer Menschenjagd, die mit einem schwerverletzten Opfer endete, mit drei Jahren Gefängnis davonkommt. Und die Medien schweigen. Mimis Recherche als Reporterin der Lokalzeitung über einen gerade aus der Haft entlassenen, früheren SS-Obersturmbannführer, der nun "vor jungen Kameraden" (206) Vorträge hält, wird abgelehnt. Der Herausgeber findet "nichts Spektakuläres an der Geschichte" (206). Die geradezu kafkaesk anmutenden Vorgänge entlarven machtpolitische Strukturen und soziale Zusammenhänge. "Die Grenze zwischen Albtraum und Wirklichkeit ist durchlässig." (159) Nach dem Tod eines zweiten Freundes flieht Mimi in das "Gewimmel" Berlins, das sie "schützend" (222) aufnimmt und einen neuen Anfang ermöglicht.

Einzig Flucht bleibt als Ausweg. Doch Jahre später, mit dem Tod des Vaters, drängen die Ereignisse an die Oberfläche. Mimi begreift, dass es ,keinen Rausch" (225) gibt, der gegen Erinnerungen ankommt. So wie die Schrecken des Zweiten Weltkrieges ihre Großeltern lebenslang heimsuchten, sie Bilder und Traumata, die oftmals nicht ins offizielle Geschichtsbild passten, an die folgenden Generationen weitergaben, wird sie die Gespenster der Vergangenheit nicht los. Sie will verstehen, was "eigentlich aus der Zukunft geworden" war in der kapitalistischen Welt, in einem Deutschland, das "nach etwas (klang, d. Vfn.), das hinter uns gelegen hatte." (109) Diese Frage, die den Verlust einer auf soziale Gerechtigkeit gründenden Gesellschaftsutopie erkennen lässt, ist mit der Identitätssuche der Erzählerin unmittelbar verknüpft. Sie lässt die Ereignisse Revue passieren, mehr konstatierend als kommentierend, vergewissert sich der Fakten, die sie dem "trunkenen Erinnern" der Trauergesellschaft, dem nostalgisch verklärten "Wisst ihr noch, der Frühling '74?" (230), entgegensetzt. Am Ende stehen keine Gewissheiten, nur die "Ahnung" (230), dass der Junge, den sie Hitler nannten, ihr damals vielleicht das Leben rettete. Damit nimmt das Ende des Romans den Erzählfaden des Anfangs auf und das Erzählen gegen das Vergessen wird zur eigentlichen Rettung, das an die Stelle fehlender gesellschaftlicher Lösungsmöglichkeiten tritt.

Manja Präkels' Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß hat neben dem Deutschen Jugendliteraturpreis den renommierten Anna-Seghers-Preis 2018 erhalten und seit seinem Erscheinen 2017 bereits sieben Auflagen erreicht. Er ist aktueller denn je, weil er gesellschaftliche Mechanismen sichtbar macht, die den Bodensatz rechter Ideologie bedienen. Schon frühzeitig hatte der aus der DDR stammende Autor Uwe Saeger (*1948) das Aufleben rechten Gedankenguts unter Jugendlichen nach dem Mauerfall in seiner Erzählung Landschaft mit Dornen thematisiert und in den Kontext des sozialen Abstiegs, von Arbeits-, Chancen- und Perspektivlosigkeit, gestellt. Die Erzählung, die 1993 erschien, sorgte seinerzeit als Verfilmung für Aufsehen und erhielt den bedeutenden Grimme-Preis. Die Geschichte, die im Sommer 1990 in einer Kleinstadt der ostelbischen Provinz spielt, beschreibt die Radikalisierung von vier Jugendlichen, deren "Heimat" eine abgewirtschaftete Tongrube ist und die im Leben keinen Sinn und im Sterben die "einzige Möglichkeit [sehen, d. Vfn.], etwas zu erleben" (31). Die Mauer ist weg, doch trotzdem, stellen sie fest, geht "alles kaputt" (33). Sie sind arbeitslos, ohne geistige Orientierung, lassen sich Glatzen scheren und planen schließlich aus Langeweile einen Mord. Sie töten, weil für sie "absolut nichts mehr zählt" (56). Die Brutalität des Erzählens aus Sicht der gewaltbereiten Jugendlichen verstörte damals, ebenso der Schluss, der den Leser ratlos, ja hilflos zurücklässt. Nun haben sich Zeitzeugen aus der Generation dieser Jugendlichen mit Texten zu Wort gemeldet, die ähnliche Befunde liefern. In Präkels Roman geben rechte Schläger im Prozess als Motiv ihrer Menschenjagd Langeweile (188) an. In Lukas Rietzschels 2018 erschienenem Debüt Mit der Faust in die Welt schlagen, wird der Weg zweier Brüder in einem ostsächsischen Ort elf Jahre nach der Wende ins rechte Milieu und dessen etablierte Strukturen nachgezeichnet. Spätestens seit diesem Roman dürfte klar sein, dass Rechtsradikalismus kein ostdeutsches, sondern ein gesellschaftliches Problem ist, das an sozialen Brennpunkten eine besondere Dynamik und Schärfe entfaltet.

Manja Präkels
Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
Roman
Berlin, Verbrecher Verlag
232 Seiten
20,00 Euro
ISBN: 978-3-957-32272-2

Zitate aus:
Uwe Saeger: Landschaft mit Dornen. Eine Erzählung. Halle, Mitteldeutscher Verlag 1993.

5. Juli 2019


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