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INTERVIEW/003: Günter Wallraff in Leipzig (SB)


Sich der Realität auszusetzen, ist die beste Art zu lernen


Das Erich-Zeigner-Haus in Leipzig ist seit mehr als 15 Jahren ein Zentrum für Zivilcourage. Frank Kimmerle, der erste Vorsitzende des gleichnamigen Vereins, startet von hier aus vielfältige Aktionen gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und rechte Gewalt. Zielgruppe und Ansprechpartner sind Menschen aller Altersklassen und -schichten. Ein gern gesehener Gast des Hauses und aktiver Mitstreiter ist Günter Wallraff, den sein Engagement in jüngster Vergangenheit über 70 Mal in den Osten Deutschlands führte. Anläßlich einer Lesung aus seinen neuesten Reportagen "Aus der schönen neuen Welt - Expeditionen ins Landesinnere" im Rahmen des ersten Literaturfestivals textenet.de und der Premiere seines Films "Schwarz auf Weiß" in Leipzig am 20. November 2009 hatte der Schattenblick Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit Günter Wallraff an diesem positionierten Ort.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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Schattenblick: Herr Wallraff, die Kritik an Ihrem Film "Schwarz auf Weiß" bemängelt, die Figur des Kwami Ogonno sei wenig glaubhaft, eher karnevalesk und es wäre kein Schwarzer zu Wort gekommen. Sie würden mit dem Leiden anderer Geld verdienen und hätten im unmittelbaren Anschluß an die einzelnen Begebenheiten auch nicht die Chance genutzt, mit den Beteiligten über ihren offen oder latent geäußerten Rassismus zu sprechen. Hat da jemand Ihr Anliegen oder Ihre Methode mißverstanden?

Günter Wallraff: Ich glaube, es wird immer wieder versucht, die eigentlichen Inhalte in den Hintergrund zu schieben und sich an meiner Person oder meiner Methode zu reiben oder abzuarbeiten. Da spielen manchmal Verdrängungsmechanismen eine Rolle, aber auch Versuche, eigene Anliegen in den Vordergrund zu bringen. Das gelingt ja auch zum Teil, wenn einzelne Funktionäre oder ein Feuilleton-Chef sich dann auf meine Kosten profilieren wollen.

Das, was ich seit 40 Jahren mache, geht weit über einen normalen Beruf hinaus und grenzt schon an Obsession; daß ich damit ab einem bestimmten Zeitpunkt auch Geld verdiente, war nie der Antrieb. Wenn das jetzt unterstellt wird von Leuten, deren eigene Antriebskraft hauptsächlich das Geld ist, dann sollten die selber in sich gehen. Meine Erfolge waren vorher nie abzusehen, auch das neue Projekt, das neue Buch vor allem, ist extrem prozeßgefährdet. Einer von den dort Vorkommenden könnte Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe geltend machen. Daß das jetzt wieder ein Erfolg geworden ist, war nicht vorhersehbar nach so langer Zeit. Im übrigen habe ich von meinen bisherigen Honoraren große Summen in meine Stiftung "Zusammen-Leben" eingebracht, bislang weit über eine Million Euro.

SB: Das ist die Stiftung in Duisburg?

GW: Ja. Ich finanziere außerdem Rechtsanwälte, ich habe einen Bootsflüchtling bei mir in die Familie aufgenommen und ihm eine Existenz besorgt, aber das will ich gar nicht an die große Glocke hängen.

SB: Ihre ganze Vita spricht eigentlich dagegen, Bereicherung als Motiv zu unterstellen.

GW: Ich kann inzwischen aufgrund hoher Honorarsummen auch mehr Risiken eingehen und mir Grenzüberschreitungen leisten und sogar Prozesse provozieren, das könnte ich sonst nicht. Insofern prallt solche Kritik total an mir ab.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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Und dann gibt es vordergründige Versuche, sich an dem Typus des Kwami Ogonno aufzuhalten. Das fängt damit an, ich hätte das falsche Hemd getragen. Aber im Film kommt das nur 10 Minuten vor. Und ich habe es nur im Sommer und auch nur in Freizeitsituationen getragen, sonst kam ich so daher, wie ich auch sonst daherkomme, im blauen Hemd und ordentlich angezogen. Auch in Fernsehsendungen trete ich meist mit einem blauen Hemd an, wie Arbeiter ihren Blaumann anziehen, so ziehe ich da mein blaues Hemd und mein Jackett an. Und so bin ich auf Wohnungssuche gewesen, so war ich auf Arbeitssuche, so war ich weitgehend unterwegs. Und das Hemd, muß ich Ihnen sagen, das habe ich jetzt erst untersucht, nachdem mir das als grell und bunt um die Ohren geknallt wurde, das Hemd gefällt mir, das trage ich auch privat, nur ist es jetzt gerade zu kalt. Das ist sogar ein Markenhemd, habe ich jetzt recherchiert, weil ich nie auf Marken achte, das ist sogar ein Designerhemd, Replay, das sei eine totale In-Marke, habe ich mir sagen lassen, das wußte ich übrigens vorher nicht. Mir gefiel es einfach nur. Und jetzt kommen irgendwelche Spießer und nehmen Anstoß an dem Hemd. Es hat allerdings etwas Buntes, Lebensbejahendes und von daher hat das Hemd sicherlich Symbolkraft. Also da fängt es schon mal an.

So, und dann hätte ich nicht ausgesehen, wie ein richtiger Schwarzer auszusehen hätte. Ja, wie hat denn ein richtiger Schwarzer auszusehen? Das ist das Allerverückteste, was ich da erlebe. Bei echten, bei authentischen Schwarzen gab's nie Mißtrauen. Ich habe in einem Asylbewerberheim in München gelebt und gehörte zu denen. Ich hab da übernachtet und hab Freundschaften geschlossen. Ich war in Köln in einer Disco, wo hauptsächlich Schwarze verkehren, und auch in dieser Disco gehörte ich dazu. Nirgends Mißtrauen. Und ich bin auch erstmal als deutscher Schwarzer aufgetreten. Erst wenn ich - selten genug - gefragt wurde, wo kommst Du denn her, dann habe ich gesagt: Somalia. Und ich kam auf Somalia, weil etliche Schwarze, die ich fragte: Was meint ihr denn, wo ich herkomme?, auf Somalia tippten! Ich hab mir das also gar nicht aus dem hohlen Bauch heraus einfallen lassen. Es gab sogar eine Somalierin, die warf mir in der gleichen Süddeutschen, wo sich ein Feuilleton-Chef an mir abarbeitet, vor, ein echter Somalier sähe nicht so aus, der Schnauzbart sei ja schon völlig anders. Ja, wie sieht denn ein echter Somalier aus, wie sieht denn ein echter Deutscher aus?

Foto: © 2009 by Schattenblick
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Dann gab's eine andere Kritik: Der Name Kwami Ogonno sei ja mehr ein westafrikanischer Name und ich sagte, auch ihr heiratet doch untereinander und da existieren doch nicht nur die starren Ethnien. Ich habe den Eindruck, daß da zum Teil auch ein rassistischer Ansatz dahintersteckt.

Die Kritik kam übrigens häufig von welchen, die den Film überhaupt noch nicht gesehen hatten. Dann hieß es, warum hast du keinen echten Schwarzen da hingeschickt? Sie werden lachen, ich hatte vor zwei Jahren bei einem der heftigsten Kritiker angefragt, ob er jemanden kennen würde, der mich vielleicht begleiten könnte. Da kam aber nichts, da war überhaupt kein Interesse da. Heute bin ich froh darüber, weil es bestimmte Situationen gab, da hätte ich einen authentischen Schwarzen nicht mit hineingezogen. Genau wie in der Obdachlosenrolle, da gab's einen, der schon 25 Jahre auf der Straße war, den hab ich natürlich auch nicht in die schlimmsten Situationen mitgenommen, zum Beispiel in den Bunker in Hannover. Und auch in den Kältenächten bei minus 15 Grad, als ich im Freien übernachtete, habe ich darauf bestanden, daß er als mein Gast bei mir zu Hause schlief.

SB: Wenn jetzt ein richtiger Schwarzer an Ihre Stelle getreten wäre, muß man nicht davon ausgehen, daß er diese Wirkung gar nicht erzielt hätte?

GW: Zumindest hätte ich es nicht verantworten können. Den hätte ich doch nicht in Gefahr bringen können. Ich hätte doch nicht einen anderen seinen Kopf für mich hinhalten lassen können.

Und der Witz bestand doch darin, daß ich einen Rassisten oder jemanden, der Ressentiments hat, viel besser verunsichern, am Ende sogar überzeugen kann, wenn ich ein Weißer bin und nur die Hautfarbe ausschlaggebend ist. Felicitas Peters, eine schwarze Künstlerin, hat, zu dem Film befragt, in einem Zeitungsinterview gesagt: "Daß ihn ein Weißer gemacht hat, das ist doch gerade der Gag an der Sache."

In den Filmvorführungen, wo ich auch ab und zu dabei war, bei der Premiere in Berlin, in München, in Köln und so weiter, da waren Schwarze durch die Bank weg - mit leichter Kritik und Vorschlägen, was man hätte besser machen können - von dem Film überzeugt: "Endlich macht das mal ein Weißer und so lenkt er auch auf unsere Interessen hin." Am 17. Dezember wird in der ZEIT ein längeres, kontroverses Gespräch mit Vertretern von Schwarzen-Organisationen erscheinen und da wird das sehr sachlich diskutiert.

SB: Sie schreiben in Ihrem Buch: "Ohne Fremde wären wir ärmer" und "Wir brauchen sie". Reicht das aus als Argument gegen Rassismus? Und wie könnte eine Lösung aussehen, die nicht in bloßen administrativen Maßnahmen oder moralischen Appellen steckenbleibt? Sie haben erzählt, daß Sie in Köln-Ehrenfeld ganz gute Ansätze gemacht haben, daß da Kinder verschiedenster Ethnien miteinander aufwachsen. Kann man sich dem Problem Rassismus vielleicht nur in dieser Art von Zusammenleben nähern oder welche Möglichkeiten gibt es?

GW: Ich meine, Film und Buch haben jetzt schon gezeigt, daß sie sich als eine Art Lockerungsübungen eignen. In den Filmvorführungen sind auch viele Weiße, die nicht aus Bildungsschichten kommen. Meine Leser sind nicht nur Intellektuelle, sondern es geht quer durch die Bevölkerung. Da fangen welche an, sich selbst zu hinterfragen: Wie hätten wir denn reagiert? Und prüfen bei sich selber und stellen fest, ja, diese und jene Einstellung haben wir auch drauf. Und wenn mal gelacht wird an bestimmten Stellen, dann ist das oft ein erkenntnisreiches Lachen, ein befreiendes Lachen und nicht Lachen auf Kosten der Schwarzen; das wurde mir auch vorgeworfen, daß ich manchmal groteske Situationen hervorrufe. Das liegt aber daran, daß ich in der Rolle authentisch und eben fremd bin und dadurch Reaktionen hervorlocke, die jemand sonst nicht preisgibt.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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Ich finde, das ganze Problem der Xenophobie und des Rassismus muß ganz früh angegangen werden. Kinder sind am lernfähigsten. Kinder, die zusammen aufwachsen, überwinden die Vorurteile oder haben sie gar nicht erst. Bis zum dritten oder fünften Lebensjahr zum Beispiel definieren Kinder andere Menschen nicht über die Hautfarbe. Als unsere Tochter im Kindergarten war, redete sie immer begeistert von ihrer liebsten Freundin und als die das erste Mal mit zu uns nach Hause kam, war das eine Schwarze, aber die Hautfarbe war für die beiden überhaupt kein Thema.

SB: Es spielt für Kinder keine Rolle, sie nehmen das andere Kind nicht als schwarzes Kind wahr, sondern als...

GW: ... Menschen mit all seinen Facetten und Vielfältigkeiten. Ich glaube, daß Deutschland da in vielem ein Entwicklungsland ist. In anderen Ländern werden Immigranten oder überhaupt Menschen anderer Herkunft ganz anders wahrgenommen, die Förderung in den Schulen ist eine ganz andere. Hier wird ausgegrenzt und selektiert, hier werden Menschen oft aufgrund des gesellschaftlichen Standes oder ihrer Herkunft schon nicht besonders gefördert, sondern bereits in Extraklassen separiert oder in Schulen gesteckt, wo sie dann unter sich bleiben. Die Untersuchungen des ehemaligen niedersächsischen Justizministers und Kriminologen Christian Pfeiffer belegen, daß da, wo Migrantenkinder mit deutschen Kindern aufwachsen, die Chancen, bis zum Abitur zu kommen, fast gleich hoch sind, und die Gewaltquote ist auch nicht höher als bei Deutschen. Aber da, wo sie nicht gefördert werden, da haben sie nur noch ein Drittel so viel Chancen, zum Studium zu kommen. Da muß es beginnen und sicher auch durch zu fördernde Kontakte. Da mache ich auch eine Nacharbeit mit meinem Film und Buch. Im Frühjahr werden wir hier in Leipzig eine Veranstaltungsreihe durchführen, in Jugendzentren und in Schulen, und da will ich auch zu dem Fan-Club nach Dresden. Ich muß mir nur noch überlegen, wie ich die Richtigen dann auch dahin bekomme.

SB: Herr Krätzner hat gestern in dem Gespräch nach der Lesung unterschieden zwischen einer "natürlichen Aggression und Abwehr des Fremden" und Rassismus. Wie würden Sie das sehen?

GW: Also, damit hab ich meine Probleme und ich würde sagen, dieses Stadium haben wir überwunden, wir leben in einer Gesellschaft, wo wir diese Aggression nicht brauchen. Und selbst bei dem gefährlichen Vergleich mit dem Tierreich - unsere nächsten Verwandten, die Affen, die wären ja auch aggressiv - selbst da hat man in Brasilien eine Affenpopulation entdeckt - und Verhaltensforscher stürzen sich zur Zeit darauf -, die sind überhaupt nicht aggressiv. Die sind so liebevoll zueinander und gerade, wenn Gefahr ist, dann hacken die nicht auf Schwächeren rum, sondern umarmen sich friedlich. Also gibt es auch in der Natur andere Beispiele. Im übrigen leben wir nicht mehr nach dem Naturrecht, wir haben eine Zivilisation geschaffen und sicher ist die Kruste der aufklärenden Zivilisation manchmal sehr brüchig, aber wir sollten sie festigen. Wir brauchen diese Form des Feindbildes längst nicht mehr. Wir sollten betonen, daß wir vom Fremden lernen können, viel mehr lernen können vom Anderen und das eigene Leben dadurch bereichern. Und auch der Fremde lernt. Für mich sind die Menschen der Zukunft diejenigen - und da hab' ich in meinem Freundeskreis etliche -, die ihre Wurzeln in anderen Kulturen haben, die das jeweils Rückständige hinter sich lassen und sich die positiven Seiten der neuen Kultur zu eigen machen. Diese Menschen müssen gefördert werden und so bin ich auch für die doppelte Staatsbürgerschaft.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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SB: Das würde bedeuten, daß ich im Fremden nicht das Feindliche sehe, sondern die Möglichkeit wahrnehme, erst mal zu gucken, wie ist der eigentlich...

GW: ... über seinen Horizont hinauszuschauen und sich ihm differenziert zu nähern, ihn kennenzulernen, sich auseinanderzusetzen, auch zu streiten, ja, aber nicht aus einer Überheblichkeit heraus, sondern mit dem Interesse desjenigen, der dazulernen will. Ein Austausch muß stattfinden, und das ist eben so selten.

Es gibt diese Xenophobie auch umgekehrt. Ich streite mich sehr oft mit nationalistischen Türken oder islamistischen Mitbürgern, die alles, was in Deutschland ist, nur negativ sehen und alles verklären, was bei ihnen stattfindet. Mit denen streite ich mich heftig und leg es auch darauf an, aber nicht vom Standpunkt desjenigen, der alles besser weiß. Auf einen Standard müssen wir uns einigen - das sind die universalen Menschenrechte. Die sind nicht auseinanderzudividieren und sie reichen über nationale und auch kulturelle Grenzen hinaus.

SB: Sie haben sich ja auch für den Kölner Moscheebau engagiert und haben nach Bekanntwerden Ihrer Absicht, in der Moschee eine Lesung mit Texten von Salman Rushdie abzuhalten, regelrechte Morddrohungen erhalten. Wie gehen Sie damit um? Unterscheiden Sie zwischen Muslimen, die in Ihrem Sinne rückständig sind, weil sie die universalen Menschenrechte nicht anerkennen oder würden Sie - natürlich nicht bei Morddrohungen - noch eine gewisse Toleranz gelten lassen, wenn diese Menschen sehr orthodox denken?

GW: Es kommt darauf an, welche Position sie haben. Wenn das Funktionäre sind, die knallhart ihre Interessen verfolgen und oft übrigens eine Doppelmoral vertreten - die verfolgen zum Teil rein wirtschaftliche und politische Interessen -, mit denen kann es auch keinen echten Dialog geben. Für die sind wir nur die nützlichen Idioten. Das habe ich erlebt in dieser Moscheeauseinandersetzung. Da gab es einige aus der Gemeinde, die sagten: "Ja, damit müssen wir uns auseinandersetzen, den Salman Rushdie, den kennen wir ja gar nicht." Er durfte in keinem islamischen Land erscheinen, und da gibt es so viele Anspielungen, daß wir hier vieles gar nicht verstehen, wenn wir sein Buch lesen, ein Meisterwerk der Literatur, so wie Grass' Blechtrommel, der sich mit unserer Kultur satirisch auseinandergesetzt hat.

Man wollte mich im Beirat haben - ich sagte, gerne, ich bin ja für den Moscheebau, aber dann sollte man sich auch einmal mit so etwas auseinandersetzen, eine Lesung mit Diskussion veranstalten. Zuerst reagierte der Sprecher der Moschee sehr positiv darauf, es war schließlich in einer Live-Diskussion im Deutschlandfunk, anschließend gab es mehrere Treffen, aber dann intervenierten die Oberen, die Funktionäre, knallhart, und dann war es absolut unmöglich. Aus "Ganz unten" hätte ich lesen sollen. Ich war blöd, ich hätte das wahrnehmen sollen und mit "Ganz unten" anfangen und dann Texte aus Salman Rushdie vorstellen sollen, da war ich zu höflich. Und dann gab's eine richtige Auseinandersetzung. Der Gleiche, der immer vorgeschickt wird in dieser Moscheegemeinschaft, wurde plötzlich von seinen obersten Funktionären zurückgepfiffen und hat mir dann auch noch öffentlich vorgeworfen, ich hätte die Gefühle der Muslime weltweit verletzt. Und dann ging noch die Morddrohung ein. Es wäre, so die Vorhaltung, als würde ich einen ökumenischen Schwulengottesdienst im Kölner Dom verlangen.

Auch der wäre überfällig, in einer Männergesellschaft, die so zölibatär ausgerichtet ist, so menschenfeindlich, daß sich Homosexuelle nicht bekennen, nicht outen dürfen, sonst verlieren sie Amt und Pensionsansprüche. Ich würde zu so einer Feierlichkeit auch noch die Kinder und die Frauen der Priester mit einladen. Da wachsen Kinder ohne Vaterbild auf, grausame Schicksale, auch das wäre angebracht und überfällig! Wenn sie unseren für Köln zuständigen Erzbischof sehen, Kardinal Meißner, der da vom Papst als sein persönlicher Spezi und Aufpasser hingeschickt wurde, der bringt es doch fertig, seinem obersten Dienstherren zu Gefallen Gotteslästerung zu begehen. Ich bin für die Abschaffung des Blasphemieparagraphen, aber dem müßte nach Kirchenrecht der Prozeß gemacht werden. Der sagt doch tatsächlich, wäre Jesus alt geworden, dann sähe er aus wie unser jetziger Papst. Das hält man doch nicht aus. Ich bin zwar Agnostiker, aber ich habe ein positives Jesusverständnis, ich sehe ihn in der Tradition Sokrates, Ghandi, Martin Luther King, zum Teil auch Mandela, also von Menschen, die bereit sind, für ihre Überzeugung viel zu riskieren, unter Umständen sogar ihr Leben. Und da habe ich mir in der Veranstaltung erlaubt zu sagen - weil der Vergleich schon von der Herkunft, der Regionalität her schwachsinnig ist -, er sähe doch dann eher aus wie Arafat oder Bin Laden, äußerlich natürlich, nicht, was die Spiritualität angeht. Daraufhin wurde mir dann in der WELT mehrfach um die Ohren geknallt, ich hätte Jesus mit Bin Laden verglichen.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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SB: Wie beurteilen Sie im Verhältnis zu diesem Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen die Rolle der westlichen Kriegsführung in islamischen Staaten?

GW: Der Irakkrieg hat ja nun gar nichts mit dem Islam zu tun, im Gegenteil. Man hat den Islamismus, dieses von den USA immer wieder propagierte, verkürzte Freund-Feindbild, durch den Krieg erst in den Irak hereingeholt, wie auch in Afghanistan. Wer hat denn die Taliban nach dem Motto "der Feind meines Feindes ist mein Freund" aufgerüstet? Man hat das ganze Dilemma in Afghanistan verschuldet, indem die Taliban von den Amerikanern geschaffen wurden. Das Paradoxe im Irak, wo ein Tyrannenmord angebracht gewesen wäre, ist, daß unter Saddam Hussein die Frauenrechte, die in den arabischen Staaten mißachtet werden, vergleichsweise weit entwickelt waren und auch religiöse Minderheiten ihre Rechte hatten, Christen, Bahai und andere. Jetzt ist daraus mehr oder weniger eine Kolonie des Iran geworden und der Iran hat da einen enormen Machtzuwachs erhalten, Minderheiten werden unterdrückt und verfolgt. Von daher geht es dort an allererster Stelle um strategische und Wirtschaftsinteressen, vor allem um Öl.

SB: Das heißt, Sie würden den Kulturkampf, der ja auch zum Obertitel dieser ganzen Auseinandersetzung geworden ist, dementieren?

GW: Das ist ein reiner Vorwand, um Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Wer hat denn nachher versucht, den Irak wirtschaftlich in den Griff zu kriegen, Halliburton, das waren die Bush Gang-Typen, die das Ganze aufmischen wollten und das ist natürlich fehlgeschlagen. Herausgekommen ist ein Riesendesaster und das Land wird noch über Generationen daran zu bluten haben.

SB: Und wie beurteilen Sie die Rolle des SPIEGEL in diesem Zusammenhang? Sie sind ja vor allem als Kritiker der Bild-Zeitung bekannt.

GW: Ich meine, als der erste Irakkrieg anfing, hat der SPIEGEL als Kriegsberichterstatter fungiert, diesen Krieg gerechtfertigt, wie auch einige Intellektuelle bis hin zu Enzensberger. Enzensberger war doch der, der meinte, Saddam Hussein mit Hitler vergleichen zu müssen. Die hatten dann auch ihre Hilfstruppen. Das ist heute alles vergessen. Das kippte dann durch die Stimmung in der Bevölkerung. Wir haben in Deutschland einen stark verwurzelten Antimilitarismus, der durchaus mehrheitsfähig ist. Damit hat ja dann auch erstmalig in der Nachkriegsgeschichte ein Bundeskanzler den Schulterschluß mit den USA verweigert und hat damit auch die Wahl gewonnen. Ich würde schon sagen, daß auch der Krieg in Afghanistan innerhalb der Bevölkerung als immer absurder angesehen wird. Sicher löst man das nicht von heute auf morgen und es muß einen geordneten Rückzug geben, aber der muß jetzt auch angegangen und vorbereitet werden.

SB-Redakteurin im Gespräch mit Günter Wallraff - Foto: © 2009 by Schattenblick

SB-Redakteurin im Gespräch mit Günter Wallraff
Foto: © 2009 by Schattenblick

SB: Sie haben während der Lesung gestern gesagt, Sie hätten wider Erwarten zu Ihrem neuen Buch noch keine Prozessandrohungen erhalten?

GW: Doch, es gab eine, von einem Callcenter-Betreiber, der es geschafft hat, daß Grossisten wie Libri ohne Rechtsgrundlage in die Knie gegangen sind und alleine aufgrund der Einschüchterung das Buch eine Zeit lang nicht mehr ausgeliefert haben.

SB: Sie machen Ihre Reportagen jetzt seit über 40 Jahren, haben eine ungeheure Resonanz gehabt, "Ganz unten" beispielsweise hat eine Auflage von über fünf Millionen erreicht und wurde in 38 Sprachen übersetzt. Ist Aufklärung über Mißstände in der Arbeitswelt angesichts einer Entwicklung, in der die Bedingungen eher an die Anfänge der Industrialisierung als an einen modernen Sozialstaat erinnern, überhaupt noch ein Skandal? Läßt sich die ausbleibende oder sehr reduzierte Prozessbereitschaft vielleicht auch damit erklären, daß die Wirkung sozialkritischer Recherchearbeit heute nicht mehr da ist?

GW: Nein im Gegenteil. Ich weiß, daß einige Anwälte bereits angesetzt hatten. Aber sie wissen, daß dann durch öffentliche Prozesse alles nur noch schlimmer wird. Ich hab genug Material zum Nachlegen, auch in den einzelnen Passagen des neuen Buches, die ich beschrieben habe. Es gibt eine Flut von anderen Fällen und würde ein Prozess stattfinden, würde ich sofort nachlegen. Selbst wenn ich vorübergehend - wie bei der Sache mit BILD - eine einstweilige Verfügung bekäme, das Buch würde sofort neu aufgelegt. Das Buch ist ja ein Erfolg, in wenigen Wochen schon über 100.000 verkaufte Exemplare und Platz 2 auf der Taschenbuch-Bestsellerliste.

SB: Die Frage, um das ein bißchen zu präzisieren, ist, ob nicht in unserer Gesellschaft inzwischen ein Klima herrscht, in dem es möglich ist, Skandale offenzulegen, ohne daß die Verantwortlichen sich überhaupt bemüßigt fühlen würden, in irgendeiner Weise darauf zu reagieren?

GW: Das hat eine andere Ursache: Es hat sich herumgesprochen, daß ich alle meine Prozesse gewonnen habe und daß meine Bücher in großen Teilen inzwischen gerichtsbeglaubigte Bücher sind, d.h., sie sind so gut abgesichert, daß jeder Prozess leerlaufen und letztlich nur noch mehr Öffentlichkeit hervorrufen würde. So ist z.B. gerade heute wieder ein Unterwerfungsbrief gekommen von Anwälten, die prozessieren wollten, die strecken jetzt die Hand aus, um sich zu einigen. Würde ich allerdings nicht den Bekanntheitsgrad haben und hätte es sich nicht herumgesprochen, daß ich meine Prozesse gewonnen habe, dann wäre das etwas anderes. Selbst im Bildurteil, der sogenannten Lex Wallraff, wurde der Spielraum für meine Methode der Recherche erheblich erweitert, das wissen alle. Von daher wäre das Buch bei einem unbekannten Autor sicher schon von der Bildfläche verschwunden.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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SB: Ihre Methode des investigativen Journalismus hat ja inzwischen viele Nachahmer gefunden, Sie selbst fordern Stipendien zur Unterstützung von verdeckten Recherchen. Wo läuft diese Methode Gefahr, die Integrität anderer zu verletzen? Wo ist für Sie die Grenze, wo Sie sagen würden: Das geht und das geht nicht.

GW: Da, wo der Privatbereich und erst recht wo der Intimbereich des Gegners oder Gegenübers anfängt. Wo die Arbeit der Bildzeitung beginnt, da hört meine auf.

SB: Wo Menschen vorgeführt werden, wenn zum Beispiel Hartz IV-Empfänger beim Einkaufen gefilmt werden, um nachzuweisen, daß sie Alkohol kaufen...

GW: Es ist immer eine Rechtsgüterabwägung: Schwächeren, Hilflosen gegenüber ist es verwerflich, Mächtigeren gegenüber, die ihre Macht mißbrauchen, notwendig. Diejenigen, die nichts zu lachen haben, noch dem Gelächter auszusetzen, das ist das Allermieseste. Da gibt es Sendungen, die sind dermaßen verwerflich, wo Reporter bei Menschen, die sich nicht wehren können, in die Wohnung einfallen...

SB: ... und sich auf Ihre Methode berufen...

GW: Dann kennen die mich aber nicht.

SB: ... in scheinbar aufklärerischer Absicht.

GW: Ja, das ist absolut verwerflich, weil damit hilflose Menschen an den Pranger gestellt und ausgeliefert werden. Bei mir sind es die, die sich wehren können und die anderen werden vorher gefragt, ob sie auch erkennbar sein wollen. Da gab es übrigens etliche, die fanden bei rassistischen Äußerungen überhaupt nichts dabei.

SB: Auch bei RTL werden die Leute ja gefragt, sonst käme man nicht in ihre Wohnungen, und sie entblößen und entblöden sich dann auf eine Weise, die schon obszön ist.

GW: Die müßten vor sich selbst geschützt werden. Bei bestimmten Sendungen im Privatfernsehen müßte man den Beteiligten nachher eine therapeutische Behandlung finanzieren.

Fortsetzung des Gesprächs im Café Grundmann - Foto: © 2009 by Schattenblick
Fortsetzung des Gesprächs im Café Grundmann
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SB: Sie machen als Kwami Ogonno im feinen Zwirn beim Besuch eines Juwelierladens in der Düsseldorfer Kö durchaus auch die Erfahrung, daß ein Schwarzer respektvoll und nicht diskriminierend bedient wird. Auf den Anzug kommt es an. Und Sie haben gestern bei der Veranstaltung die Frage aufgeworfen, ob, wenn es nun ein Arzt oder ein Medienstar, ein Musiker gewesen wäre, er vielleicht andere, positivere Erfahrungen gemacht hätte. Ist die Diskrepanz zwischen Arm und Reich nicht viel grundlegender als die zwischen Schwarz und Weiß?

GW: Ja, auch. Die Gesellschaft ist inzwischen extrem gespalten und der zynische Satz "Erfolg gibt recht", egal womit, kennzeichnet eine Umwertung der Werte. Wir leben in einer Verkommenheit, die gräßlich ist, wo Menschen in Armut hineingeboren werden und Reichtum sich weitervererbt in immer weniger Hände. Darum auch immer wieder Huxley's Vorlage "Brave New World" - die Millionlinge, über die man verfügt, die inzwischen sogar gegen ihre eigenen Interessen handeln oder sich gar nicht mehr zu wehren wissen, entrechtete, entwürdigte Menschen und darüber eine Kaste der Alpha-Plus Menschen, die auf zynische Weise das Ganze beaufsichtigen und davon profitieren und verächtlich auf die herabblicken, auf deren Kosten sie leben.

SB: Haben Sie eine Vision für die Zukunft?

GW: (seufzt) Eine Umwertung solcher totaler Entwürdigung und eine neue soziale Bewegung, die das selbst in die Hand nimmt und die aus den früheren Fehlern lernt, parteiübergreifend und undogmatisch, mit allen Menschen, die guten Willens sind. Ich glaube, die Gewerkschaften müssen wieder eine gestaltende Kraft werden. Hier im Osten ist das Problem, daß es früher Zwangsmitgliedschaften waren, und viele meinen heute, das Geld könnten sie sparen. Es muß wieder dahin, wo die Arbeiterbewegung mal angefangen hat.

SB: Und die Linke ist für Sie keine akzeptable, initiative Kraft?

GW: Also, wenn ich jetzt wieder das Gerangel erlebe, wie man versucht, einen wirklich verdienstvollen Politiker auf schändliche Weise zu demontieren und um seine Nachfolge gestritten wird. Ich kenne Oskar Lafontaine aus seiner Zeit als Oberbürgermeister von Saarbrücken, da hat er sich auch sozial engagiert, Strafgefangene bei sich wohnen gehabt, sie resozialisiert und so weiter, und er hat seine Partei zu einem Zeitpunkt verlassen, als er von Schröder rausgemobbt und einer bestimmten Presse ausgeliefert wurde. Ich hab Respekt vor dem, ohne den gäb's die Vereinigung der Linken gar nicht. Aber die Linke wählen? Was kann man überhaupt wählen? Ich bin auch ein Anhänger der Grünen gewesen, aber die kann ich auch nicht mehr wählen. Man kann einzelne Politiker unterstützen, die man kennt und die glaubwürdig sind, aber man kann sich nicht einer Partei verschreiben.

SB: Herr Wallraff, Sie machen ja mit Ihren Arbeitsreportagen etwas, was heute eigentlich überhaupt keinen Stellenwert mehr hat in Bezug auf die Gewerkschaften. Sie haben gestern Abend Daimler erwähnt, wo sich jetzt eine kleine Gruppe von Gewerkschaftlern von der IG Metall abgespalten und eine eigene, neue Gewerkschaft gegründet hat. Die haben ganz klar gesagt, die Bandgeschwindigkeit bei Daimler sei inzwischen so mörderisch, daß man nicht mal dazu komme, ein Glas Wasser zu trinken, geschweige denn außer der Reihe aufs Klo zu gehen. Können die Gewerkschaften als Partner der Arbeitgeber, als die sie ja heute eingebunden sind, unter den herrschenden Bedingungen ihrer Aufgabe überhaupt noch gerecht werden?

Foto: © 2009 by Schattenblick
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GW: Sie können Schlimmeres verhindern. Sie sind leider keine gestaltende Kraft mehr. Die Mitglieder laufen ihnen zum Teil davon und das Problem ist, daß sie sich ja auch für bestimmte Leiharbeiter nicht zuständig erklären, die nicht in der Gewerkschaft sind. Und da liegt das Problem. Ich finde, es müßte wieder da anfangen, wo die Arbeiterbewegung mal begonnen hat. Die Gewerkschaften müßten sich auch zuständig erklären für die Nicht-Mitglieder. Ich habe positive Erfahrungen sowohl mit Gewerkschaften als auch mit vielen einzelnen Betriebsräten, die sich noch für die Interessen der Kollegen einsetzen. Es geht darum, die Gewerkschaftsbewegung zu stärken und sie nicht durch die gelben Gewerkschaften und die Splittergewerkschaften, die jetzt überall gegründet werden, noch weiter zu schwächen. Sie sind das letzte soziale Netz, das überhaupt noch tragfähig ist. Von verschiedenen Seiten wird versucht, diese Gewerkschaftsbewegung dann auch noch zu diskreditieren. Sicher - man muß mit der Basis zusammenarbeiten, mit denen, die vertrauenswürdig sind, mit den Funktionären, die noch die Interessen der Kollegen wahrnehmen; diese Kontakte hab ich. Wenn man bei Daimler sieht, daß auf 20.000 Stammarbeiter inzwischen 20.000 Leiharbeiter kommen, das ist ja schon eine Spaltung. Und das alles haben wir zum großen Teil auch dem famosen Herrn Clement zu verdanken, als er Superminister war. Der hat alle Vorteile der Leiharbeiter genutzt als schnell zu heuernde und zu feuernde Arbeitskräfte, willig und billig. In Österreich dagegen gibt es Gesetze, wonach Leiharbeiter den gleichen Lohn bekommen wie Stammarbeiter, zum Teil sogar noch darüber hinaus, weil sie ja nur kurzfristig eingesetzt sind. Und hier ist der Herr Clement inzwischen der Bevollmächtigte des zweitgrößten Zeitarbeiterunternehmens und kassiert da tüchtig ab. Das ist schändlich.

Ich habe ihm mal in der Fernsehsendung "Menschen bei Maischberger" gegenübergesessen und da habe ich zu ihm gesagt: "Herr Clement, Sie sollten sich schämen!" Und dann fing er an zu erzählen, er wäre jetzt sogar in China unterwegs, wo man ihn brauchen würde. So wie Schröder sich mit Gazprom ja auch neue Pfründe verschafft hat und Putin, seinen Freund und Förderer, daraufhin einen "lupenreinen Demokraten" nannte.

SB: Herr Clement hat sich ja damals auch mit seiner Kampagne gegen Hartz IV-Bezieher ziemlich hervorgetan, indem er sie praktisch als Parasiten bezeichnet hat. Inwieweit sehen Sie die Notwendigkeit, diese weitere Spaltung in der Gesellschaft, auch auf Gewerkschaftsseite, aufzuheben, indem man stärker auf die Langzeiterwerbslosen, beziehungsweise auf diejenigen, die völlig ausgegrenzt werden, zugeht?

GW: Ich finde, da müßten ganz neue Ansätze her, man muß diese Leute als Mitglieder aufnehmen, auch wenn sie kein Geld haben, ihre Beiträge zu bezahlen - obwohl das manchmal nur ganz geringe Beiträge sind, auch bei Jugendlichen, das ist 'ne Flasche Bier in der Woche, mehr kostet das nicht. Daß viele nicht Mitglied werden, hängt aber auch damit zusammen, daß sie in manchen Betrieben rausgemobbt oder gar nicht erst eingestellt werden, wenn das bekannt wird. Lidl hat Filialen geschlossen, weil sich ein Betriebsrat bildete. Aber es gibt auch ein Gegenbeispiel: Ulrike Schramm-de Robertis, eine Frau, die standgehalten hat und heute eine im Konzern unanfechtbare Position hat, weil sie so häufig in der Öffentlichkeit aufgetreten ist. Ihr Buch erscheint im Frühjahr in meinem Verlag. Auch gegen Schlecker hab' ich jetzt in einer Fernsehsendung zum Boykott aufgerufen, weil da zur Zeit versucht wird, die Frauen, die 20, 30, 40 Jahre ihrer Lebenszeit da gelassen haben, zu erpressen, indem man ihnen mit betriebsbedingten Kündigungen droht. Die will man ausbooten zugunsten dieser moderneren XL-Läden, oder aber sie zwingen, ungesicherte Arbeitsverträge über Leiharbeitsfirmen abzuschließen, wo sie 6,50 die Stunde kriegen außerhalb des Tarifs und wöchentlich kündbar sind. Das sind die Formen, die jetzt allenthalben um sich greifen - man nennt das dann 'outsourcen'. Das ist eine Verelendung, die sich hier immer mehr breitmacht und die Gesellschaft, die Demokratie aushöhlt.

SB: Sie haben vor kurzem in einem Interview gesagt, daß Sie möglicherweise auch einmal die Arbeitsbedingungen von ALG II-Empfängern untersuchen wollten, die ja mit einem erheblichen Ausmaß an Entrechtung einhergehen.

GW: Ja, ohne Bezahlung manchmal, 1 Euro-Jobs oder Jobs, die nur dann zu bewältigen sind, wenn man dazu noch schwarz arbeitet oder sich vom Staat zusätzliche Hilfsmittel geben läßt. Da gibt es das Zitat vom ehemaligen Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Michael Rogowski, der sagt das ganz unumwunden und öffentlich: "Arbeit ist keine feste Größe, sondern eine Frage von Angebot und Nachfrage und deshalb eine Frage des Preises. Deshalb brauchen wir auf keinen Fall Mindestlöhne. Im Gegenteil, wir müssen die tariflichen Untergrenzen durchbrechen." Oder Nobert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank: "Manche von uns werden sich darauf einstellen müssen, künftig einen Lohn zu bekommen, der in Deutschland zum Überleben nicht mehr reicht." Er sagt: "Von uns, manche von uns!" Das ist ja auch 'ne Unverfrorenheit. Die Sprache ist verräterisch.

SB: Oder wie Frau Schickedanz, die beklagte, sie würde auf dem Niveau von Sozialhilfe leben...

GW: ... und jetzt schon in Discount-Läden einkaufen gehen.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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SB: Wir würden gern noch mal auf die Auseinandersetzung mit der Bildzeitung zu sprechen kommen. Es gibt da ein schönes Zitat von Mathias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden der Springer AG, der zum 70. Geburtstag von Herrn Biermann die Laudatio gehalten und in seiner Rede diese berühmten Zeilen von Biermann zitiert: "Die Kugel Nummer eins, die kam aus Springers Zeitungswald. Ihr habt dem Mann die Groschen auch noch dafür bezahlt. Ach Deutschland, deine Mörder, es ist das alte Lied, schon wieder Blut und Tränen, was gehst du denn mit denen, du weißt doch, was dir blüht." Und dann sagt er: "Wir bei Axel Springer bleiben uns auch nur deshalb so treu, weil wir uns ändern. Und Sie streiten, wenn es darauf ankommt, für dasselbe, das in unseren publizistischen Grundsätzen definiert ist: Die deutsche und europäische Einheit, die Unterstützung der Lebensrechte des Staates Israel, die transatlantische Allianz, die Marktwirtschaft und die Bekämpfung jeglicher Art von Totalitarismus."

GW: Hört sich ja schön an, erstmal, schönes Wortgeklingel. Ich meine, man muß eins zugestehen: Der Springer-Konzern ist nicht mehr der monolithische Block, der er zur Zeit Axel Springers war. Da gibt's schon Risse drin und Differenzierungen. Und auch DIE WELT ist nicht mehr das reine Kampfblatt, das es mal war. Aber die Bildzeitung hat sich grundsätzlich nicht verändert und sollte ich von denen jemals gelobt werden, dann wäre ich vereinnahmt - oder die Welt hätte sich so geändert, daß das Blatt ein anderes geworden ist.

SB: Vielleicht ist es Herrn Biermann auch so gegangen, er war zu der Zeit da ja der Chef des Feuilletons der WELT.

GW: Er wurde im Impressum "Kultur-Chefkorrespondent der WELT" genannt und da hab ich ihn mal gefragt: "Wolf, was hat man dir angetan?" - "Ja, ja" hat er geantwortet, "das haben die da ohne mein Wissen..." und so weiter. Aber später, das muß man sagen, gab es auch eine Palastrevolution, als er zum Tod von Rudi Dutschke immerhin in der WELT einen Bericht abgab, wo er dann auch seinen Liedtext "Drei Kugeln auf Rudi Dutschke... und eine kam aus Springers Zeitungswald" nochmal thematisierte. Da gab's welche, die drohten, die WELT zu verlassen, solange er diese Position hat. Also er hat es denen auch nicht leicht gemacht, hat sich da auch zum Teil quergestellt.

SB: Ihr Bild-Feldzug ist ja praktisch die einzige Offensive gewesen, die es jemals außerhalb der 68er-Zeit gegen diesen Pressekonzern gegeben hat.

GW: Ja.

Immer im Einsatz... Günter Wallraff erfüllt Autogrammwünsche, rechts Frank Kimmerle - Foto: © 2009 by Schattenblick
Immer im Einsatz...
Günter Wallraff erfüllt Autogrammwünsche, rechts Frank Kimmerle
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SB: Und er ist, wie Sie sagen, heute nicht mehr das maßgebliche Kartell. Wenn man jetzt aber bedenkt, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel eng befreundet ist mit Friedel Springer und mit Liz Mohn - sind der Bertelsmann-Konzern, der Springerverlag und die Kanzlerin das neue Pressekartell?

GW: Dann ist die Wächterfunktion der Presse nicht mehr viel wert.

SB: Und es stellt sich ja sowieso die Frage, inwiefern sich Verlage behaupten können gegen die Kapitalinteressen, die sich in ihnen auswirken, in ihrer Überlebensnot, daß sie auf Werbekunden angewiesen sind, daß sie bestimmte Leute nicht kritisieren können.

GW: Solche Konzerne vertreten Kapitalinteressen, mehr oder weniger differenziert. Paul Sethe hat einmal Ende der 50er Jahre beklagt, daß die Pressefreiheit in Deutschland die Freiheit von 200 reichen und einflußreichen Leuten wäre, ihre Meinung an den Mann bringen zu lassen. Das war ein konservativer Publizist, der Paul Sethe, und das hat er kritisch gesagt. Heute sind es vielleicht noch drei oder fünf Konzerne, die diese Freiheit haben.

SB: Herr Lafontaine hat vor einigen Monaten in einer Fernsehdiskussion dazu geäußert, die deutsche Presselandschaft werde von neun oder zehn Familien beherrscht. Daraufhin wurde er in der Frankfurter Rundschau, also einem Blatt, von dem man das früher nicht erwartet hätte, der Verschwörungstheorie bezichtigt, weil er...

GW: ... die Situation kenntlich gemacht hat. Man darf nicht vergessen, auch da stecken Interessen dahinter. Die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung wurden jetzt vom Verleger DuMont übernommen. Er ist im gesamten Spektrum noch einer der progessiveren Verleger, fährt aber trotzdem einen wirtschaftsliberalen Kurs, den seine Chefschreiber dann oft im vorauseilenden Gehorsam vertreten. Anders kann ich es mir nicht erklären, daß plötzlich eine geradezu hymnische Verteidigung von Sloterdijk im Kölner Stadtanzeiger, meiner Heimatzeitung, erscheint und dann eine Entgegnung immerhin in der Frankfurter Rundschau, aber so soft und so verklausuliert, da wurde ihm erstmal großes Lob erteilt, daß er diese Auseinandersetzung auf intellektueller Ebene führe, ein aufgeblasener Wichtigtuer, der sich Philosoph nennt, der dem jeweiligen Zeittrend nach- und vorhechelt und der jetzt plötzlich eine Ideologie vertritt, die mehr feudalistisch ist als alles andere...

SB: War das "Die Revolution der gebenden Hand"?

GW: Ja, die Großverdiener würden zu sehr geschröpft, die sogenannten Leistungsträger; er rechnet sich ja dazu. Wir müßten wieder auf das Spendentum, auf das freiwillige Mäzenatentum zurückkommen. Da faßt man sich an den Kopf und fragt: "War das Satire?" Und der Mann wird auch noch ernstgenommen.

SB: Er meint es ernst. Und das Schlimme ist ja auch, man braucht nur in die USA zu gucken, um festzustellen, daß das Mäzenatensystem oder das Almosensystem, das dort ja vorrangig herrscht, im Rahmen der Weltwirtschaftskrise gar nicht mehr funktioniert, weil gerade in diesen Zeiten die Suppenküchen ihre Gelder nicht mehr kriegen, die sie vorher vielleicht noch in gewissem Ausmaß bekommen haben.

GW: Ja.

SB: Um an das Zitat von Herrn Döpfner noch einmal anzuknüpfen: Wenn sich die Bildzeitung auf den Antitotalitarismus beruft und sagt: "Wir sind die Verteidiger der Freiheit" - natürlich immer gleichwertig gegen Kommunismus und Nazismus -, bezieht sie nicht einen Großteil ihrer Legitimität daraus, daß sie sich antifaschistisch geriert, gleichzeitig aber den Teil des Faschismus völlig leugnet, der mit der Kapitalmacht zu tun hat?

GW: Also, sie müßten eigentlich aufarbeiten, welche Schuld sie auf sich geladen haben, indem sie diese faschistischen Diktaturen über Jahrzehnte gefördert haben und hochleben ließen. Ich erinnere nur an den WELT-Korrespondenten Hans Germani in Südafrika, der Lobeshymnen auf das Rassistenregime anstimmte. Ich erinnere an den Sonderkorrespondenten der BILD AM SONNTAG Jeaneé, der sich anläßlich der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien nicht zu schade war, sich von dem Militärregime in die Foltergefängnisse führen zu lassen und danach von menschengerechten Verhältnissen sprach. Das wären Gefangene, die die beste Ernährung hätten. Das war eine Berichterstattung, die das Pinochet-Regime in Chile und das Militärregime in Argentinien als rechtsstaatlich hinstellten, und das über lange, lange Jahre. Das ist alles inzwischen vergessen, verziehen, es wird nicht aufgearbeitet, was überfällig wäre. Und selbst wenn so ein Döpfner - der ja einer neuen Generation angehört - ein Vertreter einer anderen Haltung wäre, dann wäre erst recht zu fordern, daß das alles mal bearbeitet wird. Der Kongreß, der da geplant war, das war doch lachhaft - im eigenen Hause, unter eigener Oberhoheit. Das war doch eine Farce. Selbst die Deutsche Bank ist da weiter gegangen, die haben ihre eigene Vergangenheit von unabhängigen Historikern prüfen lassen.

SB: Springer wollte die 68er Zeit sozusagen umwerten oder umdefinieren.

GW: Und zwar als DDR-unterwandert, als Stasi-unterwandert, das war die Lesart. Aber da haben sich selbst die konservativen oder konservativ gewordenen Vertreter der damaligen Studentenbewegung wie Peter Schneider verweigert, und Cohn-Bendit erst recht - und schon gar nicht unter der Regie und Oberhoheit des Springer-Konzerns. Das habe ich angegriffen und hatte dann einen Disput, einen Internet-Briefwechsel mit dem Chefredakteur der WELT.

Foto: © 2009 by Schattenblick
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SB: Eine ganz persönliche Frage zum Schluß: Sie haben, im Zusammenhang mit Ihren Erfahrungen als Obdachloser gesagt, Sie hätten früher auch gedacht, daß die, die da auf der Straße sitzen, nur betteln um des Alkoholkonsums willen. Wie gehen Sie mit Ihren eigenen Vorurteilen um?

GW: Also ich habe auch Vorurteile, aber ich laß mich von besseren Argumenten überzeugen. So war ich immer in der Auseinandersetzung. Es gibt einen Spruch von einem orientalischen Weisen, der besagt: "Der ist weise, der von allen lernt, auch vom Gegner". Ich bin sicher nicht weise, aber lernfähig bin ich. Seitdem ich selbst auf der Straße gelebt habe, weiß ich, wie schnell man da hinkommen kann, und daß dann manchmal Alkohol die letzte Möglichkeit ist, den nächsten Tag zu überstehen, fast suizidal. Ich hab da einen kennengelernt, der wollte sich totsaufen und hat es nicht geschafft.

SB: Es ist ja auch für andere interessant zu erfahren, wenn jemand wie Sie, der sich soviel mit diesem Thema auseinandersetzt, eigentlich ein Leben lang...

GW: ... da doch noch eine Sperre hat, ja.

SB: Aber dann auch keine Scheu hat, die Vorurteile bei sich selbst zu entdecken, und einen Weg aufzuweisen, wie man damit umgehen kann.

GW: Indem man sich der Realität stellt und immer wieder aussetzt, das ist die beste Art zu lernen. Wir wissen das von Kindern, auch von erwachsenen Kindern: Das, was man selbst im Rollenspiel erlebt, ist viel prägender und haftender als etwas, was man sich nur theoretisch aneignet.

SB: Das wäre, aufs Spiel übertragen, ja fast Ihre Methode. Sie sagen ja auch, Sie müssen es erleben.

GW: Ja, wir müssen viel mehr spielen.

SB: Herr Wallraff, wir bedanken uns sehr herzlich für das Gespräch.

Bücher fürs Volk - Foto: © 2009 by Schattenblick
Bücher fürs Volk
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13. Dezember 2009