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INTERVIEW/081: 21. Linke Literaturmesse - Kapitalismusforcierte Phänomene ...    Gert Wiegel im Gespräch (SB)


Wie umgehen mit dem Vormarsch der Rechten

Interview am 6. November 2016 in Nürnberg


Der Politologe, Publizist und Autor Gerd Wiegel ist als Referent für Rechtsextremismus und Antifaschismus bei der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag zuständig. Er war als Referent für das Eröffnungspodium der Linken Literaturmesse geladen, das die Frage "Wo bleibt die radikale Linke?" diskutierte. Am Rande der Messe beantwortete Gert Wiegel dem Schattenblick einige Fragen insbesondere zur AfD, die im Parteienspektrum eine neue, auch auf der Straße stark präsente Rechte repräsentiert.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Gert Wiegel
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Wenn man sieht, daß die Parteien ihre inhaltlichen Positionen unter Verweis auf die AfD nach rechts verschieben, könnte man den Eindruck haben, daß der AfD vor allem die Funktion zukommt, das gesamte Politikfeld mehr nach rechts zu bewegen. Könnte man das so sehen?

Gert Wiegel (GW): Einer der Gründungsmomente der AfD war auf jeden Fall das Enttäuschtsein darüber, daß die Union aus deren Sicht seit Jahren nicht mehr ihren konservativen Kerngehalt bedient. Das Stichwort der angeblichen Sozialdemokratisierung unter Frau Merkel und daß viele enttäuschte Unionsleute in der AfD ein Projekt gesehen haben, jetzt wieder konservative Inhalte in ihrem Sinne parteipolitisch vertreten zu können, kann man auch personell festmachen. AfD-Politiker wie Alexander Gauland, aber auch anfangs Bernd Lucke hatten jahrzehntelange Karrieren in der Union hinter sich. Es war schon einer der Gründungsimpulse für die AfD, dieses konservative Spektrum zu sammeln und parteipolitisch wieder einzubinden. Heute spiegelt die Partei allerdings ein Spektrum, das darüber hinausgeht. Das ist natürlich attraktiv für viele andere Leute, die aus der sogenannten Neuen Rechten kommen und sich im Rahmen der extremen Rechten verschiedene Parteiprojekte angeschaut haben, um dort unterzukommen und auf einen erfolgreichen Zug aufzuspringen. Die hat die AfD natürlich angezogen, aber im Kern war es schon ein Gründungsimpuls, der diesem rechtskonservativen nationalistischen Milieu entsprang.

SB: Zum allgmeinen Sprachgebrauch: Der üblicherweise verwendete Begriff des "Rechtsextremismus" verweist auf die Extremismustheorie, die sich ja auch gegen die Linke richtet. Sprichst du als Experte auf dem Gebiet auch von einer radikalen Rechten, oder wie gehst du mit der Terminologie um?

GW: Die Sprachprobleme sind in der Tat gerade in linken Debatten virulent. "Rechtsextremismus" rekurriert natürlich auf den Begriff des Extremismus. Ich spreche wenn, dann von der "extremen Rechten", um dem Ismus im Extremismus, der zugleich auch an "Linksextremismus" und "Ausländerextremismus" und so weiter denken läßt, zu entgehen. In der Tat spreche ich in letzten Zeit öfters von der "radikalen Rechten". Das war ein Begriff, der in den 70er Jahren schon einmal benutzt wurde. Dann hat man gesagt, nein, radikal an die Wurzel gehen ist eigentlich viel zu positiv besetzt, das ist das, was Linke machen. Das billigen wir den Rechten nicht zu. Insofern bin ich kein Anhänger dieses Extremismusbegriffs und versuche ihn, soweit ich mich schriftlich ausdrücke, zu vermeiden. Im mündlichen Sprachgebrauch muß man oftmals Begriffe nutzen, die auch Leute, die in der Politik nicht so tief drinstecken und diese Feinheiten nicht kennen, verstehen und wissen, wovon die Rede ist. Deswegen ist der Begriff nicht ganz zu vermeiden. Aber wenn man sich korrekt und differenziert ausdrücken will, dann sollte man schon sehen, wovon man konkret redet.

SB: Siehst du einen Zusammenhang zum Aufkommen der neuen Rechten und der gesellschaftlichen Orientierung an verschärfter Sozialkonkurrenz?

GW: Ja, ganz eindeutig. Ich glaube, daß wir gerade diese Entwicklung, die wir in Deutschland in gewisser Weise nachholen, erleben. Wie in vielen anderen europäischen Ländern seit ungefähr 20 Jahren zu sehen, hat das mit dem neoliberalen Projekt und einer Verschärfung des gegenwärtigen Kapitalismus zu tun. Das kann man auch an vielen Einstellungsuntersuchungen wie der Studie Deutsche Zustände des Soziologen Wilhelm Heitmeyer sehen, die diese Entwicklung seit Anfang der 2000er Jahre dokumentiert hat. Sie belegt, daß es das Potential für eine autoritäre politische Vorstellung seit vielen Jahren gibt und einen engen Zusammenhang mit der Entwicklung des neoliberalen Kapitalismus hat, der den Konkurrenzgedanken bis in die individuellen Lebensformen hinein befördert und damit natürlich auch die Frage des Wettbewerbs, des Ellenbogeneinsetzens zur normalen Verhaltensweise gemacht hat. Und das spiegelt sich in der AfD wider.

Natürlich spielt der Rassismus dort eine große Rolle, denn die Frontstellung gegen Geflüchtete ist nicht zufällig. Aber sie wird in vielen Fällen nicht allein und manchmal auch gar nicht hauptsächlich aus einer traditionell rassistischen Motivation heraus gespeist. Das hat schon etwas mit Fragen wie "wer trägt etwas zur Wertschöpfung in dieser Gesellschaft bei, was haben diese Leute eigentlich hier verloren, warum sind die nicht in ihren Ländern, die sich um sie kümmern sollen?" zu tun. Es ist nicht allein eine Frage des Überlegenheitsgefühls. Natürlich gibt es dort auch harte Rassisten. Aber in vielen Fällen ist eine Form von neoliberaler Logik anzutreffen, bei der die Frage, warum Leute von dem Reichtum dieser Gesellschaft partizipieren dürfen, die nichts dazu beigetragen haben, im Mittelpunkt steht. Das spiegelt in einer gewissen Weise wider, was der Kapitalismus in den letzten 20 Jahren leider relativ erfolgreich mit den Köpfen der Leute angestellt hat.

SB: Frauke Petry hat erklärt, den Begriff des "Völkischen" wieder akzeptabel machen zu wollen. Kann man das als ein Indiz dafür werten, daß die AfD sich verstärkt einem völkischen Nationalismus zuwendet, der eine, die vermeintlich eigene Überlegenheit biologistisch verankernde Idee des Volkes vertritt?

GW: Ja, man muß es erst einmal so werten, wiewohl ich mir unsicher bin, weil die AfD so viele Wandlungen in den letzten Monaten durchgemacht hat. Ich glaube, man probiert dort aus, wo die Grenzen liegen und was man in diesem Land wieder sagen kann. Die Verschiebung der Grenze nach rechts ist ein wichtiges Anliegen der AfD, wobei ich allerdings nicht weiß, wer das dort als Strategie begreift. Es gibt den rechten Flügel um Leute wie Björn Höcke und André Poggenburg und solche, die genau in diese Richtung gehen wollen. Und es gibt Leute wie Frauke Petry oder Jörg Meuthen, die einfach schauen, was opportun ist, womit sich Mehrheiten organisieren lassen und wie sie auf gesellschaftliche Stimmungen rekurrieren können. Insofern bin ich mir nicht sicher, ob die AfD als Ganzes zu einem völkischen Nationenbegriff zurückwill mit allem, was da mitschwingt. Es scheint, was für Parteien der radikalen Rechten immer wichtig war, auch darum zu gehen, diese Tabugrenzen zu brechen und die Starre des politisch Korrekten zum eigenen Vorteil auszuspielen. Das spielt meines Erachtens auch eine sehr große Rolle, darf aber nicht dazu führen, daß man das inhaltlich unterschätzt und nicht glaubt, daß sie das, was sie verkünden, eventuell auch umsetzen würden.

SB: Häufig wird gegen "Gutmenschen" zu Felde gezogen, weil sie angeblich "politisch korrekt" wären. Wie weit ist der Begriff des politisch Korrekten deiner Ansicht nach von rechter Demagogie okkupiert?

GW: Generell ist das ein demagogisch benutzter Begriff von rechts, der bestimmte emanzipatorische Standards im Umgang mit Minderheiten, mit vermeintlich schwachen Gruppen in der Gesellschaft in Frage stellen soll. Insofern hat das eine inhaltliche Dimension. Nichtsdestotrotz finde ich, daß man den Begriff "politische Korrektheit" auch in einem neutralen Sinne noch benutzen kann. Auch in linken Debatten gibt es bestimmte Tabus, bestimmte Fragen können schwer gestellt werden, weil sie vermeintlich gegen korrekte Ansichten oder gegen Common sense-Wahrheiten verstoßen. Das ist natürlich ein Problem, und da versucht die Rechte, den Finger in die Wunde vorhandener Tabuzonen zu legen. Das geschieht überall, aber generell wird es von der Rechten genutzt, um gesellschaftliche Standards, die in den letzten Jahren in einem linksliberalen Diskurs mühsam erarbeitet wurden, aktiv in Frage zu stellen und sie vor allen Dingen gegen schwache Gruppen und Minderheiten in diesem Land zu wenden, auf deren Kosten dieser Kampf gegen eine angebliche politische Korrektheit natürlich am Ende geht.

SB: AfD- und Pegida-Anhänger haben den Begriff der "Lügenpresse" stark gemacht. Auch Linke erleben, daß in großen bürgerlichen Medien einseitig und parteilich für herrschende Interessen eingetreten wird. Was sagst du zu dieser Debatte, wie sollten Linke damit umgehen?

GW: Indem sie versuchen, etwas differenzierter zu argumentieren. Natürlich gibt es eine Presse, die im Sinne von Interessen schreibt. Natürlich verkörpern große Verlagskonzerne auch ein bestimmtes Weltbild und haben daher gegen neoliberale Austeritätspolitik in diesem Land noch nie etwas gesagt, sondern betrachten sie als das Nonplusultra. Wenn man sich etwa die Berichterstattung zum Brexit anschaut, den ich jetzt nicht begrüßt habe, dann könnte man angesichts der Kommentierungen, die man dort lesen konnte und in denen kein kritisches Wort zur EU zu hören war, geradezu zum Brexit-Fan werden. Wer irgend etwas an der EU auszusetzen hat, der ist ja nicht mehr von diesem Planeten - da kann man natürlich einen Haß kriegen und denken, die Presse sei völlig uniform. Trotzdem würde ich von links erwarten, daß man nicht verallgemeinert, sondern differenziert.

Natürlich macht es einen Unterschied, ob ich eine Presselandschaft habe, die aus dem Neuen Deutschland und der jungen Welt besteht, oder ob die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche und die FAZ das Feld beherrschen. Da gibt es ja eine Spannbreite, die man zur Kenntnis nehmen muß, weil sonst alles über einen Leisten geschlagen wird. Aus Sicht der Rechten ergibt sich daraus im Prinzip noch einmal diese Frontstellung "wir gegen alle anderen". Alles andere ist im Prinzip Systempresse, da ist man sehr schnell an diesem Nazisprachgebrauch dran. Daher sollte eine Linke aus meiner Sicht etwas differenzierter vorgehen.

SB: Der AfD wird häufig nachgesagt, ihre Anhängerschaft bestünde vorwiegend aus Putin-Fans, aber in ihrem Parteiprogramm ist von einem Austritt aus der NATO keine Rede, auch wird nicht gegen transatlantische Politik Stellung bezogen. Wie beurteilst du die außenpolitische Programmatik der AfD?

GW: Ich glaube, daß das Thema Außenpolitik in der AfD eher eine untergeordnete Rolle spielt. Für eine relativ neue Partei, die sich in vielen Feldern erst Kompetenzen aneignen muß, steht das nicht im Zentrum. Es gibt dort unterschiedliche Ausrichtungen. So gab es meines Erachtens zum Programmparteitag auch den Antrag, den Austritt aus der NATO mit aufzunehmen. Das kommt eher von Leuten aus diesem neurechten Flügel, die ich immer die "ideologischen Überzeugungstäter" nenne, also diejenigen, die eine relativ klare Positionierung haben. Für sie ist die Abwendung vom dekadenten Westen ein ganz zentraler Punkt. Deswegen sind sie nicht per se Freunde des Ostens, aber sie vertreten diese alte deutsche Hegemonialvorstellung, in der Deutschland als Mittler zwischen Ost und West eine eigenständige Großmachtrolle zukommt. Dort findet man auch eine klar nationalistische Ausformung von Außenpolitik. Innerhalb der AfD ist das aber generell nicht so von Belang. Putin findet man wahrscheinlich gut, weil man ein bestimmtes autoritäres Politikmodell in den eigenen Reihen vertritt. Zudem geht er hart gegen Schwule und Lesben, aber auch gegen Migranten, und artikuliert nationale Interessen deutlich nach außen. Das findet man attraktiv und erkennt darin offensichtlich etwas wieder, was man sich selber gerne als politischen Stil aneignen würde.

B: In der AfD haben sich einige Schwule organisiert, es gibt auch Behinderte unter den Parteimitgliedern. Wie groß ist deiner Ansicht nach die Bedeutung dieses Kulturkampfes um Fragen der Familie, der Geschlechtlichkeit und Minderheiten, der ja auch ein Unterscheidungsmerkmal zu den Unionsparteien darstellt?

GW: Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Die familienpolitischen oder geschlechterpolitischen Fragen werden häufig als politisch weiche Themen betrachtet, aber sie sind schon sehr relevant. Im Wahlprogramm ist mir zumindest aufgefallen, daß Gender neben dem Thema Islam durchgehend vertreten war. Da kann man den Schaum vorm Mund geradezu sehen. Hinter einen Stand von Emanzipation zurückzufallen, der von den 60er Jahren bis heute erkämpft und nach langen Kämpfen auch von der Union oder vom etablierten Konservatismus wenn nicht gutgeheißen, so doch in Maßen akzeptiert wurde, ist ein zentrales Projekt der AfD. Ich würde momentan bezweifeln, daß das mehrheitsfähig ist. Insofern würde es sich schon für eine Gegenbewegung lohnen, stärker die Frage in den Mittelpunkt zu stellen, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Wollen wir tatsächlich zu einem Familienmodell der 50er Jahre zurückkehren? Der Mann als Alleinverdiener, die Mutter bleibt am besten zu Hause, kümmert sich um die Kinder und so weiter. Wollen wir tatsächlich dahin zurück, wollen wir zu einem Gesellschaftsmodell zurück, wo Menschen, die anders leben in diesem Land, sich verstecken müssen und nicht mehr offen auftreten können? Ist das wirklich ein Ziel für eine Gesellschaft? Das ist etwas, was die AfD verkörpert. Insofern spielt diese kulturelle Auseinandersetzung schon eine große Rolle, und es würde sich von links lohnen, das stärker und offensiver gegen die AfD zu wenden. Ich glaube schon, daß man damit Mehrheiten gegen die AfD mobilisieren kann.

SB: In den 70er Jahren stand offenes Schwulsein noch gleichbedeutend mit links. Heute ist das bei weitem nicht mehr so. Meinst du, daß es noch eine Chance gibt, die Schwulen- oder LGBTI-Bewegung dahingehend zu politisieren, daß sie nicht nur für ihre persönlichen oder Identitätsrechte, sondern auch für eine grundsätzliche Gesellschaftsveränderung eintritt?

GW: In diesem Punkt bin ich nicht kompetent genug, um das wirklich gut beantworten zu können, weil ich die Bewegung von innen nicht so gut kenne. Ich würde es mir einerseits wünschen, bin mir aber nicht sicher. Andererseits ist es ja gut, wenn man als bekennender Schwuler nicht mehr links sein muß. Das war früher natürlich auch dem gesellschaftlichen Druck geschuldet, weil man anders überhaupt nichts ausleben konnte und ansonsten im Prinzip zur Nichtperson wurde. Das hat sich zum Glück geändert. Ich kann gar nicht genau beurteilen, wie weit sich das gewandelt hat, aber es hat sich in Maßen geändert, so daß man heute auch in der Bundesrepublik einen Außenminister oder einen Oberbürgermeister in Berlin haben kann, der bekennend schwul ist.

Das ist natürlich erst einmal positiv, auch daß man das per se nicht nur in linken Kreisen tun kann. Allerdings hat das den Pferdefuß, daß es auch unter Schwulen und Lesben oder Menschen, die eine andere sexuelle Orientierung haben, die ganze Palette gibt. Das können genauso reaktionäre Leute sein, insofern gibt es auch Schwule in der AfD, die sich dann damit auseinandersetzen müssen, was der Mehrheitsdiskurs der Partei ist und welche Form von Männlichkeitskult dort von einzelnen Leuten betrieben wird, die auch versuchen, das programmatisch festzulegen.

Angenommen, es würden sich gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen an diesem kulturellen Punkt zuspitzen, dann kann es natürlich schon zu einer Bekenntnisfrage werden, wie weit mir diese Rechte, die wir uns mühsam über Jahrzehnte erkämpft haben, wichtig sind, oder ob ich dafür eintrete und auch meine sonstigen vielleicht konservativen politischen Überzeugungen hintanstelle. Wenn sich eine Partei wie die AfD durchsetzt, dann ist das Ganze doch wieder sehr stark in Frage gestellt, und das könnte zu einer Politisierung nach links führen, aber da bin ich sehr unsicher.

SB: Bis zu einem Drittel der Gewerkschafter würden heute AfD wählen, was den Grad an Verwirrung kaum besser dokumentieren könnte. Wie ließen sich linke Positionen in einer solchen Gemengelage noch kenntlich machen?

GW: Gewerkschafter haben bei den letzten Wahlen im oder sogar über den Schnitt AfD gewählt. Sie sind davor nicht gefeiter als andere Gruppen. Aus linker Perspektive macht mir am meisten Sorge, daß die AfD mittlerweile auch Attraktivität für Wählerinnen und Wähler gewonnen hat, die von ihrer sozialen Lage her für Linke eigentlich eine Basis oder zumindest ein ansprechbares Publikum bilden. Die soziale Frage ist links konnotiert, das ist fast schon eine Selbstverständlichkeit. Das ändert sich aber im Moment, weil viele Leute glauben, daß sie ihre sozialen Interessen mit der Wahl einer rechten Partei besser schützen können, was ein problematischer Punkt ist. Aus meiner Sicht muß eine Linke dort wieder kenntlicher werden.

Ich arbeite innerhalb der Linkspartei. Man kann der Linken als Partei viel vorwerfen, aber wahrscheinlich nicht, daß sie das Thema Soziales nicht vertritt. Man muß sich jedoch Gedanken darüber machen, wie sie es vertritt. Ob sie es auf einer parlamentarischen Ebene tut, was ich nicht kleinreden will, weil gesetzliche Bestimmungen oder Fragen zu Hartz IV-Sanktionen für viele Leute sehr reale Auswirkungen haben. Oder ob sie es nicht schafft, die Auseinandersetzungen um die Frage der Verteilung in diesem Land im Bündnis mit Gewerkschaften wieder stärker auf die Straße zu bringen und sehr viel offensiver zu führen, um den Leuten den Eindruck zu vermitteln, daß sie tatsächlich ihre Interessen und Bedürfnisse wahrnimmt, kennt und versucht, sie auch in Politik umzusetzen.

So scheinen die Leute den Eindruck zu haben, daß Die Linke nicht anders ist als die übrigen Parteien und zu den Etablierten gehört. Es ist ihr offensichtlich nicht gelungen, deutlich zu machen, daß wir eben nicht wie die anderen Parteien sind, weil wir zum einen anders im Parlament auftreten und zum anderen in den Alltagskämpfen an ihrer Seite stehen. Das ist etwas, was eine Linke über die Partei hinaus generell wieder stärker deutlich machen muß, um - was sicherlich schwierig ist - ein Publikum zu erreichen, das per se nicht links ist. Ich habe den Eindruck, daß sich die Linke immer nur auf sich selbst bezieht und Leute zu überzeugen versucht, die ohnehin schon links sind, was nicht besonders schwer ist. Sich mit Leuten auseinanderzusetzen, die für rechte Parolen weit offen und in hohem Maße unpolitisch sind oder den medialen Mainstream, der von der Bildzeitung beherrscht wird, einfach konsumieren, um ihnen konkrete Angebote zu machen und sie so davon abzubringen, eine rechte Partei zu wählen, halte ich für eine große Herausforderung in der nächsten Zeit.

SB: In der Linken wird auch über einen sogenannten Linkspopulismus nachgedacht und damit die Frage aufgeworfen, wie weit Linke populistisch agieren müssen, um überhaupt noch Leute zu erreichen. Siehst du darin auch Gefahrenmomente?

GW: Da stecken eindeutig Gefahrenmomente drin, aber ich finde, den Versuch zu unternehmen und sich zu überlegen, wie wir diese Leute ansprechen können, dennoch richtig. Es kann nicht funktionieren, wenn man den Leuten als erstes mit Verachtung begegnet und sie als Rassisten beschimpft, um sie danach zu bitten, die AfD nicht zu wählen. Was aber auf keinen Fall funktioniert, ist, wenn man ihnen nach dem Mund redet, daß alles gar nicht so schlimm ist und man schon mal einen kleinen rassistischen Spruch rauslassen kann, daß wir Verständnis dafür haben und wissen, daß im wesentlichen die soziale Lage dafür verantwortlich ist. Man muß schon eine deutliche Sprache sprechen und beim Thema Rassismus klare Kante zeigen, aber trotzdem gesprächsfähig bleiben. Das heißt, man muß die Gründe und Motivationen erkennen, warum sich Leute gegen Flüchtlinge stellen.

Das heißt aber nicht, ihre inhaltlichen Positionen zu akzeptieren oder gar zu verschweigen. Man muß es zum Thema machen und den Leuten erklären, daß das nicht der Grund dafür ist, warum eure Lage so ist, wie sie ist. Was würde sich denn an eurer Lage konkret ändern, wenn die Flüchtlinge nicht da wären? Gab es vor der "Flüchtlingswelle" keine Probleme auf dem Wohnungsmarkt und im Bildungssystem, gab es keine Probleme bei der Umverteilung des sozialen Reichtums in diesem Land? Natürlich gab es sie schon vorher. Und warum glaubt ihr, daß ihr mehr partizipieren würdet in diesem Land, wenn die Flüchtlinge nicht hier wären? Das ist doch eine völlig illusorische Vorstellung. Dies sehr viel stärker deutlich zu machen, wäre aus meiner Sicht ein sinnvoller Umgang.

SB: Gerd, vielen Dank für das Gespräch.


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24. November 2016


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