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INTERVIEW/059: Leipzig, das Buch und die Messe - nicht bis in die letzte Konsequenz ...    Antje Belke im Gespräch (SB)


Eindruck, Ausdruck, Buchdruck - Impressionen
Leipziger Buchmesse, 17. bis 20. März 2016

Antje Belke über ihre Arbeit zu "Tank Girl" im Projektmodul "Mythos und Geschichte in Comics und Graphic Novels" des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Leipzig


Zeitgleich zur Leipziger Buchmesse fand in diesem Jahr das dritte Mal in Folge ganz im Zeichen des japanischen Kulturexports der Manga-Comic-Con (MCC) statt. So bunt viele der 96.000 Besucherinnen und Besucher gekleidet und geschminkt waren, so bunt und vielfältig präsentierte sich auch das Begleitprogramm. Deutsche und internationale Zeichner gaben Signierstunden; Nachwuchszeichner zeigten ihre Talente, und wer wollte, konnte selber Hand anlegen und sich in die Kunst des Comic-Malens einführen lassen. Die schönsten Verkleidungen wiederum wurden in Cosplay-Wettbewerben ausgefochten - wobei es bei diesem ursprünglich aus Japan stammenden Hineinschlüpfen in Kostüme von Film-, Comic- und Rollenspielfiguren auch darum geht, dem Original in Gestik und Mimik möglichst nahezukommen.

Das Anime-Kino zeigte Manga-Filme, ein japanischer Teegarten lud zur Entspannung ein und schräg gegenüber wurde die japanische Kunst des Bogenschießen vorgeführt. Auf der Sammelkarten-Spielfläche sammelten sich - wen wundert's - Sammlerherzen zum Yu-Gi-Oh, benannt nach der gleichnamigen Manga-Serie des japanischen Zeichners Kazuki Takahashi. In einer Ausstellung waren während der gesamten Messezeit Grafiken und Designs zur Manga-Serie "Tokyo Ghoul" zu sehen; ein Workshop führte ganze Schulklassen in die Kunst des Brettspiels Go ein, und die Universität Leipzig präsentierte an den ersten beiden Messetagen ihr Projektmodul "Mythos und Geschichte in Comics und Graphic Novels".


Belke beim Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Tank Girl ist für mich ein Gesamtkunstwerk."
(Antje Belke, 18. März 2016, auf dem "Schwarzen Sofa" des Manga-Comic-Cons in Halle 1 der Leipziger Buchmesse)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Am 17. März referierte der Student Florian Krieg über "Die Wiederkehr des Alltags, das Verschwinden der Kriegszeugnisse. Joe Saccos Comicreportage über Sarajevo" und am nächsten Tag seine Kommilitonin Antje Belke über den Kult-Comic "Tank Girl" unter der Fragestellung "Die moderne Heldin schlechthin?".

Tank Girl ist eine Comic-Figur, die 1988 in Südengland entstand und einen durch und durch punkigen Mädchen-/Frauentypus verkörpert. Gestaltgewordene Coolness. In der comichaften Überhöhung ist die Figur obszön, dreist, martialisch, verloddert, eklig ... und loyal ihren eigenen Leuten gegenüber. Tank Girl bevorzugt ein Känguruh namens Booga als Sexualpartner und einen Panzer als fahrbaren Untersatz - angeregt wurde diese Idee durch die legendäre Panzerfahrt der "Eisernen Lady" Maggie Thatcher 1986 beim Besuch eines britischen Militärstützpunkts in Norddeutschland. In einem zweiten Panzer an der Seite der Premierministerin fuhr der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl. Daß ihm zu Ehren auch eine Comicfigur namens "Tank Boy" erfunden worden wäre, ist allerdings nicht bekannt ...

Daraus wird wohl auch nichts mehr. Punk ist zwar nicht total abgeschrieben, doch haben sich längst zahlreiche andere Strömungen in der "Jugendkultur" (Erwachsenensprache) breitgemacht. Das ließ sich auch an den häufig sehr aufwendigen Verkleidungen des MCC-Publikums, das aus der Halle 1 in die anderen Hallen der Leipziger Buchmesse diffundierte und dort für Aufsehen sorgte, ablesen. Die Figur des Tank Girls tauchte nur einmal auf, wohingegen beispielsweise mehr als ein Dutzend Khaleesis (Khaleesi ist dothrakisch und spricht sich wie "Karl ließ sie" mit stummem "r") aus der TV-Serie "Game of Thrones" auf ihren höchst eigenen Eroberungsfeldzügen unterwegs zu sein schienen.

Offenbar ist jemand wie Tank Girl, die schon mal ihren ausgefallenen Zahn achtlos wegschnippt, so daß dieser versehentlich das Gehirn eines Piloten durchschlägt - woraufhin dessen Maschine samt Besatzung und Tank Girl fürchterlich abschmiert -, nicht ganz so attraktiv wie eine junge, weißblonde Herrscherin über ganze Völker und nebenbei mystische Mutter dreier Drachen.


Mit Waren üppig ausgestatteter Verkaufsstand auf dem Manga Comic Con - Foto: © 2016 by Schattenblick

Niemand hat behauptet, daß Comic und Kommerz zwei verschiedene Dinge sind ...
Foto: © 2016 by Schattenblick

Aber greifen wir nicht vorweg, die Szene mit dem Zahn sollte Antje Belke erst zu einem späteren Zeitpunkt ihres Vortrags schildern. Die Studentin im 7. Semester am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig hat mit weiteren Studierenden unter Leitung zweier Dozentinnen "Mythos und Geschichte in Comics und Graphic Novels" untersucht - nicht nur bei Tank Girl, sondern "auch bei ganz vielen anderen Comics". Wobei es wohl kein Zufall gewesen sein dürfte, daß sich Belke eben dieses Thema für ihren öffentlichen Vortrag ausgesucht hat.

Kennen- und schätzen gelernt hat sie nämlich Tank Girl bereits 2003 und damals den ersten Teil der im Sommer 1995 erschienenen, von Jamie Hewlett und Peter Milligan geschriebenen "Odyssee" gelesen. Seitdem hat ihre Begeisterung für diese Figur offensichtlich nicht nachgelassen, und beinahe könnte man meinen, die Referentin hätte sich bei Tank Girl entschuldigen wollen, indem sie vorwegschickte:

"Was ich heute mache, ist absolut untypisch für Tank Girl. Eigentlich wird es nicht zerredet. Es wird auch nicht rezensiert, aber durch die Odyssee und weil es auch wirklich ein kompliziertes Thema ist und man ohne Vorkenntnisse da vielleicht gar nicht so durchsteigt, wollte ich das heute dann trotzdem mal machen."

Ähnliches könnte man sicherlich zu der universitären Beschreibung des Projekts sagen, in der über Comics und Graphic Novels gesagt wird, daß sie "nicht nur fiktionale Unterhaltungsmedien" sind, sondern oft ebenso das politische Tagesgeschehen und historische Ereignisse reflektieren: "Individuelle Erlebnisse sowie kollektive Erfahrungen werden dabei in visuellen Metaphern, mythischen Narrativen und stereotypen Bildformeln kodiert." Die Studierenden haben sich in einem Projektmodul "mit den Transformationsprozessen zwischen Mythos und Geschichte in Comics und Graphic Novels auseinandergesetzt" und in ihren Arbeiten "die unterschiedlichen Inszenierungsstrategien von dokumentarischen und fiktionalen Bildern im Kontext von Geschichtsschreibung und Mythenbildung" untersucht. [1]

Eines der Ergebnisse dieses Projekts wurde dem Messepublikum präsentiert. Belke erläuterte anhand zahlreicher Beispiele, welche Anspielungen in Tank Girl auf die klassische Sage "Odysseus" von Homer und auf James Joyces Verarbeitung eben dieses Stoffs in seinem Roman "Ulysses" stecken. Tank Girl, deren Heimat das australische Outback im Jahr 2033 ist, bricht alle Konventionen und richtet sich beispielsweise auch gegen den klassischen Feminismus. Zu Beginn ihrer Odyssee tötet sie den Erzähler, in den Worten Belkes "entmachtet sie den Autor", und sagt: "Hey, du tust so, als sei ich eine Schlampe. Wer bist du überhaupt, dies ist meine Story, ich erzähle sie!"

Bis die Odyssee des "Panzermädchens" endet, muß es Abenteuer überstehen - nur eben in kodierter Form - ähnlich denen der Figur Odysseus, des Königs von Ithaka, der nach dem Trojanischen Krieg zu seiner geliebten Frau Penelope zurückkehren will, aber zuvor eine zehnjährige Irrfahrt durchleiden muß. Beispielsweise mußte Homers Figur an den Sirenen vorbeisegeln, die mit ihren Gesängen Seefahrer an die felsige Küste locken. Im Comic werden die Sirenen als Gothic Band dargestellt. Daran sehe man eindeutig, daß die Autoren der Punk- und Skinhead-Kultur entsprangen, berichtete Belke. Mit den Gothics besäßen sie da schon "ein kleines Feindbild". (Wobei, das sei hier am Rande erwähnt, die Tank Girl-Erfinder den Sirenen augenscheinlich ein hohes Maß an Gesangesqualität attestieren, wo doch diese normalerweise die Herzen hartgesottener Seefahrer dahinschmelzen lassen ...)

Bei ihrem völlig abgefahrenen Trip durch die schmutzig-schönen Comic-Abenteuer, bei dem auch der besagte pilotenhirnperforierende Zahn eine Rolle spielt, tötet Tank Girl ihren Vater, läßt ihre Mutter in der Hölle schmoren, verekelt eine hartgesottene Mafiagang und findet am Ende ... zu sich selbst? ... ihr Zuhause? ... in den Schoß gesellschaftlichen Mittelmaßes zurück?


Mit grünen Stellwänden gegen die übrigen Messestände geschützter Bereich, in dem Gäste auf grünen Teppichen und unter grünen Schirmen zusammensitzen, lesen und vermutlich grünen Tee trinken - Foto: © 2016 by Schattenblick

Japanischer Teegarten - um etwas Ruhe inmitten des Messetrubels bemüht
Foto: © 2016 by Schattenblick

Wie die Geschichte ausgeht, sei hier nicht verraten. Wer aber mehr über das Projekt "Geschichte und Mythos in Comics und Graphic Novels" der Leipziger Universität erfahren will, hat dazu noch bis zum 8. Oktober die Gelegenheit bei einem Besuch einer Ausstellung am Institut für Kunstgeschichte; Ende April findet eben dort ein mehrtägiger Kongreß zu diesem Thema statt ... und, ach ja, ein ganz klein wenig mehr über das Projekt erfährt man auch im folgenden Blitzinterview, das der Schattenblick im Anschluß an den Vortrag mit Antje Belke geführt hat.


Schattenblick (SB): Wurde das Uni-Projekt "Geschichte und Mythos in Comics und Graphic Novels" von den Studierenden vorgeschlagen?

Antje Belke (AB): Nein, das ging tatsächlich von unseren Dozentinnen aus. Dafür sind wir auch wirklich dankbar, weil es eine wahnsinnig tolle Inspiration war und viele von uns bis dahin noch gar nichts mit Comics zu tun hatten. Ich finde, wenn man Kunstgeschichte studiert, sollte man auf jeden Fall den Bereich Comics und Graphic Novels auf dem Plan haben.

SB: Besteht hierzu eine Kontinuität der Forschung über mehrere Semester?

AB: Ja, das Projekt geht über zwei Semester. Dazu kommt dann noch die Ausstellung in der Galerie für Zeitgenössische Kunst, später dann im Institut für Kunstgeschichte, sowie die zwei Vorträge von meinem Kommilitonen und mir.

SB: Sie haben viel über Mythen gesprochen. Sind Sie über Comics zu den Mythen gekommen oder war es eher umgekehrt?

AB: Tank Girl habe ich schon gelesen, als ich 16 war, und war davon total begeistert. Das hat mein Leben wirklich verändert. Das wollte ich den Leuten einfach mitgeben. Und natürlich hat es beim Thema Mythologie und Tank Girl sofort Klick gemacht - das Thema interessiert mich sehr.

SB: Tank Girl ist eine Figur, die mit jeglichen Tabus bricht. Wenn nun in den Geschichten schon so viele Tabus gebrochen sind, gibt es heute überhaupt noch Tabus?

AB: Ja, es gibt noch Tabus. Ich habe bei meinem Vortrag bewußt eine Szene nicht mit reingenommen, in der es bei Ulysses um Selbstmord geht, ein Thema, das auch bei Tank Girl aufgegriffen wird. An einer Stelle sagt sie zu jemandem, der erklärt, Selbstmörder gehörten für ihn nicht in den Himmel, Dinge wie: "Du ignorantes Stück Scheiße!" Das habe ich weggelassen. Themen wie gewaltsamer Tod sind natürlich immer noch ein Tabuthema und sollten es bis zu einem gewissen Grad auch bleiben. Einige Dinge sollten vielleicht nicht in den Dreck gezogen werden.

SB: Sie hatten auch die Entmachtung des Autors angesprochen. Könnte man das nicht wiederum als Erhöhung des Autors ansehen, weil er sich scheinbar seiner eigenen Figur unterwirft, die er jedoch weiter produziert?

AB: Ich finde die Idee von der Entmachtung des Autors spannend, weil James Joyce sehr prätentiös ein Werk schaffen wollte, was man 100 Jahre lang auseinandernehmen kann und es immer noch nicht versteht. Das ist wirklich ein Zitat von ihm. Ihn dann quasi zu erschießen und zu entmachten empfinde ich nur bedingt als Erhöhung. Was Joyce der Odyssee, in Anführungszeichen, "angetan" hat, das wurde ihm jetzt auch angetan. Ein Kreislauf.

SB: Auch eine Art Tabubruch.

AB: Genau.

SB: Frau Belke, vielen Dank für das Gespräch!


Verkaufsstand mit mehreren Dutzend aufgereihten Schwertern - Foto: © 2016 by Schattenblick Zwei japanische Bogenschützen demonstrieren ihr Können - Foto: © 2016 by Schattenblick

Für jeden Samurai ein passend' Schwert dabei ... straff die Sehn' gezogen, tut's auch mal ein Bogen
Fotos: © 2016 by Schattenblick


Fußnote:

[1] https://www.facebook.com/events/887228371398543


Die Berichterstattung des Schattenblick zur Leipziger Buchmesse finden Sie unter INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/041: Leipzig, das Buch und die Messe - alte Animositäten ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0041.html

BERICHT/042: Leipzig, das Buch und die Messe - es wächst zusammen, was nie verschieden war ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0042.html

INTERVIEW/048: Leipzig, das Buch und die Messe - der rote Faden Lesespaß ...    Kerstin Libuschewski und Julia Lücke im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0048.html

INTERVIEW/049: Leipzig, das Buch und die Messe - zielgeführt und aufgeklärt ...    Christian Linker im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0049.html

INTERVIEW/050: Leipzig, das Buch und die Messe - fast nach zwölf ...    Prof. Hans Joachim Schellnhuber im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0050.html

INTERVIEW/051: Leipzig, das Buch und die Messe - Klassenbesinnung ...    David North im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0051.html

INTERVIEW/052: Leipzig, das Buch und die Messe - Renaissance und Verjüngung ...    Steffen Haselbach im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/053: Leipzig, das Buch und die Messe - an der Oberfläche ...    Torsten Casimir im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/054: Leipzig, das Buch und die Messe - Koloniale Karten neu gemischt ...    Gerd Schumann im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/055: Leipzig, das Buch und die Messe - bündeln, leiten, messen ...    Thierry Chervel im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/056: Leipzig, das Buch und die Messe - Alter Wein ...    Wolfgang Tischer im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/057: Leipzig, das Buch und die Messe - Erfolg, Irrtum und Selbsteinschätzung ...    Markus Heitz im Gespräch (SB)
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13. April 2016


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