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BERICHT/094: Messe links - Revolution geht anders ... (SB)


In allen früheren Revolutionen traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken [...] In der heutigen Revolution treten die Schutzgruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer sozialdemokratischen Partei in die Schranken. Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich: Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifel, ein Schwanken wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich.
Rosa Luxemburg in der Roten Fahne vom 21. Dezember 1918


Angesichts der Frage nach der Rolle und Bedeutung einer linken Partei liegt der Bezug auf Rosa Luxemburg nahe, weil sie sich angesichts der damaligen Kämpfe intensiv mit dieser Problematik auseinandergesetzt hat. Ihrer Auffassung nach treiben in einem revolutionären Lernprozeß Spontaneität und Organisation der Arbeiterklasse einander gegenseitig vorwärts. Beide sind für sie untrennbare Momente desselben Prozesses, die einander bedingen. Spontane Streiks, so ihre Überzeugung, hätten ohne Organisation nur vorübergehend Erfolg, aber keine dauerhafte Wirkung, die geeignet sein könnte, die Gesellschaft insgesamt zu verändern. Andererseits würden die Organisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter ohne die eigenständige Aktivität der Basis rasch das politische Ziel des Sozialismus als maßgebliche Stoßrichtung verlieren. Sie sah die Arbeiterpartei weder als reine Wahlpartei noch als elitäre Kaderpartei.

Rosa Luxemburg zufolge soll die Partei das Proletariat weder vertreten noch führen, sondern seine Vorhut sein. Die Partei sei von der teils spontanen, teils organisierten Eigenbewegung nicht zu trennen, sondern gehe aus ihr hervor und drücke sie bewußt aus. Sie habe den Arbeiterinnen und Arbeitern nur die Einsicht in die Notwendigkeit des Sozialismus voraus, aber nicht die Mittel, diesen ohne sie zu realisieren. Sie könne die Revolution nicht planen und erzwingen, wenn die Arbeiter nicht selbst dazu bereit, fähig und reif seien. Eine Partei, welche die Arbeiterschaft in Parlament oder Politbüro bevormundet, handle zwangsläufig gegen sie und werde damit zum Werkzeug der herrschenden Interessen. Dann müßten die Arbeiterinnen und Arbeiter auch eine sogenannte "Arbeiterpartei" bekämpfen. Mit dieser Bestimmung nimmt sich Rosa Luxemburg der Widerspruchslage auf eine Weise an, die es zumindest erlaubt, konsequente Schlüsse zu ziehen, ohne unter Rückgriff auf eine vermeintliche Rezeptur den Prozeß der Auseinandersetzung abzubrechen.


Buchcover 'Die Linke international' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


"Die Linke international"

Im Rahmen der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte René Arnsburg das Buch "Die Linke international. Der Kampf um den Aufbau linker Parteien auf drei Kontinenten" vor, das im Berliner Manifest Verlag erschienen ist [1]. Er hat für verschiedene Start-ups in der Werbe- und Spieleindustrie gearbeitet und ist seit 2016 als Buchhändler für den Manifest Verlag tätig. Arnsburg ist Mitglied der Partei Die Linke und der Gewerkschaft ver.di, ehemals stellvertretendes Vorstandsmitglied Fachbereich 9 (Berlin-Brandenburg) sowie Mitglied des SAV-Bundesvorstandes.

Wie der Referent seinem auszugsweisen Streifzug durch verschiedene Länder und deren linke Parteigründungen vorausschickte, gebe es in Deutschland zumindest noch eine linke Partei, wie sie beispielsweise in den USA fehle. Innerhalb der Linken sei es in der jüngeren Vergangenheit zu teils beachtlichen Bewegungen wie auch Umgruppierungsprozessen mit jeweils landesspezifischen Ausprägungen gekommen. So habe in Großbritannien der linke Vorsitzende der Labour Party, die eine neoliberale Politik durchgesetzt hatte und ähnlich der SPD im Niedergang war, einen Zustrom von 300.000 überwiegend jungen Leuten mobilisiert, woraus die größte Partei Europas hervorging. In anderen Ländern sei die Sozialdemokratie hingegen so gut wie tot. Das vorliegende Buch untersuche, welche Bewegungen es in dem jeweiligen Land gab, die zur Herausbildung einer neuen Partei führten. Ein Ergebnis: Diese Parteien gingen nicht aus einer bloßen Umgruppierung oder dem Beschluß einiger prominenter PolitikerInnen hervor, sondern waren Ausdruck von Bewegungen und bestimmten historischen Entwicklungen. Ebenso war die Niederlage solcher Parteien eng mit den Rückschlägen der Bewegungen verbunden.


Das Phänomen Sanders verläuft im Sande

Das Buch beginnt mit zwei längeren Texten über die USA von Autoren, die in der Socialist Alternative aktiv sind. "Vom Kampf gegen Trump zum Aufbau der Linken" berichtet über Gegenbewegungen, wenn etwa Zehntausende zu den Wahlkampfveranstaltungen von Bernie Sanders gingen und ihn ein Teil der Linken aufforderte, eine neue linke Partei zu gründen, die Orientierung für Hunderttausende Menschen schaffen und ein Ausgangspunkt sein könnte, diese zu organisieren und die Kämpfe zusammenzufassen. Er hat sich jedoch dafür entschieden, innerhalb der Demokratischen Partei zu kandidieren, und gegen Hillary Clinton den kürzeren gezogen. Es war absehbar, daß das Establishment dieser Partei niemals einen Kandidaten mit solchen Positionen durchkommen lassen würde. Das Phänomen Trump basiere auf reaktionären Positionen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie und christlichem Fundamentalismus. Durch das Buch ziehe sich wie ein roter Faden, daß die Schwäche der Linken den Raum für die Rechte geöffnet hat. In den USA haben die abgehängtesten Schichten den zynischten Milliardär zum Präsidenten gewählt. Auch die AfD hat den Arbeiterinnen und Arbeitern nichts anzubieten, wird aber ebenfalls gewählt, so Arnsburg.


Aufstieg und Fall von Syriza in Griechenland

Gleichsam als prägnantes Lehrstück für die internationale Linke sind Aufstieg und Fall von Syriza in Griechenland zu nennen. Diese Partei ging aus einem Linksbündnis hervor, fuhr hohe Wahlergebnisse ein und stellte mit Alexis Tsipras den Regierungschef. Das war für viele Menschen mit großen Hoffnungen verbunden, und 2015 votierte beim Referendum eine Mehrheit dafür, keine neuen Kredite zu den Bedingungen der EU, der EZB und des IWF anzunehmen. Sie schliefen mit dem Gefühl des Sieges ein und wachten mit einer Niederlage auf. Tsipras hatte im Alleingang entschieden, auf die Bedingungen der Troika einzugehen. Den Kampf zusammen mit der Bevölkerung aufzunehmen, wäre in Griechenland allein äußerst schwierig gewesen. In Spanien gab es jedoch große Solidarität, als Syriza gewählt wurde, Podemos hat damals 300.000 Menschen auf die Straße gebracht. Tsipras nahm diese Möglichkeit jedoch nicht in Anspruch, sondern zog sich auf Verhandlungen auf höchster Ebene zurück. Das führte zu Konflikten, Yanis Varoufakis verließ die Regierung. Die Kapitulation Syrizas und deren Durchsetzungen der Sparauflagen wie drastische Kürzungen der Renten, tiefe Einschnitte ins Gesundheitssystem, Privatisierungen, Freigabe des Goldabbaus und vieles mehr hatte verheerende Folgen.

Immer wieder kommen linke Organisationen an einen Scheideweg, wo es um die grundsätzliche Ausrichtung des Kurses geht. Danach ist eine Umkehr nahezu unmöglich. In Griechenland gab es keinen Raum für soziale Reformen zugunsten der Bevölkerung mehr, es hieß Kampf oder Kapitulation. Das Land hat heute allenfalls den Lebensstandard des Kosovo, die Selbstmordrate ist extrem gestiegen, die Menschen hungern, es herrscht eine soziale Katastrophe, so der Referent.


In den Fallstricken des deutschen Reformismus

Ein zweiter umfangreicher Teil des Buches geht ebenfalls mit zwei Texten auf die Situation in Deutschland ein. Verfaßt hat sie Lucy Redler, die Spitzenkandidatin der WASG in Berlin war und dem Parteivorstand Der Linken angehört. Sie geht auf die Geschichte der WASG ein und zieht nach zehn Jahren Linkspartei eine Zwischenbilanz. Redler versucht, die Entwicklung nachzuvollziehen, wie sich die WASG aus Leuten, die sich von der Sozialdemokratie abgewendet haben wie auch Aktiven in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gegründet hat. Wo Aktivität herrschte, wie etwa bei den Protesten gegen die Hartz-Reformen 2003 oder die Rentenreform, gründeten sich Ortsgruppen der WASG. Es war das erste Mal, daß in Westdeutschland flächendeckend eine neue linke Organisation aufgetaucht ist. Im Osten gab es ja lange Jahre die PDS, die aber nur noch mit zwei Abgeordneten über Direktmandate im Bundestag saß, weil sie bei den Bundestagswahlen nicht über die Fünf-Prozent-Hürde kam. Die Fusion der beiden Parteien sorgte dafür, daß die PDS nicht unterging, sondern etwas Neues daraus entstand.

René Arnsburg berichtete aus seiner eigenen politischen Geschichte, daß er als Brandenburger nie in die PDS eingetreten war, weil sie sich aus seiner Sicht auf kommunaler Ebene kaum von der SPD und den Grünen unterschieden hat. In Berlin nahm die rot-rote Regierung extreme Kürzungen vor und baute im öffentlichen Dienst ab. Als sich Die Linke 2007 gründete, war das seines Erachtens ein neuer Ansatz. Bekanntlich fehlte es der Partei nie an inneren Konflikten um Grundsatzfragen, ob man auf Landesebene oder Bundesebene auf Regierungsbeteiligung setzt, welches Programm man sich gibt, welche Politik man macht, ob man mit einem radikalen sozialen oder gar sozialistischen Programm die Menschen erreichen kann. Die Linke habe in vielen Bereichen ein sehr gutes Programm, doch gleichzeitig sitzt sie in Thüringen mit Ramelow an der Spitze in der Landesregierung, schiebt dort ab, führt weiterhin den Abbau des öffentlichen Dienstes durch, erweitert den Niedriglohnsektor. Diese Widersprüche bestehen fort und lassen an der Glaubwürdigkeit einer linken Organisation zweifeln. Es sei schön, wenn der Co-Vorsitzende Riexinger als Gewerkschaftslinker gute Programme repräsentiert, doch werde das durch die real betriebene Politik konterkariert. In Berlin verspreche die rot-rot-grüne Regierung viel mehr, als sie tatsächlich umsetze. Kleinste Verbesserungen werden als große Erfolge verkauft, während in der Stadt extreme Mieterhöhungen und Zwangsräumungen an der Tagesordnung sind oder die Polizei bei einem Rudolf-Heß-Gedenkmarsch die alten Nazis zum Kundgebungsort eskortiert. Es gebe viele präkarisierte Bereiche auch in öffentlicher Hand, die keinen Tarifvertrag haben.

Da frage man sich, welchen Sinn es hat, daß Die Linke Teil einer solchen Regierung ist. Ist eine linke Partei bereit, sich mit den bürgerlichen Parteien anzulegen, Leute zu mobilisieren, die auf die Straße gehen und kämpfen, oder steht sie auf der anderen Seite der Barrikade? Regierungsbeteiligung sei Ausdruck einer bestimmten politischen Haltung, aber aus seiner Sicht nicht die Grundfrage. Die zentrale Frage laute: Wie weit glaubt man, unter den bestehenden Voraussetzungen Reformen durchsetzen zu können? Oder geht man den Weg, eine Bewegung aufzubauen, die in der Lage ist, den Kapitalismus zu stürzen? Das sei seit sehr langer Zeit die Grundfrage, die nach wie vor auch für Die Linke nicht beantwortet ist.


Tisch mit Büchern und Zeitschriften - Foto: © 2018 by Schattenblick

Am Stand des Manifest Verlags
Foto: © 2018 by Schattenblick


Britische Labour Party am Scheideweg?

In Großbritannien stelle sich eine andere Frage, nämlich was für eine Partei die Labour Party eigentlich ist. Setzen sich die 300.000 neuen Mitglieder durch und ändern die Partei im Zuge eines demokratischen Entscheidungsprozesses? Werden die alten Bürokraten, die kapitalistische Politik umgesetzt haben, aus der Partei vertrieben? Wird Jeremy Corbyn als linker Vorsitzender diesen Kampf führen, um dann Politik im Interesse der Mehrheit zu machen? Nach den nächsten Parlamentswahlen könnte es eine von Labour geführte oder sogar eine Alleinregierung geben. In diesem Fall würde sich zeigen, ob die Partei in der Lage ist, die Hoffnung der Menschen, die eingetreten sind und die sie gewählt haben, zu erfüllen oder nicht. Dort geht es nicht um Regierungsbeteiligung, sondern den Charakter der Partei insgesamt. In den letzten zwei Jahren hat das alte bürokratische Establishment der Labour Party den Apparat kontrolliert und es geschafft, gut besuchte Ortsgruppen aufzulösen, in denen Corbyn eine Mehrheit hat. Diese Fraktion kämpft mit extrem harten Bandagen, so daß bislang offen ist, ob die kampfbereiten Kräfte in der Partei, die etwas bewegen wollen, mobilisiert werden. Corbyn hat sich noch nicht entschieden, diesen Kampf zu führen, sondern immer wieder auf einen Kompromiß gesetzt.


Massenbewegungen in Spanien

In Spanien wuchs im vergangenen Jahr eine Massenbewegung anläßlich des Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien heran. Am 8. März gab es einen feministischen Streik gegen Sexismus, Gewalt gegen Frauen und für das Recht auf Selbstbestimmung, aber auch gegen die materielle Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. An diesem Streik haben sich 70 Prozent der Arbeiterklasse wie auch die Schülerinnen und Schüler auf die eine oder andere Weise beteiligt. Danach sind 500.000 Menschen gegen die Rentenreform auf die Straße gegangen. Arnsburg, der erst kürzlich dort gewesen war, beschreibt Spanien als ein Land, in dem ständig Bewegung herrscht. Kann Podemos dieser Bewegung einen angemessenen parteipolitischen Ausdruck verleihen? Oder eher die Vereinigte Linke, zumal es in dieser komplexen Gemengelage noch regionale linke Parteien gibt? Seines Erachtens wird der Fortgang der revolutionären Bewegung in Europa in erheblichem Maße von der Entwicklung in Spanien beeinflußt werden, da bestimmte linke Bewegungen dort stärker als in anderen europäischen Ländern seien.


Streifzug durch weitere Länder

Auch Frankreich hat gezeigt, daß dort Massenproteste jederzeit möglich sind. Seit 2016 wird sehr militant gegen die Gesetzesreform gestreikt und protestiert. Mit La France insoumise ist keine neue linke Partei entstanden, sondern eine Wahlplattform mit vielen Elementen einer neuen linken Organisation wie Basisstrukturen.

Brasilien steht seit dem Wahlsieg des rechtsextremen Kandidaten Jair Bolsonaro, der angekündigt hat, er werde das Land von den Linken säubern, im Brennpunkt internationaler Aufmerksamkeit. Ist die PSOL als linke Partei in der Lage, zusammen mit den anderen Bewegungen wie denen der Indigenen den Kampf aufzunehmen und anzuführen?

Als weniger prominentes Beispiel ist Polen zu nennen, wo sich mit Razem eine neue linke Formation nach dem Vorbild von Podemos gegründet hat. In Belgien hat die Partei der Arbeit, eine ehemals sehr kleine maoistische Organisation, inzwischen einen beachtlichen Wahlerfolg erzielt und in mehreren Regionalparlamenten Einzug gehalten. In Schweden hat die alte Linkspartei Vänsterpartiet, von der man außerhalb Skandinaviens wenig hört, eine hundertjährige Tradition und ist damit eine der ältesten ehemals kommunistischen Parteien. Thematisiert werden im Buch auch Portugal, Italien, Irland sowie Österreich, wo es keine linke Partei, sondern mit Aufbruch lediglich den Versuch gibt, eine neue linke Organisation zu gründen, was aber wohl nicht gelingen wird. Das heißt aber nicht, daß es in Österreich keine Kämpfe gibt. Dort wurde massenhaft gegen den Regierungsantritt von FPÖ und ÖVP wie auch gegen die Einführung des 12-Stunden-Tages protestiert. Diese Elemente könnten dafür sorgen, daß der Prozeß einer linken Parteigründung doch noch einmal in Gang kommt.


Kriterien linker Parteipolitik

In den Diskussionsbeiträgen überwog Skepsis, was die Bereitschaft und Wirkmächtigkeit der im Vortrag genannten Parteien oder Politiker betrifft, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Sei es für Proletarier des 21. Jahrhunderts nicht sinnvoller, sich stärker auf die Selbstorganisation der Klasse als auf eine Partei auszurichten? Bei der russischen Revolution oder der Novemberrevolution in Deutschland sei es weniger auf die Wahlergebnisse oder das Parteibuch der Arbeiter, sondern ihre die Bereitschaft angekommen, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. Dazu merkte Arnsburg an, daß in einer revolutionären Situation natürlich nicht alle Parteimitglieder sein müßten. Die Bolschewiki hatten zwar viele Mitglieder, aber bei weitem nicht die Mehrheit der Arbeiterklasse. Doch die Arbeiterklasse und Teile der Bauernschaft hätten die Forderungen der Bolschewiki richtig gefunden und sie aufgegriffen.

Ein kritischer Einwand entsprang dem Eindruck, unter "Bewegung" werde jegliche Regung subsumiert, ohne genauer zu prüfen, was sich da in welche Richtung bewegt. Auch in Spanien handele es sich bedauerlicherweise lediglich um Abwehrkämpfe gegen den Abbau des Sozialstaats, während ein Klassenkampf auf breiter Front nicht zu erkennen sei. Man täusche sich über den tatsächlichen Stand hinweg, wenn man mit Zahlen von Demonstrationen argumentiere, ohne zu prüfen, wogegen und wofür die Menschen auf die Straße gingen. Wofür treten Sanders oder Corbyn an? Auch die Bilanz der Linkspartei sei fürchterlich, da sie im Grunde den alten Sozialstaat verteidige und eine bessere Sozialdemokratie fordere.

Eine ähnliche Argumentation nahm das Problem aufs Korn, daß die linken Parteien systemkonform arbeiteten. In Portugal stütze die Kommunistische Partei die Regierung mit ihren Stimmen. Die Menschen wollten Antworten und Ergebnisse haben, aber nicht einer besseren sozialdemokratischen Partei ihre Stimme geben. Können linke Parteien derzeit eine Alternative zum kapitalistischen System anbieten? Sie müßten ehrlich sagen, ob sie das wollen oder nicht, und mit offenen Karten spielen. Ein anderer Beitrag attestierte Parteien wie Syriza, die aus einer Protestbewegung hervorgegangen sind, das Interesse an einer grundlegenden Veränderung, die jedoch an äußeren Zwängen scheitere. Das lasse sich auf alle anderen Beispiele übertragen, die als Hoffnungsschimmer angeführt wurden. Sobald diese Parteien in Regierungsverantwortung kämen, könnten sie ihren ehemals hehren Zielen nicht gerecht werden.

Kritisiert wurden auch die Gewerkschaften, wofür die Demonstration am 1. Mai in Dortmund als ein Beispiel angeführt wurde. Dort habe eine linksradikale Gruppe ein Transparent mit der Aufschrift "Klassenkampf statt Standortnationalismus" samt roten Fahnen mitgeführt. Die Gewerkschaft forderte diese Gruppe auf, die Demo zu verlassen, und als dies nicht geschah, wurde die Polizei gerufen. Klassenkampf sei für die Gewerkschaft etwas, das sie verbieten und wegräumen muß. Dem fügte ein anderer Diskussionsteilnehmer hinzu, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland deswegen so weit vorn stehe, weil es hier keine Streiks gibt. Er arbeite in einem Großbetrieb mit 90 Prozent Organisierung bei der IG Metall. Die Leute sagten, warum sollen wir streiken, uns geht es doch gut! Da sei die Betriebsarbeit extrem schwierig. Anderswo hätten die Leute Angst, ihren Job zu verlieren, oder würden von der Gewerkschaft ignoriert, weil sie Migranten sind. Es gebe also viele Ebenen, auf denen ein selbstorganisierter Angriff geführt werden müsse.

Arnsburg beschrieb in diesem Zusammenhang seine frühere Tätigkeit, bei der er in Berlin für Start-ups mit einer internationalen Belegschaft gearbeitet hatte. Die Leute überhaupt in die Gewerkschaft zu bekommen oder einen Betriebsrat zu wählen, habe sich in Kellerkneipen abgespielt. Die Beschäftigten fürchteten, das US-Management könnte Wind davon bekommen und sie rauswerfen, wie ihm das dann passiert sei: Die Leute wollten kämpfen, wußten aber nicht wie und hatten große Angst. Es gehe um den Wiederaufbau der Arbeiterbewegung, was etwas mit dem Bewußtsein, der Zerstörung der traditionellen Organisationen und der Rückeroberung der Gewerkschaften zu tun habe. Gebe es Mitglieder mit einer revolutionären Gesinnung in der Gewerkschaft, könne man tatsächlich versuchen, durch Diskussionen und geführte Kämpfe den Leuten klarzumachen, daß die Gewerkschaftsführung nicht ihre Interessen vertritt.

Grundsätzlich erwiderte René Arnsburg auf die Einwände, daß er kein Vertreter der Linkspartei, sondern einfaches Parteimitglied sei. Die Texte im Buch kämen zu dem Schluß, daß eine linke Partei mit einem Programm für die Interessen der Lohnabhängigen eintreten und zugleich ein Ort sein müsse, an dem sich die Menschen selbst organisieren können. Die Partei sollte Motor sein und Vorschläge einbringen, in welchen Schritten der Kapitalismus gestürzt werden könnte, was jedoch nur auf Grundlage der Aktivität an der Basis vorangetrieben werde. Sage die Spitze, was zu tun ist, während der Rest hinterherlaufen soll, sei das keine demokratische Parteistruktur. Der traditionelle Aufbau der Kommunistischen Parteien sei Ausdruck der revolutionären Teile der Arbeiterklasse und untrennbar mit ihnen verbunden, wie es Marx schon im Kommunistischen Manifest gesagt hat. Eine Regierungsbeteiligung mit SPD und Grünen sei deshalb ausgeschlossen, weil das Parteien sind, die das System stützen. Es gebe keinen Kompromiß zwischen dem Sturz des Kapitalismus und gemeinsamer Politik mit SPD und Grünen. Viele seien mit hohen Zielen angetreten, hätten sie dann aber über Bord geworfen, weil das Ministergehalt verlockender als der Kampf war.

An der Unteilbar-Demo in Berlin hätten 250.000 Leute teilgenommen, die überwiegend zum ersten Mal auf die Straße gegangen seien. In der Mehrheit seien es Lohnabhängige gewesen, die aber nicht als Arbeiterklasse gekommen waren, um ihre Interessen zu vertreten. In Spanien sei das Klassenbewußtsein höher als in Deutschland, die Leute zögen weitreichendere Schlußfolgerungen. Er sage mitnichten, daß Sanders oder Podemos oder wer auch immer ein revolutionäres Programm habe. Das Buch verfolge indessen den Ansatz, diese Beispiele kritisch zu durchleuchten, ihre Schwächen herauszuarbeiten und eben auch Kriterien einer linken Partei zu definieren, die reale Kämpfe durchführen und anführen kann.


Fußnoten:


[1] Lucy Redler, René Arnsburg (Hg.): Die Linke international. Der Kampf um den Aufbau linker Parteien auf drei Kontinenten, Manifest Verlag Berlin 2018, 189 Seiten, 11,90 Euro, ISBN 978-3-96156-032-5


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16. Dezember 2018


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