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REZENSION/037: Volker Braun - Handstreiche (SB)


Volker Braun

Handstreiche

von Christiane Baumann


"Risse, die durch die Wirklichkeit selbst gehen"
Zu Volker Brauns Band Handstreiche

"Schreiben: überlegte Handlung, es kann auch (: Handke) ein Handstreich sein." (34) Als Volker Braun dieses Notat mit seinem hintersinnigen Wortspiel, Handlung - Handke - Handstreich, zu Papier brachte, war vom Literaturnobelpreis für Peter Handke, der in diesen Tagen verkündet wurde und für reichlich Diskussionen sorgte, noch keine Rede. Handke hatte 1996 vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges und des Massakers von Srebrenica an nichtserbischen Bosniern mit seinem Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien scharfe Kontroversen ausgelöst, die jetzt anlässlich der Nobelpreisverleihung wieder aufflammten. Der mit dem diesjährigen Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Saša Stanišić (siehe die Rezension zu seinem prämiierten Band Herkunft, www.schattenblick.de/infopool/d-brille/redakt/dbrr0033.html, 10. Juni 2019) griff in seiner Preisträger-Rede Handke an und zeigte sich "erschüttert" über die Nobelpreisverleihung, da die Zeit "so, wie Handke sie im Falle von Bosnien beschreibt, nie gewesen" sei. Handkes Text, kritisiert wegen seiner Sympathien für Serbien, verschweigt Srebrenica, wie behauptet, nicht, prangert vielmehr die einseitige und marktschreierische Berichterstattung an und fragt danach, wie ein solches Morden, er nennt es "Tausendfachschlachten", nach mehr als drei Jahren Krieg noch möglich war und vor allem warum. Die Fragen mögen naiv anmuten. Sie passten vor allem nicht zur offiziellen Berichterstattung. Es sind Fragen, die Literatur immer bewegt hat. Volker Braun stellte 2000 zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises ähnliche Fragen des Dichters des Woyzeck an den Beginn seiner Rede: "Wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen?" und "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?"

Mit einem "Handstreich" Brauns ist man mitten in der Geschichte, insbesondere der deutschen, denn es war Serbien, gegen das die Nato 1999 im Kosovo-Krieg ohne UNO-Mandat Luftangriffe flog, an denen sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen beteiligten. Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg zeichnete 2001 die WDR-Reportage Es begann mit einer Lüge nach, die offenlegte, dass die Leitmedien in Deutschland seinerzeit in ihrer Berichterstattung einseitig aus Regierungsquellen schöpften, die die NATO-Luftangriffe mit ethnischen Säuberungen und einer humanitären Katastrophe begründet hatten.

Volker Braun gehörte zu jenen, die 2006 in der Debatte um die Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Handke den Autor verteidigten, weil er sich der Aufgabe stelle, "den Frieden zu denken". Ein weiteres Handke-Notat in Brauns Handstreichen, zwischen 2015 und 2017 entstanden, deutet im "wir" auf Solidarisierung: "Handke, neben den ich mich auf die Treppe hocke, sitzt in seine Miene vermummt, und sagt mit einmal rückhaltlos: Was fangen wir nun an?" (58)

Im jüngst, zum 80. Geburtstag Volker Brauns erschienenen Band, wird das Schreiben als "überlegte Handlung" immer wieder zum "Handstreich", in Grimms Wörterbuch als "plötzlicher stürmender Andrang im Kriege, Überrumpelung" beschrieben. Das Widersprüchliche, das im Titel lauert, ist Brauns Poesie eingewoben: "Was erwartet ihr von mir? Widerspruch. Widersprüchliches werdet ihr hören" (11), liest man. Zwei Teile mit Notaten, Aus der Werkzeugtasche und Ausschreitungen auf dem Papier, gruppieren sich um den mittig, und damit von zentraler Bedeutung, platzierten Prosatext Die Flut in der Leidsestraat. Die Glitzerwelt der Amsterdamer Leidsestraat und die Spa-Welt in Maspalomas können die Welt nicht vergessen machen mit ihren Ausgegrenzten, Flüchtlingen und Obdachlosen wie jenem Straßenkünstler, einer clownesken Figur, deren "kunstlose Existenz", "den Riß in einem Wesen, ja in der Welt! offenbarte" (48). Um diesen "Riß" kreist Volker Brauns Schreiben. Es ist für ihn Georg Büchner, der zuerst "die Risse, die durch die Wirklichkeit selbst gehen", diagnostizierte. Dieser "Riß" fand sich bereits in Brauns in den 1970er Jahren entstandener Unvollendeter Geschichte, deren subversive Sprengkraft in der DDR zu einer komplizierten Veröffentlichungsgeschichte führte. Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. regten die Protagonistin Karin zu aufmüpfigem Denken an: "Das Ungeheure in dem Werther war, daß da ein Riß durch die Welt ging, und durch ihn selbst. Das war eine alte Zeit. Und doch war auch in all dem Äußeren ein Inneres, W. drang nur nicht hinein, ein tieferer Widerspruch - den man finden müßte! Wie würde ein Buch sein - und auf sie wirken, in dem einer heute an den Riß kam..." Die Flut in der Leidsestraat endet an einem solchen "Riß": im EUROSAAL im Berliner Bundesfinanzministerium, einem geschichtsträchtigen Ort, immer wieder Schaltzentrale der Macht: während des Nationalsozialismus, in der DDR, später Handlungsort der "Granden der Treuhand" (49). Der Dichter steht mitten in der Geschichte, vor dem "jüngsten Gericht" (53), sich Entscheidenmüssen für oder gegen den "Riß" nach dem "Erdbeben 1989" (12) in Berlin, als ein Weltreich zusammenbricht (Karl Mickel). "Zerrissenwerden ist jetzt die Erfahrung" (52). Der poetische Anspruch Brauns, der weiter greift als Tagesliteratur, der geschichtsphilosophischem Denken entspringt, wird bekräftigt: "Man muß nicht alle Symptome aus den Verhältnissen kratzen, aber der Riß soll sichtbar werden." (14) Macht war Volker Braun immer verdächtig, weil sie die Widersprüche "plattwalzt".

Grundsätzliches wird in den Handstreichen verhandelt, die eingangs auf Goethes berühmtes Gedicht Vermächtnis Bezug nehmen: "'Was fruchtbar ist allein ist wahr / Geselle dich zur kleinsten Schar.'" Braun "prüft" in dieser "Autobiografie aus Steckbriefen" (37) nochmals das "allgemeine Walten", wie es bei Goethe heißt. Es ist die Suche nach Wahrheit im Angesicht der Geschichte. Es genügt nicht die einfache Wahrheit, hieß ein Braun-Notat aus dem Jahr 1966, in dem er "die menschliche Befreiung" als langen Prozess beschrieb und "die jeweiligen Widersprüche, die ihn machen", als notwendig. Jetzt stehen wir "an der Abbruchkante der Geschichte. Unsere Erfahrung: die Verwerfung." (12) Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung", das im Geschichtsprozess immer zur Verfügung stand, hat sich erschöpft und wird zurückgenommen: "Man kann ohne Hoffnung leben, aber nicht aus Prinzip." (18)

Die Notate der Handstreiche sind sorgfältig komponiert. Die ersten Seiten geben die Themen vor, setzen Schlüsselwörter, die Brauns Schaffen durchziehen und sein dichterisches Hinterland erkennen lassen. Die Zitatmontage wird zum ästhetischen Instrument, das Veränderungen im geschichtsphilosophischen Entwurf Brauns sichtbar macht, dazu aber die Kenntnis der Quellen verlangt. Selbstzitate ("Steckbriefe") reichen bis in die frühe Schaffenszeit Brauns zurück, daneben immer wieder Büchner, Brecht, Dante, Hölderlin, Shakespeare, Kafka, Maurer.

"'Arbeit ist die große Selbstbegegnung des Menschen. / Wüßte er sonst, wer er ist?'" (10) Das Georg-Maurer-Zitat aus dem berühmten Zyklus Das Unsere (1962), das auf die Sächsische Dichterschule weist, auf die Maurer prägend wirkte und zu der auch der mehrfach zitierte Karl Mickel gehört, schlägt das große Thema Brauns an: Arbeit, nun: Arbeitslosigkeit. Wir begegnen in den Handstreichen einer Figur aus dem 2008 veröffentlichten Roman Machwerk oder das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer. Ein Schelmenstück. Dort lernte man den arbeitslosen Flick als modernen Don Quichotte kennen. Einst im Tagebau der Niederlausitz auf die Beseitigung von Havarien spezialisiert, stiftete er mit seinem Selbstverständnis als arbeitender Mensch in der Nachwende-Welt der Arbeitslosigkeit und Arbeitsämter, der Gelegenheits- und 1-Euro-Jobber reichlich Verwirrung. Flick wird zum Mitstreiter des Ich-Erzählers, zum "fiktiven Helden, der wie Don Quichotte in der Mancha gelebt hat" (37). Das Lachen bleibt beim Lesen im Halse stecken: "Flickwerk, Rettungsversuche der unheilen Welt" (15), jener "Folgelandschaften, und -gesellschaften" (14), in denen aus dem einstigen Recht auf Arbeit ein Heer aus Arbeitslosen geworden ist: "Das Volk gab sein Eigentum ab und ließ sich die Freiheit aushändigen." (20) Brauns berühmtes Gedicht Das Eigentum von 1990 drängt sich auf: "Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. / KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN ." Auch hier ist es Georg Büchner, der zum Stichwortgeber wird, allerdings in der Umkehrung.

Die Abwicklung Ostdeutschlands, die selbstverschuldete Enteignung der Arbeiter, den Verlust an Identität und menschlicher Würde hat Braun meisterhaft in der Parabel Die vier Werkzeugmacher (1996) gestaltet. Aus den dicken, satten Werkzeugmachern, die es versäumten, auf die Straße zu gehen, um ihr Eigentum und Arbeit als "höchstes Gut" zu verteidigen, werden "arbeitslose Wichte", "Clowns", denen "ein Werkzeug, das zur Hand ist", nicht zur Verfügung stand und steht: "begreifen" (9). Bereits in dem 1979 erschienenen Erzählband Das ungezwungene Lebens Kasts rückten Werkzeugmacher einer DDR-Fabrik in den Fokus. Uninteressiert, "die Macht auszuüben", machte ihnen die Arbeit jedoch "Spaß", was "mehr wert als Geld" war, sozusagen eine "Kunst, wenn einem für jedes Teil was einfallen müsse." Erst in diesem Kontext offenbart sich die ganze Bedeutung des "Risses", den der Erzähler in Die Flut in der Leidsestraat im Straßenkünstler, in der "kunstlosen Existenz" dieser Clownsfigur erkennt. Die "Kunst" der Arbeit, verstanden als schöpferischer Akt, als "Selbstbegegnung des Menschen", ist zur Clownerie herabgesunken.

Braun fragt nicht ohne Trauer, aber ohne zu jammern und analytisch dem "Nichtgelebten" nach, wie in der gleichnamigen Erzählung. Der Berliner Alexanderplatz wird als Ort der wohl bedeutendsten Demo der deutschen Geschichte am 4. November 1989 erinnert, an der auch Braun mitwirkte. In diesem historischen Moment schien alles möglich, auch eine "Staatsform" als "ein durchsichtiges Gewand ..., das sich dicht an den Leib des Volkes" schmiegt, wie es ein Transparent forderte, das Braun in seiner Büchner-Rede zitiert. Im zweiten Teil der Handstreiche ist diese erträumte und ersehnte Staatsform nur noch "ein durchsichtiges Gewand", das "wie Lumpen am Leib" (69) hing.

Dem zweiten Teil des Bandes, den Ausschreitungen auf dem Papier, ist eine sich steigernde Radikalisierung eingeschrieben. Doch die Unnachgiebigkeit gepaart mit Resignation "trainiert" mit jeder Faser den aufrechten Gang. Die Ideen sind verbraucht, wie es in der Geschichte Was kommt (1996) heißt, aber "nachdem alles gewesen war, und keine Hoffnung geblieben war, war die Frage: was kommt?" Brauns Dialektik brilliert. In den immer härter werdenden "Hieben" scheint in einer Welt der "Transhumaniden" (73) einzig die Natur als Rückzugsort zu bleiben: "Die Bäume seine ernstesten Gefährten" (60). Der Mensch ist "ein Auslaufmodell. Er soll Spaziergänger werden." (64). Die Humanität versinkt im wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der sich damit als fragwürdig erweist. "Menschheitsbeerdigungsroboter" (83) bestimmen dieses "Jahrhundert des Mordens" (87), das, welch Irrwitz, "bedürftige Banken, demokratische Kriege" (74) kennt. Die Narrengeschichten werden immer kafkaesker, "klonesk" (73). Wo ist da Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit? "Einmal noch, einmal eine Gesellschaft, die aufbricht" (88), doch nicht "Volkseigentum plus Demokratie" als das noch nicht versuchte Experiment, der "Schmuck der Gleichheit" (23), die noch Brauns Büchner-Rede im Jahr 2000 prägten, werden gedacht, auch "nicht, daß es besser wird, daß es anders ist wird der Fortschritt" (88). Lediglich Veränderung ist das, was zu erwarten ist.

"Große Desillusionierungskunst" bescheinigte Gustav Seibt in seiner Laudatio dem Büchner-Preisträger Volker Braun. Von einer "Chronik, die erzählt, was im sozialistischen Deutschland gewollt und ersehnt, aber auch was real gelebt und gearbeitet wurde", war die Rede. Das ist richtig, doch Brauns Werk schürft tiefer in der Menschheitsgeschichte: "Das Denken ins Freie bringen" (90) - Eine Sentenz, die in dieser Formulierung an Hölderlins "Komm! ins Offene" erinnert, auch an dessen Sehnen nach einer Veränderung der Welt zum Besseren.

Brauns pointierter Wortwitz, sein tiefsinniger Humor und seine Heiterkeit, die sich auf Karl Marx beruft, der diese als "wesentliche Form des Geistes" (19) bezeichnete, machen die Lektüre dieses kleinen Bandes zum (Denk)-Genuss. Braun seziert die Worte messerscharf und setzt sie dann in einem neuen Wortsinn zusammen, nicht theoretisch-abstrakt, sondern sinnlich-erfahrbar. Das Schluss-Notat, ein Stimmengewirr der Vögel als "umfassende Aussprache über das Wesentliche" mündet in den Schlusssatz: "Fast glaube ich, daß sie genügt und ich keine weiteren Diskussionen wünsche." (91) Man hofft auf Widerspruch.

Volker Braun
Handstreiche
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2019
91 Seiten
ISBN: 978-3-518-42849-8

Zitate:

* Braun, Volker: Das Nichtgelebte. Eine Erzählung. Leipzig: Faber & Faber. 1996.

* Braun, Volker: Das ungezwungene Leben Kasts. Berlin/Weimar: Aufbau 1984.

* Braun, Volker: Das Wirklichgewollte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2000.

* Braun, Volker: Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000. Laudatio: Gustav Seibt. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2000.

* Braun, Volker: Die vier Werkzeugmacher. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1996.

* Braun, Volker: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate. Leipzig: Reclam 1979.

* Braun, Volker: Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer. Ein Schelmenstück. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2008.

* Braun, Volker: Unvollendete Geschichte. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1988.

* Der Kosovo-Krieg. Es begann mit einer Lüge. Dokumentation von Jo Angerer und Mathias Werth über den NATO-Einsatz im Kosovo. WDR, 8. Februar 2001.

30. Oktober 2019


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