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REZENSION/054: Antje Rávik Strubel - Blaue Frau (SB)


Antje Rávik Strubel

Blaue Frau

von Christiane Baumann


"Bücher sind zum Denken da"
Zu Antje Rávik Strubels preisgekröntem Roman Blaue Frau

In seinem Buch Die blaue Revolution (2020) bekennt sich der Autor Peter Staub zur Utopie einer Welt ohne Krieg und Ausbeutung. Die "blaue Revolution" soll die Klimakrise überwinden, weltweit soziale Gerechtigkeit schaffen, die Emanzipation der Frauen durchsetzen und Folgen der Kolonialisierung beseitigen. Seine Hoffnungen ruhen dabei auf einer "weiblich geprägten" Zukunft. In Antje Rávik Strubels kunstvollem wie berührendem Roman Blaue Frau spiegeln sich diese globalen Fragen im Schicksal einer jungen Frau, die Opfer einer brutalen Vergewaltigung wird, wider. Allerdings gibt es keine Hoffnung auf Erfolg. Der beziehungsreiche Titel weist auf die Vielschichtigkeit des Romans und weckt Assoziationen. Blaue Frauengruppe heißt ein bekanntes Gemälde des deutschen Bauhaus-Meisters Oskar Schlemmer, das 1931 entstand und dessen Frauenfiguren ebenso rätselhaft wie markant sind. Die Farbe Blau als Symbol des Himmels und des Wassers lässt an Unendlichkeit denken und an Tiefe, die das weibliche Prinzip verkörpert und die in der Widmung Strubels an Silvia Bovenschen als führende Vertreterin der feministischen Literaturwissenschaft seine Bestätigung findet. Aber auch die berühmte Erzählung Das wirkliche Blau aus dem Spätwerk von Anna Seghers drängt sich auf, in der die Suche nach dem Unbekannten und das Streben nach Selbsterkenntnis zum zentralen Movens werden. Nicht zuletzt ist auf die "blaue Blume" der Romantik zu weisen, die Symbol der Sehnsucht, der Identitätssuche und der Vereinigung von Realität und Traumwelt ist. All das dürfte bei der 1974 in Potsdam geborenen Antje Rávik Strubel, die Literaturwissenschaft, Psychologie und Amerikanistik studiert sowie Texte von Joan Didion und Virginia Woolf übersetzt hat und die für ihren Roman Blaue Frau 2021 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, mitzudenken sein.

Der Roman erzählt die Geschichte der Tschechin Adina, die 1984 geboren wurde und im Riesengebirge an der Grenze zu Deutschland aufwächst. Sie ist die letzte Jugendliche in ihrem Dorf Harrachov, "der letzte Mohikaner". Die literarische Figur des Kämpfers wird sie als unsichtbarer Schatten begleiten. Adina verlässt mit 21 Jahren diesen Ort für einen Sprachkurs in Berlin. Danach will sie in der deutschen Hauptstadt studieren. Als der Deutsch-Kurs beendet ist und das Geld ausgeht, kommt sie über die schillernde Fotografin Rickie als Praktikantin auf einen Gutshof in der Uckermark, wo ein europäisches Kulturprojekt entstehen soll. Dort wird sie von dem Ex-NVA-Unteroffizier Razvan, der den Gutshof gekauft hat, um ihn wiederzubeleben, dem schwäbischen Kulturnetzwerker Johann Manfred Bengel ausgeliefert, einem potenziellen Geldgeber für das Projekt mit exzellenten EU-Beziehungen. Dieser vergewaltigt Adina und foltert sie brutal. Sie entkommt, flieht nach Helsinki, wo sie in Leonides, einem estnischen EU-Abgeordneten mit Politik-Gastprofessur, eine vorübergehende Liebe findet, die sie das Geschehene zunächst vergessen macht. Leonides, ein Verfechter der europäischen Idee, der die Einlösung der Menschenrechte predigt, bedeutet Sicherheit und Geborgenheit. Doch die Vergangenheit holt Adina ein, als sie dem "deutschen Geist" aus der Uckermark bei einem Empfang, den sie mit Leonides besucht, wiederbegegnet. Adina begreift, dass es keine Flucht gibt. Das Refugium zerbricht. Leonides arbeitet mit ihrem Peiniger zusammen, der ein europäisches Netzwerk für "verfolgte Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen im Exil" gegründet hat und diese in Residenzen, zu denen das Gutshaus in der Uckermark gehört, mit Stipendien unterstützt. Die traumatische Wiederbegegnung mit Bengel, die zum Abschied von Leonides führt und die den Wunsch, ihren einstigen Peiniger vor Gericht zu bringen, weckt, ist Auslöser des Erzählens, das mit seiner poesievollen Sprache einen scharfen Kontrast zur Brutalität des Erzählten bildet.

Adinas Geschichte, angefangen von ihrer Kindheit in Harrachov bis zu ihrer Zeit in Helsinki, wird aus personaler Perspektive erzählt. Sie ist in eine Plattenbauwohnung in Helsinki geflüchtet und befindet sich in einer existenziellen Krise. Ohne "Viru Valge", einen Wodka aus Estland, erträgt sie das Leben und die Erinnerungen, die sie auszulöschen drohen, nicht. Diese Erzählerin wirkt verstört und desorientiert. Sie muss sich der Dinge, die sie umgeben und ihrer Erinnerungen, versichern. "Das sind die Bilder", "das sind die Gegenstände" oder "das ist die Vergangenheit", heißt es immer wieder im Romanverlauf. Sie will vor Gericht aussagen: "Wer eine Aussage macht, muss präzise sein". Das Erzählen zeugt vom Ringen um Genauigkeit ("So ist es glaubwürdig") und vom Wunsch, das Trauma, das sich nicht mehr verdrängen lässt, zu verarbeiten. Ihr Identitätsverlust zeigt sich in der Auflösung der Person. Sie ist Adina, Nina und Sala, hin und wieder entdeckt sie den Mohikaner in sich. Die Namen stehen für die Kindheit, für das traumatische Erlebnis in der Uckermark und die Zeit mit Leonides. Auf Seite sechzehn erscheint dann, wie im Motto von Inger Christensen zum ersten Roman-Teil angekündigt, die blaue Frau. Und "wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten".

Die Begegnungen mit der blauen Frau unterbrechen die Erinnerungen Adinas. Sie sind in der Ich-Perspektive erzählt, wobei dieses Ich teils Adina und teils eine Schriftstellerin, ein Alter Ego Strubels, ist, die in Helsinki als Stipendiatin weilt, um ihren Roman zu schreiben. Die blaue Frau wird zur Dialogpartnerin der Ich-Erzählerin, mit der sie sich zum Zustand der Welt austauscht. Der ist bis zum Wetterbericht verstörend. Es gibt "Warnungen für Landesteile, in denen das finnische Militär Manöver abhält. Eine Verbindung von Wetter und Krieg". Die Welt erscheint der Ich-Erzählerin bedroht und bedrohlich. Die Gespräche mit der blauen Frau am Hafen, einem Ort der Sicherheit und des Schutzes, sind Fluchtpunkt der Ich-Erzählerin und werden zum Raum der (Selbst)-Reflexion, in dem Schreiben und Welt kommentiert und hinterfragt werden. Die imaginierte blaue Frau erscheint als das andere, das überzeitliche Ich der autofiktionalen Erzählerin, die sich im Dialog ihrer (Schreib)-Identität als "politische Autorin" versichert. Sie wird zugleich zur Spiegelfigur Adinas. Die Erzählkonstruktion erinnert an Ilse Aichingers Spiegelgeschichte, aber vor allem an Ingeborg Bachmanns Roman Malina, dessen Erzählerin in einer geheimnisvollen Beziehung zu Ivan und Malina steht und in dem Figuren und Erzählebenen, Wirklichkeit und Traum ähnlich verschwimmen. Die blaue Frau ist eine außerweltliche Figur, eine "Nymphe" oder "Wasserhexe". Die überzeitliche Erzählebene der blauen Frau bildet den Gegenpol zum Grauen der erzählten Gegenwart. Sie steht für die Suche der Erzählerin nach einem Ausweg aus einer sie verstörenden und die Menschenrechte verhöhnenden Welt, in der ein Opfer seinen Vergewaltiger nicht vor Gericht bringen kann, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen, da es an Beweisen fehlt ("wenn du missbrauchst oder vergewaltigt wurdest, glaubt dir keiner"), Gerichte "keine gerechten Instanzen" seien und "sexuelle Fehltritte" selbst "den Besten" unterliefen.

Strubels Roman legt "Dunkelstellen" der Geschichte frei, Ereignisse, die Schmerz bereiten: "Wir vermeiden den Schmerz. Der Schmerz sinkt ins Dunkel, wird zu Dunkelstellen der Geschichte". Dazu gehören Krieg, Faschismus und KZ, Stalinismus und Gulag. Der Roman erzählt von den sozialen Verwerfungen, dem Ost-West-Riss im Europa der Gegenwart, in dem Rumänen auf finnischen Nerzfarmen schuften und osteuropäische Frauen von Westeuropäern sexuell ausgebeutet werden oder in dem eine hochqualifizierte tschechische Textildesignerin nach der "sanften Revolution" 1989 sich ihr Geld zum Überleben als Nachtportier verdienen muss. Symptomatisch steht für diesen Riss die missglückte deutsche Vereinigung, die als "Riesenreibach" demaskiert wird, den "Westfirmen nach der Wende" machten, indem sie sich alles "unter den Nagel" rissen. Strubel richtet den Fokus auf die Außenseiter Europas, für die Adina ein Beispiel liefert und für die die Birke zum Symbol wird. Bäume sind immer wieder Gegenstand der Betrachtung, für die Leonides die Begründung liefert. Für ihn verkörpern die Landschaftsmaler des "Goldenen Zeitalters mit ihrer Flächigkeit, der zentralen Stellung der Bäume vor großen, wolkenverhangenen Himmeln und ihren Blau-, Grün- und Erdtönen, [...] das Wesen der europäischen Kultur am deutlichsten". In diesem Zusammenhang aktualisiert der Roman das berühmte Brecht-Zitat, dass über Bäume zu sprechen bedeute, über Untaten zu schweigen. Heute, heißt es im Roman, "schließe das die Bäume ein".

Der Roman bewegt sich in einem dichten Geflecht literarischer Zitate, darunter Ilse Aichinger, Kurt Tucholsky, Virginia Woolf und Joan Didion. Ein Gedicht von Erich Mühsam über der "Menschheit klagendes Weh" ragt aus den literarischen Bezugnahmen heraus. Dort ist die Welt rettungslos Krieg und Vernichtung ausgeliefert: "Der Schrecken wütet. Die Erde brennt" und zwar "im Präsenz", wie die Erzählerin betont, heute und mitten in Europa. Der Roman nimmt diese Klage auf, die zur bitteren Anklage wird: "Die Duldung von Menschenrechtsverletzungen frisst Europa von innen her auf. Sie öffnet das Tor für eine neue, globale, kapitalistische Diktatur." Doch Leonides mahnende Worte erweisen sich als Worthülsen, erhält doch der Mann, der die Rechte Adinas mit Füßen tritt, letztlich einen Preis für Menschenrechte und Redefreiheit.
Wenn die Justiz für Gerechtigkeit nicht zu sorgen vermag, dann bleiben als Optionen Kapitulation, Selbstjustiz oder, wie im Roman, die Flucht in die Literatur zum "letzten Mohikaner", der kämpft und überlebt, aber im Kolonialisierungsfeldzug der Weißen gegen die Ureinwohner Amerikas Land und Volk verliert. Strubels Roman-Schluss deutet auf die Unlösbarkeit der Konflikte, auf Ausweglosigkeit.

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges bekommt der Roman, der lange vorher fertiggestellt war, eine erschreckende Aktualität. "Die Erde brennt" in Europa wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Profite der Rüstungsindustrie und der Öl- und Gaskonzerne dagegen sprudeln. Das System der Ausbeutung und Profitmaximierung, das sich über Menschenrechte hinwegsetzt, funktioniert unbeirrt. Das Durst-Motiv im Roman, Adina quält permanenter Durst, nimmt diese Thematik metaphorisch auf: "Eine mit der Angst vor dem Durst aufgepeitschte Masse spalte sich schnell in die, die es schaffen, ihre Bedürftigkeit zu behaupten, und in jene, die nicht die Mittel dazu haben". Die Mechanismen der Massen-Manipulation geraten in den Fokus: "Kein natürlicher Wassermangel sei das Schicksal der bedrängten Masse, Durst nicht genetisch bedingt. Er werde immer aufs Neue durch Bilder und Worte geweckt. Vorstellungen des Mangels halten ihn lebendig." Eine zunehmende Militarisierung des Alltagslebens, wie sie sich in der Endzeit der DDR zeigte, wird im Roman kritisch reflektiert und vor Aufrüstung jeder Art gewarnt: "Jeder Frieden, für den man täglich in den Kampf ziehen müsse", sei eine "Erfindung von Soldaten" und ein "permanenter Kriegszustand". Nicht zufällig wird Finnland zum wichtigsten Handlungsort im Roman. Helsinki ist der Ort der Menschenrechte, Finnland das "Scharnier zwischen Ost und West" und das Land, das im Kalten Krieg "das sozialistische kapitalistische Land Europas mit einem Schulsystem wie in der DDR und einer sozialen Marktwirtschaft wie in der BRD" war. Dieses Land, in dem man "problemlos in beide Richtungen schauen" konnte, fungierte als Brückenbauer. In der finnischen Hauptstadt Helsinki wurde 1975 die Schlussakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" unterzeichnet, die wegweisend für eine jahrzehntelange europäische Politik der friedlichen Koexistenz wurde. Diese vermittelnde und friedensstärkende Rolle wird Finnland nach dem NATO-Beitritt verlieren. Der den Roman bestimmende Ost-West-Riss droht Europa zu verschlingen.

"Bücher sind zum Denken da, sie sollen dem Denken auf die Sprünge helfen", sagt der Menschenrechtsexperte Leonides, der in die Bücher schreibt, um sie fortzuschreiben, wo die Verfasser "zu denken aufgehört haben". Eine gute Idee, von der mit dem Blick auf Strubels Buchpreis-gekröntem Roman reichhaltig Gebrauch gemacht werden sollte.

Antje Rávik Strubel
Blaue Frau
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2021
Gebunden, 432 Seiten
24,00 EUR
ISBN 978-3-10-397101-9

17. Mai 2022

Veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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