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BERICHT/049: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Diskurs der Selbstverständlichkeiten ... (SB)


Auf rebellischen Pfaden

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte



Die Referierenden nebeneinander sitzend, lachend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Christina Kaindl und Armen Avanessian
Foto: © 2016 by Schattenblick

Widerständigkeit, so wie sie sich in vielen Epochen der Menschheitsgeschichte entwickelte und in realen Kämpfen radikalisierte, aber auch zurückbildete oder mittels gesellschaftlicher Einbindung ihrer Protagonisten wieder auflöste, bediente sich in der jüngeren Geschichte nicht selten einer marxistisch orientierten Klassenanalyse. Viele Menschen, die sich in diese Konfrontation begeben haben, um eine menschenwürdige Zukunft zu erstreiten, taten dies in der festen Überzeugung, eine solche Auseinandersetzung nicht führen zu können, ohne die gesellschaftlich dominierenden Kräfte herauszufordern; ausgehend von der Überlegung, daß Ausbeutung, Ungleichheit, die Mißachtung der menschlichen Würde nicht Ausgangs- wie Angriffspunkte solcher Kämpfe hätten werden können, wenn es nicht gesellschaftliche Eliten welcher Art auch immer gäbe, die über genügend Herrschaftsinstrumente und Gewaltmittel verfügen, um ihre Vorteilslage gegenüber jeder Widerstandsgefahr zu verteidigen.

Wer sich mit diesen historischen Kämpfen befaßt oder ganz einfach den Blick in eine Gegenwart richtet, in der von einer Realisierung bislang unerreichter Menschheitsutopien eines herrschaftsfreien Lebens nicht die Rede sein kann, weil die kapitalistisch strukturierte Raub- und Verfügungsordnung in ihrer neoliberal zugespitzten Variante das globale Geschehen fest im Griff zu haben scheint, könnte zu der Schlußfolgerung gelangen, die Versuche, der Übermacht gegnerischer Kräfte eine wirksame Gegenwehr von unten abzuringen und entgegenzusetzen, als gescheitert zu betrachten. Wird ein solcher Schritt erst einmal vollzogen, kann es nur zwei Optionen geben: der einmal bekundeten Absicht treu zu bleiben oder den Rückmarsch anzutreten.

Letzteres kann die vielfältigsten Formen annehmen und mit Rationalisierungen und Begründungen verbunden werden in der Absicht, die damit vollzogene Einsicht in das vermeintlich Unmögliche sich selbst und anderen gegenüber plausibel zu machen. In der Geschichte der Linken ließe sich dies, wenn aus ehemaligen Genossen die härtesten Gegner werden, an vielen Beispielen nachvollziehen. Nach der sogenannten Zeitenwende wurde häufig mit dem Ende der Sowjetunion gleich die ganze Idee von Sozialismus und Kommunismus als historisch überholt oder erwiesenermaßen ineffizient abgetan; auch in Kreisen der Linken hat es sich nach 1989/90 eingebürgert, das Scheitern all dessen zu konstatieren, was mit Revolution, aber auch reformistischen Konzepten einst gemeint gewesen war. Poststrukturalistische Denkkonzepte haben dazu beigetragen, dem Unmut und der Unzufriedenheit vieler Menschen mit ansprechenden Zukunfts- und Lösungsperspektiven zu begegnen und Linken eine (neue) politische Heimat zu bieten.


Plakatwand mit Schriftzug 'Heute im Literaturforum' und dem Veranstaltungsplakat - Foto: © 2016 by Schattenblick

Futuring oder Akzeleration? Veranstaltungsplakat im Eingangsbereich des Brecht-Hauses
Foto: © 2016 by Schattenblick


Das Lied vom Scheitern

Das Lied vom Scheitern zu singen gilt auch in linken Kreisen beinah schon als Selbstverständlichkeit. Dieser Trend ließ sich auch auf der Tagung "Richtige Literatur im Falschen?", die vom 19. bis 21. Mai im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin stattfand, feststellen. Schon in der Einladung zur Auftaktveranstaltung, einer Podiumsdiskussion zum Thema "Futuring oder Akzeleration? Revolutionäre Realpolitik oder forcierte technologische Evolution", wurde - offenbar in Anlehnung an den italienischen Schriftsteller und marxistischen Philosophen Antonio Gramsci - konstatiert, daß nach dem Scheitern von Revolution und Reformismus "Transformation" und "Futuring" ins Zentrum gerückt seien. Auf dieser Basis sollten "Herrschaftskritik, umfassende Gesellschaftsanalyse und konkrete Einstiegsprojekte mit dem Potenzial für grundsätzliche Veränderungen" zusammengedacht werden, "um - in einer Verbindung verschiedenster emanzipatorischer Ansätze - das Konzept eines erneuerten Sozialismus zu formulieren und politisch-praktisch wirksam werden zu lassen." [1]

Christina Kaindl, Politikwissenschaftlerin und Theoretikerin der Linkspartei, und der Literaturwissenschaftler Armen Avanessian, Herausgeber der akzelerationistischen Reader, hatten für die Eröffnungsveranstaltung im Kreise des Symposiums [2] sowie weiterer Interessierter als Referierende gewonnen werden können. Doch zunächst eröffnete Ursula Vogel, Leiterin des Literaturforums im Brecht-Haus, die Tagung mit den Worten, daß die herrschende Wirtschaftsordnung nur einem kleinen Teil der Gesellschaft zugute käme, während die Chancen einer überwiegenden Mehrheit zunehmend eingeschränkt, Demokratie und Freiheitsrechte abgebaut werden. Welche Rolle Literatur in dieser sich wandelnden Welt spielen könne, wies Vogel als zentrale Fragestellung der dreitägigen Tagung aus.

Wie Enno Stahl anschließend erläuterte, war dieser eine etwas andere Form, als man es sonst von Literaturveranstaltungen kennt, zugedacht, ausgehend von der Idee, schriftstellerisch wie wissenschaftlich tätige Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen über die Rolle der Literatur im Kapitalismus - und zwar mit dem Ziel, wie Ingar Solty ergänzte, über die Kritik am Kapitalismus mit den Mitteln der Ästhetik hinauszugehen und auch Zukunftsfragen zu thematisieren, und so waren bereits zur Auftaktveranstaltung zwei theoretische Ansätze mit jeweils starken Bezügen zu kulturellen und ästhetischen Fragen zusammengebracht worden, die gemeinsame Schnittpunkte, aber auch politische wie philosophische Differenzen aufwiesen.


C. Kaindl in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Christina Kaindl
Foto: © 2016 by Schattenblick


Transformation - das neue Zauberwort der Linken?

Die Politikwissenschaftlerin und Psychologin Christina Kaindl steht in der Tradition eines an Gramsci orientierten Marxismus. Sie kam über ihr Engagement in politisch orientierten Theorie- und Wissenschaftsdebatten zur Rosa-Luxemburg-Stiftung, wo sie die Theoriezeitschrift "Luxemburg" leitete, und ist inzwischen auch in der Strategie- und Grundsatzabteilung der Bundesgeschäftsstelle der Partei Die Linke tätig. In ihrem Eingangsreferat stellte sie zunächst klar, daß in der Transformationsforschung Transformation als Zugang zu der Frage nach gesellschaftlicher Veränderung gedacht werde, wobei es in der Linken immer zwei Pole gäbe, nämlich die großen Fernziele, wie eine wünschenswerte Gesellschaft gestaltet werden könne, und die Verbesserung des Alltags, also der konkreten Lebensbedingungen der Menschen.

Der Transformationsbegriff sei in der Strategie- und Theoriebildung der Linken relativ neu. Reform und Revolution, von Kaindl als die beiden Großtheoreme - also Lehrsätze - gesellschaftlicher Veränderung im linken Denken bezeichnet, seien gleichermaßen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, gescheitert oder zumindest doch an ihre historischen Grenzen gestoßen. Wäre dem nicht so, würden wir nicht mehr im Kapitalismus leben. In der bürgerlichen Wissenschaft wurde nach der Wende mit Transformation der Übergang der realsozialistischen Staatenwelt zu kapitalistischen Marktformen bezeichnet. Die Vorstellungen abstrakter Utopien, kleiner Reformen und ständiger Verbesserungen der Lebensverhältnisse, auf die Linke kein Copyright hätten, seien eigentlich Bestandteile des bürgerlichen Repertoires, an denen man sich abarbeiten könne. Dabei bestünde die Gefahr, wie schon Alex Demirovic geschrieben habe, daß sich die herrschenden Verhältnisse wie bei einer Wanderdüne hinter dem Rücken der Beteiligten in neuer und noch schrecklicherer Form wieder einrichteten.

Die Frage, wie eine gesellschaftliche Veränderung überhaupt gedacht werden könne, sei eine besondere Herausforderung, weil unsere Phantasien von der Aufhebung der Klassenherrschaft und ihrer Produktionsweise durch eben diese Klassenherrschaft strukturiert sind. Auch Marx sei gegenüber Vorstellungen, wie die Utopie einer freien Gesellschaft aussehen könne, immer sehr zurückhaltend gewesen. Engels habe auf die Frage, wie die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in einer freien Gesellschaft aussehen würden, geantwortet, diese Menschen würden sich wohl einen Kehricht darum scheren, was wir heute dazu gedacht hätten. Utopische Vorstellungen sind mit dem Problem ihrer totalitären Umsetzung behaftet, wenn nämlich Menschen für eine solche Utopie, sollten sie nicht in sie hineinpassen oder -wollen, "passend" gemacht werden müßten.


Christina Kaindl in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Transformation - wie hilft ein neues Wort bei alten Problemen?
Foto: © 2016 by Schattenblick

Für die Transformationsidee, verstanden als das Zusammenbringen reformerischer und revolutionärer Schritte, führte Christina Kaindl verschiedene marxistische Denkerinnen und Denker an. Schon Rosa Luxemburg habe klargestellt, daß sich mit dem Beginn einer gesellschaftlichen Veränderung das Terrain und insofern auch die Kämpfe verändern würden, weshalb die Ziellinie, um die es gehe, vorab nicht festgelegt werden könne. Luxemburg prägte den Begriff "revolutionäre Realpolitik", um dem Auseinanderfallen konkreter Verbesserungen im Kleinen und der grundsätzlichen Infragestellung der kapitalistischen Vergesellschaftung entgegenzuwirken und aufzuzeigen, daß das eine ohne das andere folgenlos bleiben würde. Der Kampf um den 8-Stunden-Tag und für Sozialreformen sei noch keine sozialistische Politik, aber doch notwendiger Bestandteil einer proletarischen Realpolitik, die sich wie Metallspäne an einem Magneten am Ziel der Revolution ausrichten müßte - einer Revolution, so Kaindl, von der heute wahrscheinlich niemand mehr ausgehe.

Mit Blick auf die Niederlage der europäischen Kommunisten, die den Aufstieg des Faschismus nicht verhindern konnten, warf sie mit Gramsci die Frage auf, was da eigentlich schief gelaufen sei und welche Dimensionen gesellschaftlicher Macht und Hegemonie nicht verstanden wurden. Der Hintergrund dieses Scheiterns sei gewesen, erklärte sie wiederum mit einem Verweis auf Gramsci, daß zu kurzfristig politische Macht und Staat in eins gesetzt wurden. Die Versorgungswege der Macht, also die ökonomischen und kulturellen Hegemonieverhältnisse, nicht mit in den Blick zu nehmen, habe Beharrungskräfte freigesetzt, denen die damals Kämpfenden nicht standzuhalten vermochten. Dies sei noch heute ein Hinweis darauf sei, welches Feld bearbeitet und welchen Gefahren begegnet werden müsse. Wenn wir heute über die Frage gesellschaftlicher Veränderung und Zukunftsgestaltung sprechen, geschieht dies nicht in einem machtfreien Raum, sondern einer Umgebung, in der die Gegenkräfte immer wieder versuchten, diese Impulse in sich aufzunehmen und zur Qualifizierung ihrer eigenen Herrschaft zu absorbieren.

Linke Politik würde nicht in einem Bewegungskrieg (Gramsci), also einer schnellen Eroberung, liegen, sondern - um bei diesen kriegerischen Metaphern zu bleiben - in einer Reihe von Stellungskriegen, bei denen sich das Feld nach jedem Kampf neu strukturiere. Was gestern noch als Einstieg in eine über den Kapitalismus hinausführende Transformation erschien, könne schon heute von der Gegenseite enteignet und in ihre Modernisierungsstrategie überführt worden sein. Deshalb habe Gramsci auch vom Transformismus als einer Gegenstrategie gesprochen, bei der beispielsweise der kommunistischen Bewegung die führenden Köpfe, Ideen und Topoi geraubt und ihrer eigenen, der Sicherung von Herrschaft und Hegemonie gewidmeten Projekten beigefügt werden.

Der Gedanke der Umstrukturierung eines sich verändernden Terrains sei wichtig, so Kaindl, weil er in umgekehrter Richtung auch bedeutet, daß das, was gestern noch lokalistisch aussah, das Feld so verschieben könne, daß es schon morgen ganz andere Resonanzböden und Verallgemeinerungsmöglichkeiten gäbe. Deshalb setze sie hinter die scharfe Kritik im Akzelerationistischen Manifest an Protestbewegungen wie Occupy ein kleines Fragezeichen. Beim Transformationsbegriff von links sei wichtig, daß sich die Debatte wie an einer Perlenkette entlang entwickeln könne, ausgehend von Einstiegsprojekten, bei denen das Endziel noch gar nicht ganz klar sei. Die historischen Herausforderungen, vor denen die Linke heute steht, sind Kaindl zufolge klar, bräuchten wir doch dringend eine sozial-ökologische Transformation, eine Umstellung der Energiewirtschaft, eine Umgestaltung unserer Städte, eine Verkürzung der Arbeitszeit usw.

Die Pfade der Transformation müssen im Gehen gelegt werden, was nur funktioniere, wenn der Prozeß von den Menschen selbst ausgeht und vorangetrieben wird. Eine solche Gegenbewegung zur herrschenden Hegemonie - Gramsci spreche da von einem Kollektivwillen von unten - entstehe nicht einfach so, sondern müsse organisiert, gewebt und verbunden werden. Eine Partei könne zwar das Feld einer solchen Gegenhegemonie stellen, doch würden auch Akteure und Gruppen, die sich als Anti-Partei verstehen und sich außerhalb dieser Verhältnisse verorten, dazugehören. Angesichts der aktuellen, vielfältigen Proteste beispielsweise gegen TTIP und den Kohleabbau, auch wenn diese noch nicht miteinander verbunden und zu einer wirklichen Gegenhegemonie zugespitzt worden sind, schloß Christina Kaindl ihr Eingangsreferat mit einem "nicht ganz so pessimistischen Bild eines Gegenfeldes".


Die Genannten nebeneinander am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Solidarisch in der Kontroverse - Ingar Solty, Christina Kaindl, Armen Avanessian und Enno Stahl (v.l.n.r.)
Foto: © 2016 by Schattenblick


Akzelerationismus - was ist das?

Nick Srnicek und Alex Williams, zwei britische Akademiker, veröffentlichten 2013 ein "Manifesto for an Accelerationist Politics", zu deutsch "Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik" [3], das auch in Teilen bundesdeutscher Linkstheoretiker eine gewisse Resonanz hervorgerufen hat - Anlaß genug für die Organisatoren der theoretischen Fragen und kritischen Zukunftskonzepten gewidmeten Tagung "Richtige Literatur im Falschen?", den sogenannten Akzelerationismus einer interessierten Öffentlichkeit vorzustellen. Für einen gern auch kontroversen Dialog mit Christina Kaindl wurde als Repräsentant dieser neueren politischen Theorie der Philosoph, Autor und Literaturwissenschaftler Armen Avanessian eingeladen. Er ist Chefredakteur des auf Philosophie und Politische Theorie spezialisierten Merve Verlags, in dem er die Reihe "spekulative poetik" herausgibt, und wird wegen der von ihm aufgelegten deutschen Ausgabe des Akzelerationismus-Readers (#Akzeleration) häufig mit dieser Theorie identifiziert.

Schon in der Veranstaltungsankündigung war einleitend erläutert worden, daß Srnicek/Williams in ihrem Manifest dafür plädieren, "den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, indem sein zentrales Motiv der Beschleunigung in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Fragen aufgegriffen und erheblich forciert" wird. Für kapitalismuskritische Menschen klingt dies vielversprechend. Da in der bisherigen Geschichte der Klassenkämpfe noch kein entscheidender Durchbruch oder Etappensieg errungen werden konnte, könnte ein solches Konzept schnell das Interesse derer wecken, die mit den herrschenden Eigentums- und Verfügungsverhältnissen nicht einverstanden sind.

Doch schon das angeblich für den Kapitalismus zentrale Motiv der "Beschleunigung" wirft eine Menge Fragen auf. Wie läßt sich ein physikalischer Begriff wie Beschleunigung, der nicht ohne Zuhilfenahme weiter physikalischer Begriffe erklärt und definiert werden kann (Bewegungszustand, Körper, Zeit, Geschwindigkeit, vektorielle Größe etc.) überhaupt in Verbindung bringen mit einem konzeptionellen Begriff wie dem Kapitalismus, der - ob in klassisch-marxistische Theorien eingebettet oder nicht - in Wirtschafts-, Politik- oder Geschichtswissenschaft zu Hause ist? Angesichts auch vieler weiterer Fragen zum Akzelerationismus konnte sich Armen Avanessian der besonderen Aufmerksamkeit der Zuhörenden gewiß sein. Er sei gebeten worden, ein paar Irrtümer zum Akzelerationismus auszuräumen, bevor wir dann so richtig in Richtung Zukunft abdriften, erklärte er zu Beginn seines Vortrags. Es müsse zwischen einer sozialen, technologischen und lebensweltlichen Beschleunigung unterschieden werden. Unter letzterer werde meistens verstanden, daß alles immer schneller und hektischer werde, worum es den Akzelerationisten allerdings nicht gehe.


A. Avanessian im Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Armen Avanessian
Foto: © 2016 by Schattenblick

Beim Akzelerationismus gehe es vielmehr um progressive Tendenzen, die "in unserer Gesellschaft, in unseren Technologien, in der Wissenschaft und so weiter" angelegt sind. Es gehe nicht darum, daß die Dinge schneller werden, sondern daß eine bestimmte positive Dynamik (welche?) aufgegriffen wird. Der Akzelerationismus sei "ein eher kühler, rationalistischer Ansatz, der sich um die Navigation, die Steuerung und die Emanzipation bestimmter Tendenzen" kümmere, und zwar "auf der Ebene des jeweils entwickelten wissenschaftlichen und technischen Standes". Dieser recht vage formulierten Vision stellte der Literaturwissenschaftler wohl zur Kontrastierung entgegen: "Es geht nicht um einen Sprung raus aus dem Kapitalismus oder aus den technologischen Möglichkeiten, die uns der Kapitalismus bereitgestellt hat. Es geht nicht um irgendwelche sinnlosen Phantasien oder Entschleunigungsoasen, sondern es geht um Beschleunigung." Also doch Beschleunigung?

Bei der Aussage, es sei ein ekelhafter Sieg des Neoliberalismus, daß er bestimmte Begriffe für uns vergiftet habe, hätte wohl niemand in diesem Kreis Avanessian widersprechen wollen, ebensowenig bei der Feststellung, daß der Kapitalismus vielleicht gar nicht so fortschrittlich sei und die Probleme, von denen er behaupte, sie lösen zu können, gar nicht lösen könne. Dann sprach der Referent von einer Gleichung, die wir alle geschluckt hätten, nämlich daß die Moderne gleich Kapitalismus gleich Fortschritt gleich Beschleunigung sei, was vielleicht gar nicht stimme, doch solange man dies glaube, könne man nicht anders, als auf "Entschleunigung" zu setzen.


Zurück zu Moderne und Emanzipation

Avanessian schlug vor, diese vier Begriffe - Moderne, Kapitalismus, Fortschritt und Beschleunigung - wieder zu entkoppeln und sich im nächsten Schritt wieder auf die Moderne und ihr Versprechen auf Emanzipation und die Fähigkeit gesellschaftlicher Steuerung zu besinnen. Das sei ein bißchen weggerutscht, weil der Neoliberalismus es auf der Ebene der Diskurshegemonie geschafft habe, Kapitalismus mit Fortschritt gleichzusetzen. Selbst Marx habe die fortschrittlichen Fähigkeiten des Kapitalismus besungen. Der französische Philosoph Gille Deleuze, der als einer der Leitautoren des Akzelerationismus gilt, bezeichnete sie als "reterritorialisierende Kraft".

Reterritorialisierung, so erläuterte Avanessian, sei eine Gegentendenz zur Deterritorialisierung oder Globalisierung, bei der Grenzen überschritten werden, und bedeute, daß der Kapitalismus es immer wieder schaffe, die Bremse zu ziehen. Parteien und Gruppierungen, die auf ökonomischen Gebiet liberal zu sein vorgeben, seien nicht selten die repressivsten oder reaktionärsten. Der Referent sprach von einer Dialektik von Beschleunigung und Bremsen. Die Möglichkeiten einer postkapitalistischen Gesellschaft seien längst gegeben, ja im Grunde, so seine persönliche Überzeugung, leben wir bereits im Postkapitalismus, was kein Grund zur Freude, sondern möglicherweise noch viel schlimmer sei. Offensichtlich seien die drei Pfeiler, auf denen der Kapitalismus beruht - feste Nationalstaaten, regulierbare Bevölkerungen und eine sich selbst regulierende Ökonomie - nicht mehr intakt. Wir leben in einem ökonomischen System, in dem nicht mehr entscheidend sei, was produziert werde, sondern in dem eine Finanzökonomie vorherrsche, weshalb er das System als einen Finanzfeudalismus bezeichne, so Avanessian.


Armen Avanessian spricht, neben ihm sitzt Enno Stahl - Foto: © 2016 by Schattenblick

Kapitalismuskritik und -überwindung in die Diskussion bringen
Foto: © 2016 by Schattenblick


Protest und Widerstand im Auge des Betrachters

Wie er weiter darlegte, spricht der Akzelerationismus von folkloristischen Formen der Politik und kritisiert eine bestimmte Glorifizierung von allem, was in der Horizontalen sei und bei Protestbewegungen wie Occupy - ohne sie verdammen zu wollen - zum Teil etwas obskure Formen angenommen habe. Es stehe doch in Frage, ob das Zettelverteilen und Demonstrieren in Zeiten von NSA noch adäquate Formen des Widerstands seien. Die Demonstrationen gegen den ersten und zweiten Golfkrieg wie auch Campusbesetzungen, Unistreiks usw. hätten einen Effekt von "null Komma null null periodisch" gehabt, so der Referent. Der Akzelerationismus sei die erste politische Theoriebewegung einer neuen Generation, die nicht mit dem "Phantasma von 1968", nämlich daß man auf die Straße geht und dann irgendetwas passiert, groß geworden sei. Er würde keine Kritik an 68 üben wollen, meine aber, daß das, was eine ganze Generation und ihre Nachfahren geprägt habe, heute nicht mehr funktioniere.

In diesem Punkt widersprachen ihm Christina Kaindl und weitere Teilnehmenden in der späteren Diskussionsrunde. Armen Avanessian wurde wiederholt gefragt, was denn dann seine Alternative wäre, was er mit der Bemerkung konterte, daß sein Anliegen darin bestünde, eine kontroverse Diskussion voranzutreiben, auch wenn er keine fertigen Antworten hätte. In seinem Impulsreferat hatte er noch ein paar Stichworte zu dem gegeben, was er "spekulative Zeitlichkeit" nennt. Ihm sei wichtig zu betonen, daß im Akzelerationismus nicht einfach nur über Zukunft nachgedacht, sondern tatsächlich "anderszeitlich", also von der Zukunft aus zurück in die Vergangenheit, gedacht werde. Wir leben nicht einfach nur in einer Zeit immer größerer Geschwindigkeiten - kaum hat man ein Buch bestellt, ist es auch schon da -, sondern werden aus der Zukunft gesteuert, so seine These.

Der Algorithmus wisse bereits, was wir einmal wollen werden. Um die Annahme einer in die Zukunft projizierten Steuerungsinstanz plausibel zu machen, erinnerte der Referent an Begriffe wie preemptive Persönlichkeit (Soziologie), pro-aktive Medizin und preemptive Kriegführung und Polizeiarbeit, bei der Leute sondiert und verhaftet werden, weil voraussehbar sei, daß sie wahrscheinlich eine Straftat begehen werden. Mit dem Argument "Denken Sie an Derivate!" suchte Avanessian deutlich zu machen, daß auch unsere Ökonomie generell aus der Zukunft gesteuert wird. Er beendete seinen Vortrag mit der, wie er sagte, post-akzelerationistischen Aussage, daß die Zeit aus der Zukunft auf uns zu kommt und uns erstickt und daß wir nicht wüßten, wie wir damit umgehen können.

In der anschließenden, insbesondere mit Blick auf den zur Debatte gestellten Akzelerationismus recht kontroversen Diskussion wurde Armen Avanessian aufgefordert zu erklären, wie wir denn nun in die Zukunft kämen, worauf er - abermals, wie er erklärte, gegen folkloristische Ideen polemisierend - die Glorifizierung des Gemeinschaftlichen und der Community, die der Komplexität unseres ökonomischen Systems nicht gerecht werde, kritisierte. Geld abzuschaffen und Banken zu sperren bezeichnete er als linke Utopien und gefährliche, weil naive Ideen, die zu Chaos, Bürgerkrieg und extrem viel Elend führten. Seit Jahrzehnten gäbe es eine Kluft zwischen der technologischen Entwicklung - die Zukunft werde in Silicon Valley gemacht - und einem, was er ebenfalls als Polemik verstanden wissen wollte, "selbstzufriedenen technologischen Analphabetismus der Linken", und solange diese immer größer werde, würde sich auch nichts ändern.


Zuflucht im Jenzeits?

Daß jenseitige - Pardon - jenzeitige Thesen und Konzepte einen großen Stellenwert auf einer Tagung einnahmen, die sich grundlegenden gesellschafts- und kapitalismuskritischen Fragen im Zusammenhang mit Literatur und politischer Ästhetik widmete, läßt vermuten, daß sich auch viele Linke mit dem Wunsch nach Lösungen, Antworten und Perspektiven ratsuchend umschauen. Chaos und Elend, Krieg und Bürgerkrieg sind für viele Menschen längst keine in die Zukunft projizierbaren Drohungen mehr, sondern schon heute eine buchstäblich fürchterliche Realität. Daß sich wohl niemand davon freisprechen könne, vor ihr am liebsten Augen und Ohren zu verschließen, ließe sich, dem Tenor und Stimmungsbild nach zu schließen, sicherlich auch von den Tagungsteilnehmenden sagen.

Und doch kursierte unter ihnen die Idee, die Geschichte offen zu halten und der Frage, wie mit Mitteln der Literatur und Ästhetik eine effiziente Gegenwehr formuliert, gedacht, entwickelt und unterstützt werden könne, den Vorzug zu geben. Der von Christian Kaindl an diesem Diskussionsabend vorgestellten revolutionären Realpolitik wäre im Vergleich zum Akzelerationismus allemal der Vorzug zu geben, weil in ihr immerhin noch der politische, solidarisch kämpfende Mensch als Subjekt von Veränderung und gesellschaftlicher Gestaltung gedacht wird, sollte sich mit Blick auf das von beiden Referierenden sowie dem Moderationsteam postulierte Scheitern von Revolution und Reformismus diese Frage tatsächlich als konstruktiv erweisen für die Inangriffnahme bislang unbewältigter Problemstellungen.


Hinweistafel zur Brecht-Weigel-Gedenkstätte im Hinterhof des Brecht-Hauses - Foto: © 2016 by Schattenblick

Tagung auf historischem Boden - im Hinterhaus der Berliner Chausseestr. 125 die Brecht-Weigel-Gedenkstätte
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://lfbrecht.de/event/futuring-oder-akzeleration-revolutionaere-realpolitik-oder-forcierte-technologische-evolution/

[2] An der dreitägigen öffentlichen Tagung nahm ein fester Kreis geladener Autorinnen/Autoren wie auch Kultur- und Literaturwissenschaftler teil, die in den aufeinanderfolgenden Einzelveranstaltungen die von einem oder auch zwei Referierenden vorgetragenen Thesen miteinander - und im zweiten Schritt auch mit dem erweiterten Kreis aller Anwesenden - diskutierten. Das Symposium, der eigentliche Kern der Tagungsteilnehmenden, bestand aus dem Moderations- und Organisationsteam Ingar Solty und Enno Stahl sowie Ann Cotten, Heike Geißler, Norbert Niemann, Björn Kuhligk, David Salomon, Stefan Schmitzer, Erasmus Schöfer, Daniela Seel, Thomas Wagner, Michael Wildenhain und Raul Zelik.

[3] Das "Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik" kann auf der im Aufbau befindlichen Webseite akzelerationismus.de heruntergeladen werden.


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

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5. Juli 2016


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