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INTERVIEW/083: 21. Linke Literaturmesse - Primatentaktik ...    Colin Goldner im Gespräch (SB)


Tierrechte - kein Thema für Linke?

Interview am 5. November 2016 in Nürnberg


Der Psychologe Colin Goldner hat sich als Autor zahlreicher Sachbücher einen Namen als Kritiker etablierter Religionen, esoterischer Heilslehren und der Psychoszene gemacht. Seine Kritik am tibetischen Gottkönigstum um den Dalai Lama führte zu einer erregten öffentlichen Debatte. Goldner ist Mitglied des Wissenschaftsbeirates im Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten sowie des Beirates der Giordano-Bruno-Stiftung.

Im Rahmen seines tierrechtlichen Engagements koordiniert Goldner seit 2011 das Great Ape Project, das Grundrechte für Menschenaffen fordert. Der Titel seines jüngsten Buches Der Zoo - Kein Platz für Tiere läßt keinen Zweifel an der Position seines Autors aufkommen. Auf der Linken Literaturmesse stellte er sein 2014 erschienenes Buch Lebenslänglich hinter Gittern: Die Wahrheit über Gorilla, Orang Utan & Co in deutschen Zoos vor [1]. Anschließend beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zum Thema Tierrechte und dem Mensch-Tier-Verhältnis.


Mit Laptop vor Fenster sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Colin Goldner im Vortrag auf der Linken Literaturmesse
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): In deinem Vortrag erwähntest du, daß die Behauptung, Hitler sei Vegetarier gewesen, ein Mythos ist. Da diese Behauptung absurderweise auch als Argument gegen Tierrechtler eingesetzt wird, wüßte ich gerne, wie belastbar ihre Widerlegung ist.

Colin Goldner (CG): Man weiß es aus Aufzeichnungen nicht nur seiner beiden Köche sowohl in Berchtesgaden als auch in Berlin. Von dem Koch Kannenberg sind Menülisten erhalten, so daß man genau rekapitulieren kann, was dort gegessen worden ist. Außerdem gibt es Berichte seiner langjährigen Sekretärin Traudl Junge. Daraus geht hervor, daß er auf rotes Fleisch, also Kalbfleisch oder Schweinefleisch, tatsächlich verzichtet hat, aber nicht aus ethischen Gründen, sondern weil er ein großes Problem mit höchst übelriechenden und lauten Darmwinden hatte, was ihm vor allem in Gegenwart von Frauen unendlich peinlich war. Sein Leibarzt hatte ihm wohl empfohlen, auf gebratenes oder auch gesottenes Fleisch zu verzichten, weil er so seine Darmwinde kurieren könnte. Er hat auch nicht geraucht, weil er Angst vor Krebs hatte.

Dennoch hat er nie auf seine bayrisch-österreichischen Leibspeisen verzichtet, also Kalbsbrühe oder auch gebratene Würste als auch Wachteln. Zudem hat er irrwitzige Mengen an extrem fetten Sahnetorten vertilgt, wo viel Ei und Zucker drin ist, als auch Kaviar. Er hat also nicht vegetarisch gelebt. All das ist verbürgt, aber letztlich ist es vollkommen egal, ob Hitler Vegetarier oder Veganer war oder nicht. Aus historischer Korrektheit heraus muß man jedoch sagen, daß er es nicht war. Daß dieser Mythos hochgehalten worden ist, lag daran, daß es ins Bild vom Führer gepaßt hat, wenn er weder raucht noch trinkt, keine Frauengeschichten hat und sich überhaupt als Asket für sein Volk verzehrt. Das war der eigentliche Hintergrund.

SB: Wie erklärst du dir den Einfluß rechter Gruppen auf die Tierrechtsbewegung?

CG: Zum einen begründet er sich historisch, zum anderen ist es tatsächlich so, daß heutige rechte Gruppen immer auf der Suche nach Themenfeldern sind, die eine gewisse Kompatibilität zu irgendwelchen Protestbewegungen aufweisen. Für Umwelt- oder Tierschutz interessiert sich jeder junge Mensch irgendwann einmal. An dieser Stelle läßt sich für Rechte andocken. Tierschutz bzw. Tierrechte waren vor sechs, sieben oder acht Jahren eine größere Kiste, da hat es auch eigens eine Arbeitsgemeinschaft NS-Tierrechte gegeben. Aber das ist inzwischen ziemlich eingeschlafen. Das liegt auch daran, daß sie aus öffentlichen Tierrechtszusammenhängen, Demos und so weiter, rigide ausgegrenzt worden sind. Sobald irgendwo ein anrüchiges Plakat auftaucht, kriegen sie kein Bein mehr auf den Boden. Allenfalls im Kontext von Bewegungen wie Universelles Leben, die auf einer reaktionären bzw. in Teilen auch antisemitisch zu interpretierenden Ideologie unterwegs sind, trifft man sie gelegentlich noch an, aber daß Nazis oder Anhänger der AfD jetzt direkt im Tierschutz aktiv sind, kann ich nicht mehr erkennen.

SB: Du setzt dich für Grundrechte für Menschenaffen ein. Warum begrenzt du dein Tierrechtsengagement auf diese Gruppe?

CG: Das läßt sich ganz einfach beantworten. Die Großen Menschenaffen sind der Dreh- und Angelpunkt des Verhältnisses Mensch-Tier. Wenn ich eine Trennlinie zwischen Menschen und Tieren hochziehe, dann macht sich das am Menschenaffen fest, weil er dem Menschen am nächsten ist. Aus genetischer Sicht gibt es praktisch keinen Unterschied mehr zwischen großen Menschenaffen wie Bonobos bzw. Schimpansen und dem Menschen. Je nach Meßmethode liegt die genetische Abweichung im einstelligen Promillebereich. Sie sind also praktisch identisch mit uns, sowohl hinsichtlich ihrer sozialen, emotional-kommunikativen wie auch kognitiven Fähigkeiten. Der Unterschied zum Menschen ist nur graduell. Manche Menschen haben mit Blick auf ihre kognitive Reichweite sogar weitaus geringere Fähigkeiten als große Menschenaffen. Ich denke da in erster Linie an Neugeborene oder Kleinkinder als auch an demente Menschen bzw. Autisten. Das heißt, die Trennlinie verschwimmt.

Wenn es mir gelingt, diese Speziesgrenze anhand der Großen Menschenaffen zu durchbrechen, weil es in ihrem Fall kein Argument gibt, ihnen diese Rechte vorzuenthalten, könnte dies eine Art Bewegung lostreten, die selbsttätig auch auf andere Bereiche übergreift. Wenn man den Menschenaffen diese Rechte nicht länger vorenthält, weil sie ähnliche Fähigkeiten haben wie wir, dann stellt sich sofort die Frage nach den Delphinen oder Elefanten. Der Fokussierung auf Menschenaffen liegt, wenn man so will, eine strategische Überlegung zugrunde. Ich mache es an den Menschenaffen fest, weil die Forderung bei ihnen am stichhaltigsten ist. Bei dem Elefanten oder der Giraffe bzw. einem Krokodil wäre der Widerstand sehr viel größer, weil sie weiter weg von uns sind. Bei ihnen könnte man einwenden, daß es eben Tiere sind. Bei den Menschenaffen ist die Argumentationslinie noch am einfachsten, niemand könnte ihnen ernsthafterweise ein Recht auf Leben und die Freiheit von Folter verwehren. Wenn man ihnen diese Rechte zuerkennen würde, würde es kein Menschenrecht beschneiden. Eine rechtliche Gleichstellung in bestimmten Bereichen hätte keinen Nachteil für irgendeinen Menschen. In Bereichen, die für den Menschen spezifisch sind, verlangen wir das gleiche Recht für Gorillas gar nicht. So braucht ein Gorilla kein Recht auf Religionsfreiheit.

SB: Hieße das im Umkehrschluß, daß Tierrechte, wie sie von der Tierrechtsbewegung eingefordert werden, für sogenanntes Nutzvieh problematischer durchzusetzen wären, weil sie auf der Speisekarte der Menschen stehen?

CG: Hier käme noch eine ganz andere Diskussionsebene auf, die bei den Großen Menschenaffen ja wegfällt. Sie werden in dem Sinne nur in der biomedizinischen Forschung, in Zoos, Zirkussen und vielleicht noch hier und dort als private Haustiere mißbraucht, aber einen darüber hinausgehenden ökonomischen Vernutzungsfaktor gibt es bei ihnen nicht. Aber schon bei den Affen ist es schwer genug. So gibt es in Deutschland immer noch die rechtliche Möglichkeit zur biomedizinischen Forschung an Großen Menschenaffen. Das man es nicht mehr macht, liegt nicht an ethischen Gründen, sondern weil sie so teuer sind. Für einen Schimpansen kriegt man hundert Makaken, und die Versuche, die man macht, sind gleich nutzlos. So hält man sich an die Makaken. In Österreich und Holland darf man an Menschenaffen nicht mehr forschen. Wenn bei uns beispielsweise eine Pandemie oder eine Epidemie aufträte, wo es erforderlich scheint, an Tieren zu forschen, die uns praktisch identisch sind, dürfte der Schimpanse herangezogen werden.

SB: Zumindest in Bremen und in Tübingen wird um Tierversuche mit Affen gestritten. Bist du in diesem Zusammenhang irgendwie aktiv?

CG: Ja, aktiv insofern, als ich bei Demos mitmarschiere oder Petitionen unterschreibe, aber ansonsten bin ich auf die Großen Menschenaffen fokussiert, nicht nur die, die in Zoos leben, sondern auch jene, die in ihren Heimatländern bedroht sind.

SB: Um noch einmal eine Frage aus dem Vortrag aufzugreifen: Welche Bedeutung haben Zoos für die Kinder- und Jugendpädagogik?

CG: Zoos werden häufig von Müttern mit ihren Neugeborenen zu einem Zeitpunkt besucht, wenn die Babys allenfalls etwas Atmosphärisches mitkriegen, aber rein kognitiv nichts wahrnehmen können. Sie liegen schlafend, mit Schnuller im Mund, im Kinderwagen, das Sonnendeck rüber, und sehen nichts. Wir haben eine ganze Menge Mütter dazu befragt, warum sie mit ihren Kindern den Zoo besuchen, wenn sie offenkundig noch nichts mitkriegen können, weil sie zu klein sind. Darauf kommt die Antwort: Ja, weil ich in Erinnerung habe, daß ich mit meinen eigenen Mama schon da war, und das war auch toll. Das ist die Begründung. Eine andere kann es auch gar nicht geben.

Es ist ein wesentlicher Bestandteil deutscher Säuglings- oder Kleinkindpädagogik, mit dem Kind so früh wie möglich in den Zoo zu gehen, um ihm eingesperrte, zur Schau gestellte Tiere vorzuführen. Kleine Kinder werden frühestmöglich auf Religion und auf Umgang mit Tieren konditioniert. Wo kann man besser zeigen, daß Tiere dazu da sind, den Menschen zur Belustigung zu dienen, zur Unterdrückung, Ausbeutung, Nahrung, zum Gewinn von Kleidung und Arbeitskraft, als in einem Zoo, wo die Tiere per se eingesperrt sein müssen, weil sie sonst entweder entkommen oder zur Gefahr zu werden? Der Zoo stellt das Tier dar als ein Wesen, das hinter Panzerglasscheiben, Elektrozäune, Eisengitter gehört.

Und so setzt sich dies von Generation zu Generation fort, daß wir zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt religiös und mit Blick auf den Umgang mit den Tieren konditioniert werden. Das wird man ein Lebenlang nicht mehr los. Religion wird man kaum los, und den Blick auf Tiere wird man kaum los. Man wird früh, noch bevor die erste kognitive Reflexionsfähigkeit eingesetzt hat, darauf geeicht.

Die per se tierfeindliche Position, die die Zoos vertreten, kann man nirgendwo sonst besser studieren als auf der Speisekarte eines Zoorestaurants. Man kann all die Tiere, die man draußen hinter Eisengittern betrachtet hat, im Zoorestaurant auf dem Teller konsumieren. Tiere sind dazu da, vom Menschen ausgenutzt zu werden, das kann man nirgendwo besser lernen als in der frühkindlichen Konditionierungseinrichtung Zoo. Nicht zuletzt sind die Kinderspielplätze im Zoo durchweg größer als das größte Außengehege für Wildtiere. Das Wichtigste im Zoo ist die Kinderbelustigung, daß sie in den Zoo gehen und gerne wiederkommen, weil der Zoo so etwas Tolles ist. Da geht man hin, weil irgendein Festtag ist wie jetzt Halloween, wo man sich verkleiden kann, Kindergeburtstage werden dort gefeiert. Der Zoo ist im Bewußtsein der Kinder etwas Tolles, man kriegt im Sommer Eis und Pommes Frites, Zoo ist etwas Tolles, das bleibt festgefügt im Bewußtsein, in den Gehirnen der Kinder, und das bedeutet, Tiere einsperren und ausnutzen ist richtig. Auf Kinderspeisekarten gibt es prinzipiell Leberkäse, Bratwürste, Wiener Würste, Wiener Schnitzel, sonst nichts. Und in vielen Zoos gibt es nicht nur Schweineschnitzel oder Rindsbratwurst, es gibt tatsächlich exotische Wildtiere auf der Speisekarte.

SB: Von Behindertenverbänden wird der Vorwurf erhoben, daß Vergleiche zwischen Menschen und Menschenaffen ihren Schutz aushöhlen könnten. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Name Peter Singer. Was hältst du diesem Vorwurf entgegen?

CG: Da gibt es auf verschiedenen Ebenen etwas zu sagen. Zum einen verliert ein behinderter Mensch nichts an Rechten, wenn außer seinem Bezugssystem noch andere, die rechtlich diskriminiert werden, in diese Schutzgemeinschaft der Gleichen einbezogen werden. Ein Behinderter hat ja keinen Nachteil, wenn einem Gorilla das Recht auf Unverletztbarkeit von Leib und Leben zugesprochen wird. Zum anderen ist es so, daß Behindertenverbände wie Caritas oder Innere Mission vielfach, wenn man so will, christlich unterwandert oder dominiert sind. Eines der großen Problemfelder, das wir in unserem Einsatz für die Grundrechte der Menschenaffen sehen, ist der Widerstand der Kirchen gegen dieses Projekt.

Die zentrale Argumentation, mit der im übrigen die katholische Kirche in Spanien die Zuerkennung dieser Rechte an Große Menschenaffen 1996/97 verhindert hat und die quasi von sämtlichen Kanzeln Spaniens heruntergepredigt wurde, lautete: Wenn wir den Großen Menschenaffen bestimmte Rechte der Menschen zuerkennen und sie so auf bestimmter Ebene gleichstellen würden, dann könnte dies - unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat -, im Umkehrschluß bedeuten, daß Gott möglicherweise das Gesicht eines Gorillas oder Orang Utans haben müßte. Nach dem simplen Dreisatz müßte Gott dann auch Gorilla oder Orang Utan sein. Dagegen hätte ich gar nichts, aber die empfinden das als Blasphemie. Was sollte man dagegen haben, daß es ein höheres Wesen gäbe, das das wundervoll sanfte Gesicht oder die Sanftheit einer Gorilla- oder Schimpansenmutter hätte? Es gibt ja nichts Mütterlicheres als eine Schimpansenmutter.

SB: Neben der klerikalen Kritik gibt es natürlich auch eine linke Kritik insbesondere an Peter Singer, die sich vor allem gegen das Propagieren eines utilitaristischen Ethos wendet. Wie stehst du dazu?

CG: Ich kenne Peter Singer ziemlich gut, schon bedingt dadurch, daß er Mitbegründer des Great Ape Project war. Ich halte ihn für einen, wenn nicht gar den am meisten mißverstandenen Philosophen der Jetztzeit, und zwar vielfach auch innerhalb der Linken vorsätzlich mißverstanden, weil die Linke auch historisch gesehen immer auf der Suche nach Feindbildern war, an denen man sich abarbeiten kann. Was Peter Singer mit Blick auf Behinderte gerade vor dem Hintergrund des Utilitarismus vorgeworfen wird, ist einfach Blödsinn. Singer als Behindertenfeind oder Säuglingsmörder zu diffamieren, ist nicht nur philosophisch unredlich, weil es auf Nichtkenntnis seiner Schriften beruht, sondern ganz einfach Quatsch.

Um ein Beispiel zu nennen: Es wird immer behauptet, er trete dafür ein, behinderte Säuglinge, sobald sie entbunden sind, innerhalb von vier Wochen legal töten zu dürfen. Erstens kann er so etwas gar nicht fordern, weil er Philosoph ist, und ein Philosoph wirft Fragen auf und gibt vielleicht die eine oder andere Antwort als Bioethiker darauf. Was er sagt, ist etwas ganz anderes. Er fragt, was den Geburtszeitpunkt selbst so determinant macht, daß bis zu diesem Zeitpunkt ein Fötus straffrei abgetrieben werden darf, aber sobald er aus dem Geburtskanal heraus ist, extrauterin, alles Mord ist, was man macht mit ihm, auch wenn sich möglicherweise ein Schaden herausstellt, der erst durch den Geburtsprozeß entstanden ist, den man also vorher gar nicht abschätzen konnte. Er redet ja nur und ausschließlich von schwerst und allerschwerst behinderten Säuglingen, also Spina Bifida - offener Rückenkanal - oder Anenzephalie - Kinder, die ohne Frontalhirn geboren werden. Dadurch, daß sie neugeboren sind, können sie auch nicht mit Analgetika behandelt werden, man kann ihnen kein Morphin verabreichen, man weiß also, sie werden über kurz oder lang ohnehin sterben, weil sie möglicherweise keinen Saugreflex haben.

SB: Hier geht es natürlich auch um das feministische Argument des Kampfes gegen das Abtreibungsverbot, das ja wieder verstärkt durchgesetzt werden soll. Hier ist die Grenze zwischen einer unter bestimmten Indikationen möglichen Spätabtreibung im Körper der Frau, wo ein Fötus noch getötet werden darf, und dem Tötungsverbot nach der Geburt relevant.

CG: Singer tritt überhaupt nicht dafür ein, daß in der normalen Indikationszeit allein aufgrund der Entscheidung der Mutter nicht abgetrieben werden darf. Es kann anschließend sein, daß eine Gefährdung oder irgendeine Krankheit auftritt, aus der man intrauterin, also pränatal herauslesen kann, daß dieses Kind nicht alleine überlebensfähig sein wird, allenfalls ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate, daß es unter konstanten Schmerzen leiden wird, weil die Schmerzfunktion im Stammhirn ja gegeben ist. Da es ohnehin sterben wird, ist die Frage zu stellen, warum nach der Geburt so ein Riesenbohei gemacht wird, während es vor der Geburt, selbst ein paar Stunden vorher, noch legal wäre? Bis dahin kann die Mutter sagen, nein, das will ich nicht oder kann ich nicht; wenn sie selbst gefährdet ist, gilt das sowieso.

Singer überlegt ja nur, was seine Aufgabe als Philosoph ist, ob es nicht vernünftig wäre, das bis vier Wochen nach der Geburt auszudehnen, so daß die Mutter eines schwerstbehinderten Kindes, ohne daß sie in irgendwelche juristischen Mühlen hineingerät, selbst darüber entscheiden kann. Das natürlich in Absprache mit unabhängigen Ärzten, die in der Pränataldiagnostik nicht dabei waren, die auch nicht die Organe des getöteten Kindes ausschlachten, sondern einer unabhängigen Ethikkommission, die darüber entscheidet, ob ein Kind, das aller unserer Kenntnis nach nichts als Höllenschmerzen erleiden wird, vier Wochen nach der Geburt oder in einem bestimmten Zeitrahmen noch getötet werden kann. Nur das fragt er. Und das halte ich für sehr vernünftig.

SB: Hier auf der Linken Literaturmesse bist du unter etwa 60 Buchpräsentationen und Veranstaltungen der einzige, der etwas zum Mensch-Tier-Verhältnis zu sagen hat. Während es eine Tierbefreiungsbewegung gibt, die in der radikalökologischen, meist anarchistisch orientierten Linken relativ stark vertreten ist, wird das Thema in der marxistischen Linken nur wenig reflektiert. Wie kommt das deiner Ansicht nach?

CG: Das ist die Frage, die ich auch sehr gern beantwortet hätte. Vielleicht sagst du es mir, ich weiß es nicht. Ich habe so ein bißchen den Verdacht, daß das mit einer frühkindlichen Konditionierung zu tun haben könnte, die man so schwer los wird, ähnlich schwer wie eine religiöse Prägung. Viele Linke haben genug Probleme damit, ihre linken Konditionierungen einigermaßen zu reflektieren und loszuwerden, und die haben einfach noch nicht angefangen, dieses Verhältnis zum Tier zu reflektieren. Vielleicht hängt es auch mit dem Mythos zusammen, daß Tierschutz immer auch mit einem christlich-karikativen Gedanken einhergeht. Tierschutzvereine sind in der Mitte des 19. Jahrhunderts in erster Linie aus dem Klerus heraus gegründet worden, da haben die Linken keine Rolle gespielt. Es hat ja auch Marx nichts dazu gesagt, also ist es kein Thema für uns.

Vielleicht liegt es auch ganz banal und simpel nur daran, daß, wenn man sich mit tierrechtlichen und tierethischen Fragen befassen wollte, man sich über kurz oder lang - vermutlich kurz - auch mit den eigenen Ernährungsgewohnheiten befassen müßte. Und das bedeutet, daß man den Weg zum Veganismus gehen müßte, und das machen verdammt wenige. Es ist das Schwierigste, ganz persönlich etwas für sich zu verändern. Man kann Tage, Wochen, Monate und jahrelang irgendwo in Hinterzimmern sitzen und irgendwelche politischen Theorien debattieren, solange es nicht wirklich ans Allereingemachteste, sprich das eigene Essen geht. Was wir für gut halten, was uns schmeckt, worauf wir scharf sind, worauf wir Gelüste haben, worauf wir Appetit haben, ist so tief geprägt, daß der Veganismus wie ein Schreckgespenst erscheint: Huch, ich kann keine Currywurst mehr essen, das ist für viele so schlimm, daß sie sich von dem ganzen Thema fernhalten. Das wäre einer meiner Verdachtspunkte, aber der ist überhaupt nicht empirisch unterfüttert.

CG: Colin, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0062.html


Berichte und Interviews zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/059: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (1) (SB)
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6. Dezember 2016


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