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INTERVIEW/088: 21. Linke Literaturmesse - Kontrolle ist schlechter ...    Simon Schaupp im Gespräch (SB)


Selftracking, Selbstoptimierung, Rationalisierung ...

Interview am 5. November 2016 in Nürnberg


Der Soziologe Simon Schaupp setzt sich in seinem Buch Digitale Selbstüberwachung - Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus mit den sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen der rasant um sich greifenden Verwendung von Fitneß-Apps und anderen informationstechnischen Anwendungen zur Vermessung der eigenen Physis und Evaluation der individuellen Lebensführung auseinander. Es ist im Verlag Graswurzelredaktion erschienen, in dem der Autor als Redakteur der gleichnamigen anarchistischen Monatszeitschrift aktiv ist. Auf der Linken Literaturmesse, auf der er das Buch vorstellte, beantwortete Simon Schaupp dem Schattenblick einige ergänzende Fragen zu seinem Vortrag.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Simon Schaupp
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Simon, wie bist du auf das Thema deines Buches gekommen?

Simon Schaupp (SSP): Schon seit einigen Jahren beschäftige ich mich mit Selftracking. Das Ausgangsereignis war ziemlich witzig. Ich hatte mich damals mit Arbeitskritik beschäftigt, als ich skurrilerweise in einem Buch über das Lob des Müßiggangs auf diese Technologie stieß. Darin wurde die Zeitmanagement-App Time Doctor empfohlen mit dem Argument, daß man die eigene Arbeit viel effizienter gestalten kann, wenn man sie benutzt, und dadurch mehr Zeit für Müßiggang gewinnt. Das kam mir ziemlich abwegig vor und erinnerte mich ein bißchen an die Grauen Herren bei Momo. Ich entschied, mir das einmal genauer anzuschauen, und bin darüber immer tiefer in die Materie eingedrungen. Weil viele dieser Technologien ziemlich abstrus klingen, habe ich mich sehr dezidiert damit auseinandergesetzt und schließlich meine Masterarbeit in Soziologie darüber geschrieben. Daraus ist jetzt dieses Buch entstanden.

SB: Du hast in deinem Vortrag auf die Kybernetik als Vorläufer der heutigen Technologien abgehoben. Inwieweit spielt in diesem Zusammenhang die Systemtheorie nach Niklas Luhmann eine Rolle hinsichtlich der ideologischen Seite des Ganzen?

SSP: Luhmann war sehr steuerungskritisch, auch wenn er seine Theorie als Weiterentwicklung der Kybernetik konzipiert hat. Jedenfalls hat er den Kybernetikern bei der Entwicklung seiner Theorie sehr viel zu verdanken, auch wenn er dies nicht wirklich transparent gemacht hat, aber tatsächlich basiert sie darauf. Aber Luhmann hat selber kein richtiges Konzept von Steuerung, weder im Sinne von revolutionärer, umstürzender Gesellschaftssteuerung noch im Sinne von Herrschaft. Er ist, wie ich glaube, einfach skeptisch und hält Steuerung eigentlich nicht für möglich. Interessant hinsichtlich der Ideologie ist, daß der Systembegriff strukturell Interessenswidersprüche verschleiert.

Das heißt, egal, in welcher Form das System verfaßt ist, ob als Gruppe von Menschen, als Staat oder auch als die ganze Welt, es wird immer als eine Art Organismus gefaßt, der einer einheitlichen Kodierung folgt, die meistens danach fragt: Hilft das der Weiterexistenz des Systems oder nicht? Dieser Ansatz läßt jedoch keinen Platz zu, um überhaupt zu erkennen, daß es innerhalb dieser analysierten Einheit immer Interessenswidersprüche gibt. Also daß es gerade im kapitalistischen System immer so ist, daß die Vorteile der einen Partei die Nachteile der anderen sind und es deswegen nie eine sozusagen korrekte Lösung für irgendwelche Probleme geben kann. In eine sozialwissenschaftliche Betrachtung übertragen bedeutet dies, daß ganz viel Herrschaft verschleiert werden kann.

SB: In den Sozial- und Geisteswissenschaften wird seit längerem ein poststrukturalistischer Diskurs geführt, der auf die Verobjektivierung von Verläufen und Prozessen abhebt, die mehr oder minder aus sich selbst heraus funktionieren sollen. Siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg dieser Art von Theoriebildung und dem gesellschaftlichen Umstand, daß der Mensch immer stärker aus seiner Selbstbestimmung herausgedrängt wird?

SSP: Ich würde die Selftracking-Technologien nicht so sehr mit dem Poststrukturalismus verbinden als vielmehr in dem Foucaultschen Begriff der Technologie des Selbst Analysepotentiale sehen. Foucault sagt, daß wir nicht schon immer so existieren, wie wir sind, sondern daß wir uns zu dem machen, was wir sind in Bezug zu Macht. Das heißt, wir werden als Subjekte durch gesellschaftliche Machtverhältnisse geformt. Das ist gerade für die Autonomiediskussion sehr nützlich. Nach Foucault lautet die Frage nicht, ob das eigene Handeln freiwillig geschieht oder nicht, sondern welchen Diskursen es folgt, und diese Diskurse schreiben sich notwendigerweise immer in die Subjekte ein und werden dann gewissermaßen, wenn die Diskurse erfolgreich sind, zu deren eigener Rationalität.

Ich würde aber schon einwenden, daß eine poststrukturalistische Analyse an ihre Grenzen stößt und keine Ansatzpunkte mehr für eine Kritik übrigläßt. Ich kann zwar hervorragend dekonstruieren und Subjektkritik betreiben, mir auch überlegen, inwiefern ich selbst vom Neoliberalismus geprägt bin - das läßt sich mit Foucault alles gut machen. Doch im Gegensatz zu einer materialistischen Herangehensweise gibt es eigentlich keine vernunftmäßigen Kriterien mehr, warum ich etwas kritisieren sollte, weil alles gleichermaßen konstruiert ist und irgendwie mit Macht zu tun hat. Gerade dieser Punkt ist immer das Schlußargument.

SB: Welche Quintessenz hast du selber aus deinem Buch im gesellschaftskritischen Sinne gezogen?

SSP: Mein Argument in dem Buch lautet, daß man für eine kritische Perspektive auf Selftracking nicht sagen kann, das seien alles Idioten, die irgendwie narzistischen Obsessionen erliegen und sich deswegen vermessen. Vielmehr unterstelle ich den Leuten erst einmal, daß sie auf gewisse Weise vernünftig handeln, obwohl mir die Selbstvermessung persönlich fremd ist. Dennoch versuche ich dies zu analysieren als Reaktion auf gesellschaftliche Umstände, vor allem auf die Aufforderung, daß man sich selbst permanent optimieren soll. Dabei gehe ich davon aus, daß ich nicht nur am Fließband sitze oder stehe und repetitiv immer denselben Arbeitsschritt wiederhole, so daß es völlig egal ist, wie ich aussehe, sondern daß viele Unternehmen vor allem im Zuge der zunehmenden Bedeutung von Dienstleistungsarbeit fordern, daß die Arbeiter das Unternehmen verkörpern. Das heißt, ich muß sexy sein, gut aussehen, schlank sein, aber selbst wenn ich das bin, ist das nie ein befriedigender Zustand, sondern ich muß mich immer weiter optimieren, so wie sich im Kapitalismus ein Unternehmen immer optimieren muß, auch wenn es viel Profit abwirft. Strukturell ist es nie möglich zu sagen, jetzt reicht es, jetzt bin ich okay, denn genau wie ein Unternehmen muß ich mich immer weiter optimieren und so in mein Unternehmen investieren. In diesem Sinne kann Selftracking als eine Art Buchhaltung für das Unternehmen des Selbst verstanden werden, um eine rationale Investition in das eigene Selbst überhaupt erst möglich zu machen.

SB: Buchhaltung betrifft auch die Blockchain-Technologie, die nicht nur für die elektronische Währung Bitcoin verwendet wird, sondern auch bei der Organisation anderer gesellschaftlicher Bereiche Einzug hält. In Großbritannien zum Beispiel wird von einer Regierungsbehörde untersucht, wie man Blockchain für die Vergabe von Sozialhilfe einsetzen kann. Worauf könnte das deiner Ansicht nach hinauslaufen?

SSP: Das ist natürlich Soziokybernetik par excellence. Dabei handelt es sich genau um jene kybernetischen Steuerungsideen von technikgestützter Selbstorganisation, die die klassischen Kybernetiker auch hatten. Selbstorganisation nicht im Sinne sozialer Organisation, wie es die Anarchisten verstehen würden, sondern Selbstorganisation in dem Sinne, daß das zu steuernde System sich selbst im Sinne der vorgegebenen Steuerungsziele reguliert. Bei sich selbst organisierenden elektronischen Institutionen wie auch der entsprechenden Anwendung von Blockchain-Technologien geht es darum, daß selbstlernende Algorithmen aufgrund sehr großer Datenmengen eigenständig Entscheidungen treffen. Deswegen wird die menschliche Reflexivität durch automatische oder Computer-Reflexivität ersetzt, und genau in dieser Überwindung der menschlichen Kognition wird der Effizienzfortschritt gesehen. Es wird davon ausgegangen, daß Menschen immer eine subjektiv verzerrte Wahrnehmung haben und gar nicht so viele Daten verarbeiten können. Deswegen braucht es Maschinen nach dem Blackbox-Modell, die unendlich viele Daten verarbeiten und uns dann am Ende die korrekten Ergebnisse liefern können.

SB: In deinem Vortrag hast du den Begriff der Homöostase als eines dynamischen Gleichgewichts aufgegriffen. Autopoesis steht ebenfalls für die Selbstregulation biologischer Systeme, wie von Maturana und Varela postuliert. Kannst du dir vorstellen, daß es über diese Schiene zu einer Art Biologisierung kommt, die eigentlich eine Domäne der Rechten ist, und daß demzufolge versucht wird, den Menschen auf einen Begriff von Natur zu bringen, der ihn möglicherweise seiner grundsätzlichen Freiheit beraubt?

SSP: Ich tue mich ein bißchen schwer damit, dies sogleich in eine rechte oder Herrschaftsecke stellen zu wollen, und würde gerade in bezug auf die Kybernetik eher die Ambivalenz stark hervorheben. So hatten die klassischen Kybernetiker durchaus fortschrittliche Utopien im Sinn, als sie ihre Theorie entwickelten. Ihre Idee war dezidiert, auch selbstorganisierte Gesellschaften zu ermöglichen, in denen eben nicht eine hierarchische Gesellschaftsordnung herrscht, wo mir von oben gesagt wird, was ich machen soll, sondern sich die Gesellschaft sozusagen dezentral in kleineren Einheiten organisieren ließe. Ich glaube, in diesem Sinne können digitale Technologien auch fortschrittlich wirken.

Das Internet ist das klassische Paradebeispiel dafür. Ich arbeite in einer anarchistischen Zeitung mit. Bevor wir unsere Kommunikation auf E-Mail umgestellt haben, lief alles über persönliche Kontakte. In der Hauptsache haben dann diejenigen, die nahe beisammen gewohnt und zur In-Group gehört haben, die Entscheidungen getroffen. Durch die dezentrale Infrastruktur des Internets ist es möglich geworden, daß wir auch eine große Gruppe von räumlich sehr weit verteilten Personen einbeziehen können und es im Sinne der sozialen Selbstorganisation auch selbstorganisierte Arbeit geben kann. Da würde ich nicht sagen, daß dies per se zu einer Unterjochung der Menschheit oder zu Unfreiheit führen muß, sondern daß es politisch kontingent, das heißt, abhängig ist von den politischen Rahmenbedingungen, in denen das entwickelt und eingesetzt wird.

SB: Auch in der Linken wird kritisiert, daß sich das demokratisch begonnene Projekt des Internets zu einem Kontrollinstrument entwickelt hat. Hältst du eine widerständige Perspektive dagegen für notwendig?

SSP: Datenschutz ist nicht mein zentrales Thema, aber ich würde sagen, daß da eine Art Kräfteverhältniskampf stattfindet. Internetpolitik ist ein Kampffeld, wo wir uns fragen müssen, ob wir uns damit abfinden wollen, daß unsere Daten zentral in den Servern irgendwelcher Unternehmen oder Geheimdienste gespeichert werden oder nicht. Mein Argument wäre, daß das Internet nicht notwendigerweise so angelegt ist, daß so etwas passieren muß. Es gibt eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Dezentralisierung und Zentralisierung. Ich habe ein Netzwerk, das total dezentralisiert funktionieren kann, aber im Endeffekt führen viele der Verbindungslinien zu zentralen Knoten, auf die wiederum nur sehr wenige Zugriff haben.

Das ist nicht nur im Internet im allgemeinen so, sondern auch in der Industrie-4.0-Diskussion geht es häufig darum, mittels digitaler Technologien Arbeitsprozesse zu dezentralisieren, aber gleichzeitig werden alle Daten, die erhoben werden, auf den zentralen Firmenservern gespeichert, auf die nur die Manager Zugriff haben. Das liegt aber nicht notwendigerweise an den Technologien, denn man könnte alle Daten in dezentralen Subeinheiten speichern, wo ich die generierten Daten auch einsehen kann. Das wäre dann eine ganz andere Sache.

SB: Bei der Industrie-4.0-Debatte lautet die Prognose, daß neun von zehn Arbeitsstellen in der Verwaltung in absehbarer Zeit verschwinden werden, weil die KI irgendwann so entwickelt ist, daß es dort kaum noch menschlicher Arbeit bedarf. Kann sich daraus in der gesellschaftlichen Perspektive etwas Befreiendes und Emanzipatorisches entwickeln oder wird es in eine barbarisierende Richtung gehen?

SSP: Tatsächlich ist Industrie 4.0 nach dem Selftracking das Thema, mit dem ich mich jetzt intensiver beschäftigen möchte, weil mit den neuen digitalen Technologien, mit Big Data Analytics und so weiter, auch nicht standardisierte Arbeit automatisiert werden kann, also insbesondere Managemententscheidungen. Interessant an der Debatte ist, daß viele Leute, die sonst wenig politisches Bewußtsein haben, jetzt sagen, ja, das ist einerseits toll, dann haben wir alle weniger Arbeit, aber andererseits brauchen wir im Kapitalismus halt Arbeit. So stellen viele die Frage: Wäre ein Bedingungsloses Grundeinkommen nicht ein Ausweg aus alledem? Das drängt sich vielen automatisch auf.

Natürlich wird sich das aus der Technologie selber heraus nicht ergeben, weil sie die politische Revolution nicht für uns machen wird. Dennoch ist es wichtig, den Versprechungen von einer arbeitsfreien Gesellschaft nicht einfach auf den Leim zu gehen, weil das im Endeffekt keine technologische, sondern eine politische Frage ist. Es kann sein, daß es zum völligen Auseinanderdriften der Gesellschaft in eine kleine Elite mit viel Kohle einerseits und einem Rest mit massiver Arbeitslosigkeit andererseits führt. Oder aber es führt in einen vollautomatisierten Luxuskommunismus. Wie auch immer, letztlich wird es eine Frage von politischen Kämpfen und nicht einfach von technologischer Entwicklung sein.

SB: Simon, vielen Dank für das Gespräch.


Simon Schaupp mit Buch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Beim Vortrag auf der Linken Literaturmesse
Foto: © 2016 by Schattenblick


Berichte und Interviews zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
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27. Dezember 2016


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