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BERICHT/052: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Alter Feind in neuem Gewand ... (1) (SB)


Erzählungen aus Digitalien

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte


Vor dem Hintergrund der Jahrhunderte, die seit der Einführung des Buchdrucks um 1440 und der dadurch ermöglichten mechanisierten Vervielfältigung des geschriebenen Wortes verstrichen sind, hat die Zukunft des Schreibens und Lesens gerade erst begonnen. Zwar ist es auch innerhalb dieser Epoche zu tiefgreifenden Brüchen und Wandlungen in der Produktion und Rezeption schriftlich fixierter Inhalte etwa durch die Herstellung von Zeitungen auf Endlospapier im Rotationsdruck um 1810 oder die Etablierung des Fernsehens als Massenmedium in den 1950er Jahren gekommen. Mit dem gerade einmal 20 Jahre allseitig verfügbaren Internet wird jedoch ein Kapitel in der Genealogie des Schreibens und Lesens aufgeschlagen, das in seiner Bedeutung für die kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung an den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Weitergabe menschlichen Wissens heranreichen könnte. Dabei erscheint keinesfalls sichergestellt, daß die als Fortschritt im Sinne der Aufklärung und Demokratisierung begriffene Zunahme allgemein verfügbarer Informationen auch in Zukunft dazu dienen wird, den Menschen von den Fesseln der Unmündigkeit zu befreien.

So haben die Errungenschaften der Alphabetisierung eines Großteils der Menschheit nicht zugleich die Überwindung der Klassengesellschaften bewirkt, sondern an der Vertiefung ökonomischer Gewaltverhältnisse zumindest nichts geändert. Sicherlich hat die weltweite Verfügbarkeit von Informationen aller Art einige Menschen dazu ermächtigt, aus dem Schatten ihrer sozial und strukturell tradierten Verelendung zu treten. Insofern dies auf der Bahn unternehmerischer Karrieren erfolgte, kann es vielleicht als Beleg dafür gelten, daß die Durchlässigkeit zwischen den sozialen Klassen größer geworden ist. Am sozial exklusiven Grundsatz der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung ändert dies jedoch ebensowenig wie an der ökologischen Krise, die durch den Produktivismus der warenproduzierenden Gesellschaft befeuert wird, ohne dabei mehr zu leisten als einer bezahlbaren Nachfrage zu entsprechen, die der Befriedigung der realen existentiellen Bedürfnisse der Menschen weit hinterherhinkt. Daß dies nicht nur ein unerwünschter Nebeneffekt kapitalistischer Produktivitätssteigerung ist, sondern Not und Mangel dazugehören, um das fiktive Kapital der Finanzmärkte und Kreditwirtschaft in Wert zu halten, ist das offenliegende Geheimnis des herrschenden Krisenmanagements.

Der herrschaftskritische Diskurs hingegen hat seit dem großen Aufbruch der 1960er Jahre, als die in staatsautoritären Bürokratismus erstarrende Tradition der Oktoberrevolution durch das Aufbegehren der Jugend gegen Kapitalismus und Krieg in den westlichen Metropolengesellschaften mit neuem Leben erfüllt wurde, kontinuierlich an gesellschaftlicher Wirksamkeit eingebüßt. Während die sozialistische Staatenwelt sich fast rückstandslos zerlegte, wurde die neoliberale Marktdoktrin in der kapitalistischen Welt hegemonial. Angetrieben durch die fundamentale Krise der Verwertung besetzte das Paradigma sozialdarwinistischer Konkurrenz auch die kleinsten Einheiten sozialer Organisation und brachte eine warenförmige Ge- und Verbrauchskultur hervor, deren zweckrationaler, auf die Befriedung und Harmonisierung virulenter Widersprüche orientierte Charakter die Gültigkeit der Konsum- und Kulturkritik früherer Jahrzehnte zutiefst bestätigte.

Die informationstechnische Beschleunigung dieser Entwicklung konfrontiert deren kritische Aufarbeitung mit Fragen, die nicht zuletzt die drohende Marginalisierung und Verkürzung schriftlicher Reflexion durch die anwachsende Dominanz audiovisueller Formen der Repräsentation betrifft. Gerade weil man sich in der konstitutiven Frühphase eines epochalen Wandels kulturtechnischer Bemittelung befindet, kann die Debatte um Form und Inhalt der geschriebenen Kommunikation eigentlich in jede Richtung fruchtbar gemacht werden. So zeichnen sich neue Möglichkeiten der Produktion und Verbreitung gesellschaftlich eingreifender Literatur am Horizont ebenso ab, wie die informationstechnische Zurichtung des Menschen auf verdichtete Produktion und beschleunigten Konsum zu eher kulturpessimistischen Prognosen Anlaß gibt.


Im Gespräch mit Thomas Wagner - Foto: © 2016 by Schattenblick

Timo Daum
Foto: © 2016 by Schattenblick

Mit (im)materieller Gewalt in die Physis des Sozialen getrieben

Mit Timo Daum, Hochschullehrer und Autor der Internet-Publikationsreihe Understanding Digital Capitalism, hatte ein eloquenter Kritiker des digitalen Kapitalismus als erster von zwei Referenten das Wort in der dem Thema "Literatur, neue Technologien und Zukunft" zugedachten Sektion. Als wollte er dem titelgebenden need for speed auch mit der inhaltlichen Verdichtung seines Vortrags gerecht werden, führte der Referent das Publikum mit einer Tour de force in den avancierten Diskurs um den digitalen Kapitalismus ein. Anhand zweier Beispiele aus der Geschäftswelt illustrierte er das Dilemma einer Innovationsdynamik, deren disruptiver, im Altsprech zerreissender Charakter den neoliberalen Grundsatz der kreativen Zerstörung auf den zeitgemäßen Stand unternehmerischer Praxis bringt. So weiß Daum von einer deutschen Firma der Elektrobranche zu berichten, die ihre traditionelle Abteilung für Forschung und Entwicklung durch eine neue Abteilung für Innovation ergänzte. Dieser innerhalb des Unternehmens autonom agierenden Stelle, die das Tempo der Entwicklung neuer Produkte bis zur Marktreife beschleunigen soll, wurde eine weitere Neugründung, die wie ein eigenständiges Startup innerhalb der Firmenstruktur organisiert ist, namens digitale Herausforderung an die Seite gestellt, die ebenfalls den innovativen Druck erhöhen soll.

Für Daum drückt sich darin die Angst des Unternehmens vor einer mit informationstechnischen Mitteln aufgerüsteten Konkurrenz aus, deren Geschäftsmodell die Bedingungen seines traditionellen Marktes verändert und monopolisiert, um es schließlich zu verdrängen. Der Versuch, diesen Vorgang im eigenen Haus zu antizipieren und damit quasi die eigene Abschaffung vorwegzunehmen, muß allerdings nicht von Erfolg gekrönt sein, wie der Referent anhand des Beispiels Kodak ausführt. Der ehemalige Weltmarktführer für analoge Fotografie, der noch in den 70er Jahren über 120.000 Angestellte und einen Unternehmenswert von 28 Milliarden Dollar verfügte, sei heute mit nurmehr 7000 Angestellten, die Druckmaschinen herstellen, ein Schatten seiner selbst. Dabei habe man bei Kodak stets innovativ gedacht und zum Beispiel die Digitalfotografie erfunden. Mit der Herstellung von Fotomaterial und der Entwicklung von Bildern lasse sich jedoch kein Geld mehr verdienen, wie die Geschäftsmodelle von Facebook oder der Bilderplattform Instagram zeigen.

Woher also komme dieser Drang nach Beschleunigung im Kapitalismus, fragt Daum und erläutert dies anhand der von Karl Marx beschriebenen Produktivkraftentwicklung, dem die allgemeine und notwendige Tendenz des Kapitals zur Entwicklung technischen Fortschritts zugrundeliege. Diese Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, die eigenen Grundlagen immer wieder zu revolutionieren, werde durch die Digitalisierung und Vernetzung noch einmal verstärkt. Diese Entwicklung, so Daum, habe mit dem englischen Mathematiker und Informatiker Alan Turing begonnen. Die von ihm 1936 geschaffene theoretische Maschine, die die Grenzen des Berechenbaren ausloten sollte, sei die Blaupause für den modernen Computer. Diese Maschine aller Maschinen sei vielleicht die interessanteste Erfindung des 20. Jahrhunderts, denn ihr Takt sei um ein Vielfaches höher als der einer Dampfmaschine oder Lokomotive. Seit den 60er Jahren wachse die Beschleunigung der Taktrate exponentiell und liege zur Zeit bei mehreren Milliarden Operationen pro Sekunde. Angewendet auf die allgemeine Produktivkraftentwicklung könne man daher von einem Kapitalismus im Gigahertzbereich sprechen.

Indem die Turing-Maschine sich mit Hilfe der Vernetzung als eine Art Meta-Infrastruktur der digitalen Ökonomie etablierte, sei der Austausch digitaler Information ins Zentrum der ökonomischen und sozialen Aktivität des digitalen Kapitalismus gerückt. Dennoch habe die allgemeine Verfügbarkeit von Wissen nicht zu einer freien, egalitären und sozial gerechten Wissensgesellschaft geführt, sondern große monopolistische Strukturen wie Facebook, Google und Co. hervorgebracht, die als privatwirtschaftliche Unternehmen heute wesentliche Aufgaben öffentlicher Institutionen erfüllen. Das Geschäftsmodell dieser gewinnorientierten Unternehmen bestehe darin, eine Grundversorgung an Information und Kommunikation zu ermöglichen, indem sie allgemein verfügbares Wissen neu verpacken und als Dienstleistung verkaufen, so Daum.

Ihm geht es über die allfällige und unentbehrliche Kritik an der Datenschutzpolitik dieser transnationalen Unternehmen hinaus um eine grundlegende kritische Auseinandersetzung mit der technischen Infrastruktur des digitalen Kapitalismus. Die linke Bewegung, die eigentlich für eine solche Kritik zuständig wäre, habe zum einen das Problem, daß sie die grundlegend anderen Bedingungen des digitalen Kapitalismus nicht wahrhaben wolle. Kapital und Arbeit ständen sich nicht mehr auf vertraute Weise gegenüber, und bei Google und Co. handle es sich nicht um Unternehmen wie VW oder den Springer-Verlag. So betreiben milliardenschwere Konzerne der sogenannten Sharing Economy wie UBER und AirBnB ihr Geschäft mit nichts anderem als digitalen Plattformen, auf denen sie Mitfahr- oder Übernachtungsmöglichkeiten vermitteln. Ihr Konzept hat in wenigen Jahren so stark expandiert, daß sie heute großen Automobilkonzernen und Hotelketten ernsthaft Konkurrenz machen, ohne über ein einziges Auto oder Bett zu verfügen.

Zum andern wendet sich Daum gegen linke Untergangsprognosen, laut denen die Digitalisierung des Kapitalismus der Anfang von seinem Ende sei. Seiner Ansicht nach handelt es sich wie zuvor schon beim Manchester-Kapitalismus oder dem Fordismus um eine grundsätzlich neue historische Phase kapitalistischer Entwicklung, die eigenen Gesetzen folgt und den Kapitalismus ökonomisch und insbesondere ideologisch stärkt. Letzteres nimmt insbesondere in Form junger Unternehmensgründer Gestalt an, die die Naturgesetze des freien Marktes verinnerlicht haben und mit einer Mein- Business-Plan-bin-ich-Haltung das Konzept der Ich-AG in neue Höhen gesellschaftlicher Akzeptanz treiben. Die vielzitierte »digitale Bohème«, als deren Manifest hierzulande das von Holm Friebe und Sascha Lobo vor zehn Jahren verfaßte Buch "Wir nennen es Arbeit" bezeichnet werden kann, setzt angeblich neue Maßstäbe beruflichen Erfolgs bei maximaler Selbstverwirklichung. Daß diese Digital Natives quasi im Nebenherein mit digitaler Werbung, kreativem Webdesign, virtuellen Immobilien oder innovativen Produktideen so viel verdienen, daß sie ein smartes Leben ohne Festanstellung in relativem Wohlstand mit viel Freizeit und angenehmem mobilen Arbeiten an Orten ihrer Wahl führen können, scheint sich für das Gros dieser neuen Klasse im IKT-Sektor tätiger Selbständiger allerdings nicht erfüllt zu haben.

Für Timo Daum führt der digitale Kapitalismus zu Deregulierung und Monopolbildung, was sozial in einer tiefgreifenden Spaltung zwischen den wenigen mächtigen Reichen und dem Heer der Nutzer, Wissensarbeiter, prekär Selbständigen und Solounternehmer hervortritt. Es sei eine ganze Armee an hochqualifizierten, flexiblen, mehrere Sprachen sprechenden, an Kulturkreise anpassungsfähigen, sich selbst optimierenden und ruhelosen Individuen entstanden, die einen maßgeschneiderten digital protestantischen Arbeitsethos an sich tragen, gemischt mit einem Yoga-gestählten, selbstoptimierenden Individualismus, so Daum in seinem die aggressive Selbstevidenz neoliberalen Entrepreneurships unterhaltsam karikierenden Vortrag.

Doch selbst die Gewinner ahnten, daß der Erfolg der digitalen Ökonomie extrem kurzlebig sein könne, und setzten sich nicht zuletzt zur eigenen Rückversicherung etwa für das Bedingungslose Grundeinkommen und andere Rettungsanker vor der drohenden Altersarmut ein. So fänden sich die intellektuellen Handlanger im digitalen Prekariat wieder, wovor auch nicht permanente Selbstoptimierung, das unablässige Aufsaugen von Informationen und ein unternehmerisches Selbstverständnis, als wären sie ihre eigenen Risikokapitalgeber, schützten.

Der Kapitalismus der Turing-Maschine erweise sich als Meister der Transformation, Akzeleration und Disruption. Obwohl er sich von der Produktion materieller Güter abwende, finde er dennoch Mittel und Wege, digitale Informationen zu verwerten und aus Geld mehr Geld zu machen. Dabei wachse sein Heer dienstbarer Geister als Unternehmer des eigenen Selbst immer weiter an, so das Fazit des Referenten. Er präsentierte damit eine komprimierte Version dessen, was er ausführlich in der von ihm verfaßten und im Online-Magazin Das Filter veröffentlichten Themenreihe Understandig Digital Capitalism [1] erklärt. Indem Timo Daum die Bedingungen der neuen Etappe kapitalistischer Vergesellschaftung analysiert und kritisiert, bietet er der weiteren Debatte um ihre kulturellen Auswirkungen eine solide Verankerung in der politischen Ökonomie des digitalen Kapitalismus.

(wird fortgesetzt)


Timo Daum von hinten vor dem Kreis der Diskussionsteilnehmer - Foto: © 2016 by Schattenblick

Elementare Debatte in vormittäglich kleiner Runde
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnote:


[1] http://dasfilter.com/tags/understanding-digital-capitalism


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
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22. Juli 2016


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