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INTERVIEW/038: Links, links, links - autark und souverän ...    Kai Ehlers im Gespräch (SB)


Rußland von innen - Bruch mit der Feindbildprojektion

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Der politische, ökonomische und militärische Vormarsch von NATO und EU bis an die russische Grenze wird von einer ideologischen Offensive flankiert, welche die Führung in Moskau unter Wladimir Putin geradezu dämonisiert und jegliche Abwehrmaßnahmen gegen die Einkreisung als kriegstreiberische Aggression diskreditiert. Ohne die Augen vor den autoritären Zügen der russischen Regierungspolitik zu verschließen, gilt es auch in diesem Konflikt, für die schwächere und angegriffene Seite Partei zu ergreifen. Und dies um so mehr, als die westlichen Mächte diese Region mit einem Flächenbrand überziehen, der bis hin zum Dritten Weltkrieg zu eskalieren droht.

Soll diese Verschärfung und Verkettung der Auseinandersetzungen eingedämmt werden, bedarf es nicht zuletzt eines Bruchs mit der Feindbildprojektion, die den Blick auf die Interessen Rußlands und seiner Bevölkerung bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Was könnte besser dazu geeignet sein, als eine aus eigenem Erleben gewonnene Innensicht der dortigen Verhältnisse, die sich des forschenden Fragens in kontinuierlichen Gesprächszusammenhängen auf Grundlage eines gemeinsamen emanzipatorischen Anliegens befleißigt!

Auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte der Hamburger Journalist, Publizist und Schriftsteller Kai Ehlers den zweiten Band seines Werks "25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzki" [1] vor, das im Laika-Verlag erschienen ist. In einem kurzen biographischen Anriß wies er sich als "Mittäter in der 68er-Bewegung" aus, der den Kommunistischen Bund (KB) mitgegründet und dort 17 Jahre als Redakteur der Zeitung "Arbeiterkampf" gearbeitet hat. Er habe sich zunehmend mit der Sowjetunion und dann auch Rußland befaßt, seit 1989 nicht mehr organisiert, sondern allein. Seine Arbeitsweise habe bereits ab 1982/83 darin bestanden, individuelle Reisen durchs Land zu unternehmen und dort private Kontakte zu knüpfen. Auf diese Weise habe er ein Rußland kennengelernt, das den Korrespondenten verschlossen sei. Aus umfänglichen Gesprächen mit zahlreichen Menschen über verschiedene Themen seien über tausend Tonaufzeichnungen hervorgegangen, von denen er viele, aber längst nicht alle, in Radiofeatures ausgewertet habe.

25 Jahre lang habe er jährlich mindestens ein oder zwei Gespräche über die aktuellen Ereignisse mit Boris Kagarlitzki geführt, dem bekanntesten Radikaldemokraten Rußlands, der dessen Kapitalisierung eine kritische Position im Bestreben entgegensetze, den Sozialismus zu erneuern. Die beiden Bände präsentierten dokumentarisches Material über die gesamte innere Entwicklung des Transformationsprozesses bis hin zu Putin 2013. Es handle sich um ein Geschichtsnachschlagewerk, das als fundiertes Arbeitsbuch in Gebrauch genommen werden könne. Daß darin wissenschaftliche Standards umfänglich erfüllt sind und zugleich hohe literarische Qualität, gepaart mit einem ausgesprochenen Lesevergnügen, geboten wird, belegten ausgewählte Textpassagen, die der Autor vorlas und im jeweiligen historischen Kontext kommentierte.

Im Anschluß an die Buchpräsentation beantwortete Kai Ehlers dem Schattenblick einige Fragen zu seinem Geschichtsverständnis, zum spezifisch russischen Entwurf von Gemeinschaft, zu den Auswirkungen der Sanktionen wie auch zum Rückhalt Putins in der Bevölkerung.


Bei der Buchvorstellung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Kai, du hast in der vorangegangenen Vorstellung des zweiten Bands "25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzki" von einem historischen Werk und einer Berichterstattung gesprochen, die in dieser Form einmalig ist, weil sie eine Innensicht Rußlands wie auch die Dynamik seiner Entwicklung in Gesprächsform wiedergibt. Könnte man sagen, daß es sich in gewisser Weise um dein derzeitiges Lebenswerk handelt?

Kai Ehlers (KE): Es ist in der Tat einzigartig, weil es rein faktisch die Gespräche vom Anfang der Perestroika-Entwicklung fast lückenlos durch die gesamten 25 Jahre bis heute dokumentiert. Und es sind keine Gespräche mit irgendeinem beliebigen Gegenüber, sondern mit dem führenden Vertreter der radikaldemokratischen Linken, die versucht, dem Prozeß der Kapitalisierung durch eine Erneuerung des Sozialismus entgegenzutreten. Dies verleiht den erörterten Themen eine starke Intensität in der Fragestellung und ein hohes Niveau der Auseinandersetzung. Wenngleich alle Gespräche durch das Gestrüpp an Einzelheiten der jeweiligen Situation führen, bleiben sie doch nicht darin hängen. Um dies zu unterstützen, habe ich mich um eine strenge Struktur bemüht und jedes Gespräch mit einer einleitenden Situationsbeschreibung wie auch einer Chronologie versehen, die es der Leserin oder dem Leser erlauben, sich hundertprozentig zurechtzufinden und stets zu wissen, in welchem Kontext dieses Gespräch geführt wurde.

Was nun die Frage des Lebenswerks betrifft, verhält es sich ja so, daß ich bislang dreizehn Bücher über die Sowjetunion und Rußland geschrieben habe. Das heute vorgestellte Buch ist das aktuellste, das herausgekommen ist, demnächst folgt ein weiteres. Das befaßt sich mit der Geschichte des letzten Zaren der Wolgabolgaren, Ylltanbik, der dem Mongolensturm gewissermaßen als Pfropfen entgegengestanden und dabei sein Leben und sein Reich verloren hat, ein Epos. Es hat also einen ganz anderen Charakter, denn ich halte es für sehr wichtig, daß man auch die kulturelle Seite einbezieht. Insofern ist das Lebenswerk noch nicht abgeschlossen, wie ich doch hoffen will. Aber in gewissem Sinne hast du vielleicht recht. Es ist natürlich die Rückschau auf diese 25 Jahre und kann jedem, der Geschichte studieren möchte, als Instrument und Handwerkszeug dienen, wie es das sonst in der Literatur meines Wissens kein zweites Mal gibt. Wenn du zum Beispiel den neuen Roman der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch [2] liest, findest du eine Aneinanderreihung von Einzelschicksalen. Das wird auch im Westen honoriert, hat aber einen völlig anderen Charakter, als daß man darin wirklich erkennen könnte, welche innere Dynamik dieser Prozeß der Perestroika, dieses Auf und Ab mit all seinen maßgeblichen Aspekten gehabt hat.

SB: Du hast in deinem Vortrag hervorgehoben, daß Geschichte allenfalls im Rückblick wie ein geplanter Ablauf aussieht, es sich aber im Grunde um eine Abfolge handelt, bei der ein Schritt den nächsten bedingt und hervorgerufen hat, ohne daß dem ein vorab durchstrukturiertes Gesamtkonzept zugrunde gelegen hätte.

KE: Ja, das gehörte zu den Erkenntnissen, die in den Gesprächen mit Boris für mich deutlich geworden sind. In dem Eingangsgespräch des Buches hebt er klar hervor, daß die kursierende Vorstellung, jemand sei mit einem fertigen Plan angetreten, wie die Dinge sich im einzelnen entwickeln sollten, eine sehr plakative Herangehensweise oder ein oberflächliches Theorie- und Geschichtsverständnis widerspiegelt. Geschichte geht zwar von gewissen visionären Voraussetzungen aus, wohin man gelangen möchte oder sich getrieben fühlt, aber dann entwickelt sie sich Schritt aus Schritt und manchmal sehr überraschend in eine Richtung, die man oftmals gar nicht gewollt hat. Das kann man am Beispiels Gorbatschows sehr deutlich sehen: Er wollte tatsächlich dem Staatssozialismus zu einer neuen Effektivität verhelfen und die Initiative befreien, aber im Rahmen seiner sozialistischen Weltvorstellung. Das ist ihm jedoch überhaupt nicht gelungen, denn daraus ist eine Öffnung der sozialistischen Welt für die Kapitalisierung ohne Sozialismus geworden.

SB: Demnach sollte man sich also schleunigst von einem Geschichtsverständnis verabschieden, das einen Masterplan unterstellt, dem man letztlich nichts entgegenzusetzen hat, weil die Gegenseite in der von ihr festgelegten Abfolge stets einen Schritt voraus ist?

KE: Nach meinem Geschichtsverständnis ist die Vorstellung absurd, daß alles nach einem Masterplan abläuft. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß seinerzeit, als ich im KB für die Zeitung "Arbeiterkampf" Analysen über die Strategien der USA, des CIA und die Sicherheitspolitik erstellt habe, ständig Artikel von Leuten eingingen, die akribisch die CIA-Protokolle der Thinktanks durchgearbeitet hatten. Sie zählten dann detailliert auf, was Herr Wolfowitz [3] und wie sie alle heißen, so an Scheiße von sich gegeben hatten, und verkündeten: Das planen die Amerikaner! Solche Artikel haben wir regelmäßig zurückgewiesen, da es schlichtweg so nicht läuft. Die mögen sich ausdenken, was sie wollen, auf ihren CIA-Etagen oder meinetwegen auch bei Gorbatschow oder Jelzin. Es läuft dann im Konkreten doch anders ab, denn daß sich die Wirklichkeit nie mit dem Plan deckt, hat schon Brecht gewußt.

SB: Ein weiterer wichtiger Gedanke, den du hervorgehoben hast, betrifft diese ganz spezifische Form der russischen Gemeinschaft. Habe ich dich richtig verstanden, daß sich diese Gemeinschaft in jüngerer Zeit schwerer als früher in kollektives Handeln umsetzen läßt?

KE: Wie es sich heute verhält, ist eine sehr komplizierte Frage. Ich habe während der letzten großen Krise 2008/2009 eine zweijährige Recherche in zwei Etappen durchgeführt und unter dem programmatischen Titel "Kartoffeln haben wir immer" in Buchform veröffentlicht. Diese Recherche hat zum Inhalt, daß die russische Gesellschaft in Krisenzeiten noch heute unmittelbar auf diese Strukturen zurückgreift, die im Laufe der Geschichte makroökonomisch und mental regelrecht in den russischen Raum eingeschrieben worden sind. Im russischen Verständnis von Wirtschaft existiert neben der großen Ökonomie stets auch die familiäre Zusatzwirtschaft als Bestandteil der Gesamtwirtschaft. Und diese Zusatzwirtschaft wird, ausgehend von der Dorfgemeinschaft, von der Sowrose oder der Datschengemeinschaft, stets auf die eine oder andere Weise kollektiv betrieben. Durch die Kapitalisierung ist diese Tradition in der Tat gefährdet. So hat sich in den großen Städten "Obschtschina" im Sinne einer Gemeinschaftstradition eher in eine bloße Metapher ohne reale Basis verwandelt.

Auf dem Lande, also in der Region, ist das Gemeinschaftsverständnis hingegen ungebrochen und weiterhin wirksam. Wird Rußland vom Westen mit Sanktionen überzogen, greifen die Menschen sofort wieder auf ihre Gurke oder Kartoffel zurück. Ich hörte sie sagen, die können uns mal an die Füße fassen, wir sind in der Lage, uns selbst zu versorgen. Diese grundsätzliche Fähigkeit zur Selbstversorgung in Krisenzeiten ist ein spezielles Ergebnis der rußländischen Entwicklung, das heißt, des Großraumes Rußland. Und sie wird von den Putinschen Modernisierern durchaus in die Realität der heutigen Wirtschaftsentwicklung einbezogen. Die Tatsache, daß ein Großteil der Bevölkerung in der Lage ist, sich aus der Selbstversorgung zu ernähren, ist Bestandteil der Gesamtökonomie. Die russische Bevölkerung hat im Laufe der Geschichte mehrmals gezeigt, daß sie in der Lage ist, sich auch auf niedrigstem Niveau selbst zu versorgen, bis die Gefahr überwunden ist und die Existenzweise von innen heraus wieder neu aufgebaut werden kann.

Was das bedeutet, wird um so deutlicher, wenn man es mit unserer Situation vergleicht. Würde uns hier in Deutschland eine ähnliche Katastrophe wie die Auflösung der Sowjetunion 1991 heimsuchen, wären wir ein Hungerland, da wir derart von Fremdversorgung abhängig sind, daß wir einen solchen Zusammenbruch nicht überstehen könnten. Der Zweite Weltkrieg hat Deutschland in die Lage zurückgebombt, daß die Vorgärten mit Kartoffeln bepflanzt wurden, aber das war eine absolute Notsituation, die durch die Jahre des Krieges hervorgerufen wurde und von Hungersnot geprägt war. Rußland ist in einer anderen Situation, weil die Abhängigkeit von Fremdversorgung nie dieses Ausmaß angenommen hat.

SB: Wie hast du die Auswirkungen der Sanktionen in Rußland erlebt und wie reagiert die Bevölkerung darauf?

KE: Auf der makroökonomischen Ebene der industrialisierten Technologie kommt es natürlich zu gravierenden Einbrüchen. Dem stehen entsprechende wirtschaftliche Einbußen bis zu 30 oder 35 Prozent in Europa und Deutschland gegenüber, weil der Austausch von Waren erheblich eingeschränkt ist. Im Falle Rußlands sprangen sofort die anderen BRICS-Staaten in die Bresche, mit denen ja nicht erst zum Zeitpunkt der Sanktionen, sondern schon geraume Zeit zuvor die Beziehungen vertieft worden waren. Was die konkrete Ebene der Versorgung mit Lebensmitteln betrifft, kann ich sie mit folgender Anekdote illustrieren: Ich ging im letzten Sommer in Moskau in einem dieser riesigen Einkaufspaläste in die Gemüseabteilung, wo in langen Gängen alle möglichen Waren in den Körben liegen. Dort waren Tafeln für die Doofen aufgestellt, auf denen zu lesen stand, daß die Bananen oder Äpfel nicht mehr aus den bisherigen europäischen oder westlichen Lieferländern, sondern aus Chile oder Brasilien kommen. Da steht also dick und fett: Wir verhungern nicht, wir haben unsere Lieferanten. Und in der Tat sind die Regale auf dieser Ebene voll.

Mein Freund Jefim Berschin, ein Poet, Journalist und hochintelligenter Mann, sagte zu mir: Schau dir das an, die können uns gar nicht meinen, diese Sanktionen zwingen uns einfach, unsere eigenen Verhältnisse zu entwickeln. So ist das immer in Rußland: Wenn wir Druck von außen kriegen, gibt es Entwicklungsschübe im Land. So war es 2001, als Putin antrat und die Kredite abgesagt hat, weil klar war, daß Rußland andernfalls in Abhängigkeit bliebe. So war es 2008 bei der großen Krise, als man plötzlich wieder russische Waren kaufen konnte, und genauso ist es jetzt. Das ist gleichsam ein Gesetz der russischen Entwicklung.

SB: Du hast für mehrere historische Phasen beschrieben, daß die realen Verhältnisse und Einstellungen der Menschen nicht identisch mit der offiziellen Doktrin waren. Wie verhält es sich in dieser Hinsicht heute unter Putin?

KE: Ich habe für die Sowjetunion beschrieben, daß diese beiden Ebenen diametral auseinanderliefen. In die offizielle Ideologie kleidete man sich, aber das Unterzeug war ein ganz anderes. Kamst du aufs Dorf, stand da ein Portrait Breschnews. Aber kaum warst du weg, wurde das Bild umgedreht, worauf die Mutter Gottes zum Vorschein kam. Wie in der Stalinzeit war der Führer präsent, doch sobald der Kommissar verschwunden war, wurde die Tafel gewendet, so daß die Ikone wieder auftauchte. Das ist heute natürlich anders, weil es diese Art offizieller Staatsideologie nicht mehr gibt. Jelzin hat versucht, eine Art Nationalideologie zu installieren, was sich als totaler Nonsens erwies. Putin hat das gar nicht erst versucht, er macht hingegen etwas sehr Richtiges, indem er versucht, die Modernisierungsstrategie als Neoliberaler durchzusetzen und zugleich auf die Traditionen in Gestalt der Kirche und der Gemeinschaftsstruktur zurückzugreifen und sie zu stützen. Manche finden das ganz schrecklich und beklagen auch, daß er den Sport derart hochhält und sich selber sportiv gibt. Ich habe überhaupt keine Probleme damit und halte das für ganz normal.

Am deutlichsten kann ich dir die Antwort auf die Frage nach der nationalistischen Ideologie geben, die angeblich in Rußland gepflegt und von den Menschen abgelehnt wird. Ich habe einen sehr guten Freund, der noch ein paar Jahre älter als ich und Nationalschriftsteller an der Wolga ist. Dort leben in einer autonomen Republik die Tschuwaschen, ein turksprachiges Volk, mit ihrer eigenen Kultur. Sie sprechen je zur Hälfte Tschuwaschisch und Russisch, haben ihre eigene Geschichte innerhalb des russischen Imperiums entwickelt und sind darin ein integraler Bestandteil als eigene Kultur. Mein Freund hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Kultur aufzuarbeiten, um sie vor dem Vergessen zu bewahren, er hat Hunderte Bücher dazu geschrieben und ebenso viele Auszeichnungen dafür erhalten. Das vorhin von mir erwähnte Epos ist unter anderem von ihm ausgegraben und von mir übersetzt worden. Ich habe ihn im Sommer besucht und gefragt: Mischa, wie ist das mit Putin, was hältst du von seiner Politik? Darauf hat er geantwortet: Na ja, ich finde das nicht so toll mit diesem Sport, das hatte Hitler auch gemacht. Nach wie vor bekommen wir nicht genügend Gelder für die Entwicklung der tschuwaschischen Kultur, wie er überhaupt für die Kultur nichts übrig hat. Aber er verteidigt uns!

Das heißt, die Kritik aus dieser selbständigen tschuwaschischen Kultureinheit innerhalb Rußlands, die dem Zentrum kritisch gegenübersteht und sich bis heute gegen jeden Übergriff zur Wehr setzt, befürwortet gleichzeitig Putins Politik gegenüber den Aggressionen des Westens. Da hat es bei mir geklingelt: Jetzt habe ich es begriffen! Ich werde diese Haltung demnächst in meinen Publikationen noch einmal vorstellen. Kritik an Putin ja, aber zugleich wissen wir, daß wir in diesem Organismus zusammengehören, den er verteidigt. Das finden wir richtig, weil wir die Aggression ablehnen, die der Westen uns gegenüber fährt.

SB: Wie würdest du die Entwicklung in Syrien einschätzen, wo sich Rußland jetzt auch militärisch engagiert?

KE: Wollen wir hoffen, daß es gutgeht. Ich bin kein Prophet und werde mich auch nicht als ein solcher betätigen. Aber es ist klar, daß diese Entwicklung absehbar war. Rußland hat den Ukrainekonflikt zurückgesteuert, soweit es in seiner Macht lag, und die Jungs und Mädchen haben die Hacken zusammengeschlagen, aber nicht alle. Es gibt starke Kräfte innerhalb von Luhansk und Donezk, die nicht einverstanden sind mit dem Hackenzusammenschlagen. Sie sagen: Wir haben gekämpft, und ihr verratet uns. Was Syrien betrifft, hat die russische Politik auch dort eindeutig gedämpft. Warum? Weil der Syrienkonflikt für Rußland eine bedrohliche Dimension angenommen hat. Denn alle Versuche, mit den Amerikanern und den Franzosen eine Einigung herbeizuführen, um diesen Konflikt zu beenden, sind im Sande verlaufen. Und daran hätte sich nichts geändert, wäre Rußland nicht endlich initiativ geworden. Als Putin noch einmal demonstrativ in der UNO aufgetreten ist und zum gemeinsamen Handeln unter deren Dach aufgerufen hat, haben die USA das abgelehnt: Assad muß fallen, auf Kompromisse und Verhandlungen lassen wir uns nicht ein.

Dabei hat Rußland Erfahrungen mit Flüchtlingen. 1991 sind Millionen von Russen aus den angrenzenden Gebieten ins russische Kernland geflüchtet. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet hat? Das hat in Deutschland kein Schwein interessiert, das wurde hier nicht einmal wahrgenommen. Wenn Putin von der größten Katastrophe gesprochen hat, wurde das bespöttelt und als Aggression abgetan. Damals sind Millionen von Menschen ins Land zurückgeflüchtet, zahllose Familienbande wurden zerrissen. Hinzu kommt der muslimische Süden Rußlands im Kaukasus, aber nicht nur dieser. In der Region an der Wolga, der aus hiesiger Sicht als der russischste Teil Rußlands angesehen und mit Wolgaschiffern romantiziert wird, leben nur zu 50 Prozent slawische Russen neben Tataren, Tschuwaschen, Mari El, Baschkiren und Udmurten. Es sind fünf Republiken nicht slawischer, sondern muslimischer und andersgläubiger Couleur mit eigenen Kulturen.

20 Prozent der heutigen russischen Bevölkerung sind Muslime, und im Kaukasus gibt es nach dem Tschetschenienkrieg nach wie vor Tendenzen, einen Gottesstaat zu errichten, und Interventionen von seiten der Kräfte Saudi-Arabiens. Für Rußland ist das brandgefährlich, und vor diesem Hintergrund war die Zeit gekommen, die Notbremse zu ziehen und auf eine Lösung zu drängen. Ich werde mich keiner Prophetie befleißigen, ob dieser Vorstoß von Erfolg gekrönt sein wird. Ich denke nur, daß die Darstellung der deutschen Medien, daß Rußland vor allem die sogenannten Freiheitskämpfer bombardiere, genauso falsch ist wie alles andere vorher auch. Darauf gebe ich nichts und äußere mich dazu auch nicht in der Presse, zumal ich das gar nicht beurteilen kann. Ich weiß nur, daß da absolut parteiliche Darstellungen präsentiert werden und andererseits hinter den Kulissen verhandelt wird, weil sich die Situation durch das russische Vorgehen verändert hat. Man muß miteinander reden, da andernfalls die Welt durch diesen Konflikt aus der Balance gerät.

SB: Wir sind hier auf der Linken Literaturmesse. Welche Rolle spielt aus deiner Sicht linke Literatur heute?

KE: Kaum eine bei uns, würde ich sagen. Ich merke das bei meinen eigenen Büchern: Es gibt einen Kreis von Interessierten, die diese Bücher kaufen. Das ist auch gut so und wichtig, da es um jeden einzelnen geht, den man erreicht, weil Kritik und Erneuerung immer aus der Minderheit kommen. Da muß man auch keine Angst davor haben, daß man nicht im Mainstream schwimmt und nicht anerkannt ist. Insofern finde ich es wichtig, daß es dieses linke Milieu gibt, daß wir aktiv sind, daß wir uns überall einmischen, aber wirklichen Einfluß haben wir gegenwärtig nicht.

SB: Kai, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzki. Laika-Verlag, Hamburg 2014
Band 1: Gorbatschow und Jelzin. 1983-1996/97: Perestroika, Putsch, Revolte, Übergang in die Restauration. ISBN 978-3-944233-28-4
Band 2: Jelzins Abgang, Putin und Medwedew. 1997 bis heute: Stabilisierung, restaurative Normalisierung, Eintritt in die globale Krise. ISBN 978-3-944233-29-1

[2] Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch ist eine weißrussische Schriftstellerin, die in russischer Sprache schreibt. 2015 wurde ihr "für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt", der Nobelpreis für Literatur zugesprochen.

[3] Paul Dundes Wolfowitz war von 2005 bis 2007 Präsident der Weltbank. Zuvor fungierte er als politischer Berater von George W. Bush sowie als stellvertretender Verteidigungsminister unter Minister Donald Rumsfeld.


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6. Januar 2016


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