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INTERVIEW/091: Linke Buchtage Berlin - es antwortet die Straße ...    Andreas Blechschmidt im Gespräch (SB)


Gespräch am 1. Juni 2018 in Berlin


Als gelte es, ein Stück absurden Theaters in Szene zu setzen, trommelte die CDU-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft dieser Tage für eine spektakuläre Sitzung des Sonderausschusses zu G20. Wie es in einer Mitteilung hieß, habe man für die Sitzung am 20. Juni den Antrag gestellt, die Sprecher der Roten Flora, Andreas Blechschmidt und Andreas Beuth, als Auskunftspersonen zu laden. "Die Köpfe der Roten Flora sollen zu ihrer Verantwortung für die Gewalteskalation beim G20-Gipfel befragt werden", so der innenpolitische Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion, Dennis Gladiator. "Die Extremisten aus der Roten Flora stehen für die gewalttätigen Ausschreitungen beim G20-Gipfel in der Verantwortung. Sie waren es, die die "Welcome to Hell"-Demo angemeldet und nach eigenen Aussagen einen der größten schwarzen Blöcke aller Zeiten in Hamburg organisiert haben." Sollten die beiden nicht erscheinen, wäre dies ebenfalls ein klares Statement, fügte Gladiator hinzu. Die Beteuerungen der rot-grünen Koalition, es gebe gute Gespräche mit den Flora-Aktivisten, wären dann nur ein Feigenblatt für die jahrelange Verharmlosung des Linksextremismus.

Daß in der Tat keiner von beiden zur Sitzung erschien, lag jedoch nicht daran, daß Auskunftspersonen grundsätzlich nicht verpflichtet sind, einer Einladung des Ausschusses zu folgen. Wie sich vielmehr herausstellte, waren sie gar nicht offiziell eingeladen worden. Die Bürgerschaftskanzlei teilte auf Anfrage mit, daß die CDU-Fraktion keine zustellfähige Adresse genannt habe, weshalb im Fall Blechschmidts keine Einladung rausgeschickt worden sei. Bei der Adresse von Beuth soll es sich zudem um "keine aktuelle" handeln, so die Sprecherin der Kanzlei. Beuth hält sich nach Informationen des Hamburger Abendblatts gerade im Ausland auf, und Blechschmidt hat eigenen Angaben zufolge erst aus der Presse von der Einladung erfahren. Und da er keine offizielle Einladung erhalten habe, werde er auch nicht kommen. [1]

Dieser fadenscheinige und offensichtlich fingierte Versuch, den G20-Protest mittels einer personifizierten Bezichtigung zu diskreditieren, reiht sich ein in eine lange Kette systematisch betriebener Kriminalisierung und Desinformation ohne Rücksicht auf längst erfolgte Klarstellungen [2]. Wie es scheint, mußte die CDU-Fraktion eine fundierte argumentative Auseinandersetzung mit Beuth und Blechschmidt im Sonderausschuß derart fürchten, daß ihr durchsichtiges Täuschungsmanöver darauf angelegt war, die beiden abermals anzuprangern, jedoch ihr tatsächliches Erscheinen de facto auszuschließen.

Andreas Blechschmidt hat Neue Deutsche Literatur, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Sozialpsychologie an der Universität Hamburg studiert. Er war daneben als examinierter Altenpfleger tätig und kann auf ein langjähriges Engagement als Betriebsrat bzw. Betriebsratsvorsitzender zurückblicken. Seit 1989 ist er im besetzten autonomen Zentrum Rote Flora in Hamburg aktiv und schreibt als freier Autor regelmäßig in der Berliner Wochenzeitung jungle world. Blechschmidt publiziert unter anderem zu Gentrifizierung und Stadtentwicklung und zu rechtspolitischen Themen im Infobrief des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins RAV.

Im Rahmen der Linken Buchtage, die vom 1. bis 3. Juni 2018 im Mehringhof in Berlin Kreuzberg stattfanden, nahm er an der Podiumsdiskussion "Die Ruinen von Hamburg - Über die Linke nach G20" [3] teil. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Schattenblick (SB): Die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke hat zu G20 das geflügelte Wort von der "Aufstandsbekämpfung ohne Aufstand" geprägt. Ist die repressive Staatsgewalt in der Umsetzung ihres strategischen Entwurfs einen großen Schritt voraus?

Andreas Blechschmidt (AB): Das kann ich so nicht bestätigen. Ich glaube vielmehr, daß hier gesamtgesellschaftlich immer die Sorge der Herrschenden, der politisch Verantwortlichen, am Werk ist, wenn sich Protest artikuliert und es eine politische emanzipatorische Bewegung gibt, die gegen die herrschende Politik mehrheitsfähig mobilisieren kann. Meines Erachtens führt dieser Argwohn stets dazu, daß Polizei, Geheimdienste, Sicherheitsbehörden mit dem klaren Fokus eines linken Feindbildes agieren, und in dieser Not macht es dann auch Sinn, selbst ohne einen großen Aufstand den Aufstand zu bekämpfen, weil sich damit die Logik eines präventiven Sicherheitstaats verwirklicht, die mit der Herrschaft des Verdachtes versucht, allem, was politisch links, vielleicht auch radikal links steht, den Schneid abzukaufen und die politische Artikulationsfähigkeit zu nehmen.

SB: Der G20-Gipfel war in Umsetzung polizeistaatlicher Maßnahmen Stein in einem größerem Mosaik praktizierten Ausnahmezustands. Wohin führt diese Aufrüstung und exekutive Ermächtigung der Polizeien deines Erachtens perspektivisch?

AB: Solche Prognosen sind insofern problematisch, als die politische Wahrnehmung allzu häufig zu dem Schluß kommt, daß die Verhältnisse immer schlimmer werden, die polizeiliche Eskalation unaufhaltsam voranschreitet und die Gesetzesbefugnisse ins Uferlose ausgeweitet werden. Diese Sichtweise muß man, wie ich finde, ein bißchen relativieren. Wenn man eine politische Vorstellung dessen hat, was während des deutschen Herbstes 1977 und 1978 hier in Westdeutschland an Polizeistaatsfahndung inszeniert worden ist, dann hatte das noch einmal eine ganz andere Dimension und Tragweite als die heutige Kriminalisierung. Deswegen bin ich kein Freund einer politischen Analyse, derzufolge es immer schlimmer wird. Wenn wir uns vor Augen führen, daß es Schußwaffeneinsatz der Polizei bei der Schah-Demonstration in Berlin gegeben hat, wo Benno Ohnesorg ums Leben gekommen ist, war das eine eskalierte postfaschistische Polizei, bei der ehemalige NS-Täter im Polizeiapparat an berufener Stelle gesessen haben. Insofern, finde ich, sollte man die politische Haltung, das alles immer schlimmer wird, etwas zurücknehmen.

Ja, es ist schlimm, die polizeilichen Befugnisse, wie sie jetzt im neuen Sicherheitsgesetz in Bayern festgeklopft werden sollen, schneiden zweifellos politische Spielräume. Das ist natürlich problematisch, aber man sollte doch stets auch genügend Selbstbewußtsein an den Tag legen zu sagen, darauf muß man politisch antworten und das als Teil des politischen Kampfes begreifen. Ich fand sehr beeindruckend, daß in München vor zwei Wochen über 30.000 Menschen gegen das neue Polizeiaufgabengesetz demonstriert haben, und denke, daß das für ein Bundesland wie Bayern ein durchaus ernstzunehmendes Statement ist. Insofern würde ich nicht nur sagen, daß polizeiliche Repression politisch zu demobilisieren droht, sondern daß es zugleich Teil des politischen Kampfes ist, sich damit auseinanderzusetzen und immer wieder Spielräume der Gegenseite zurückzudrängen.

SB: Sowohl bei G20 als auch jetzt in München brachten sehr viele Menschen ihren Protest auf der Straße zum Ausdruck, die bislang nicht in der klassischen oder radikalen Linken aktiv waren. Besteht Anlaß zur Hoffnung, daß darüber eine Politisierung stattfinden könnte, die wieder breitere Kreise der Bevölkerung einbezieht?

AB: Ich möchte diese Frage im Kontext des G20-Gipfels für Hamburg beantworten. Ich glaube schon, daß es in der Stadtöffentlichkeit eine Politisierung gegeben hat und durchaus politische Effekte geben wird, so daß sich in Zukunft mehr und vor allem jüngere Menschen engagieren. Denn es war schon eine harte Zumutung, was die Polizei in aller Offenheit vorgelegt hat, und das hatte auch damit zu tun, daß sehr viele junge Menschen zu den Protesten gekommen sind. Bei der "Welcome to Hell"-Demo am Donnerstagabend waren über 12.000 Menschen auf dem Hamburger Fischmarkt bei der Auftaktkundgebung versammelt, darunter auch sehr viele jüngere Leute, die meiner Einschätzung nach sicherlich das erste Mal auf einer autonomen linksradikalen Demonstration gewesen sind. Insofern gehe ich davon aus, daß das durchaus für eine Politisierung gesorgt hat.

SB: Ich habe in der Nachbereitung der Gipfelproteste auf einer Veranstaltung von jungen AktivistInnen gehört, die zum ersten Mal bei so einem Kaliber dabei waren, daß sie dieses emotionale Erlebnis weit nach vorne gebracht hat. Zeugt ihre Vorgehensweise, sich gemeinsam auf Aktionen vorzubereiten und sie solidarisch durchzuführen, von einer Qualität, die der Traditionslinken tendenziell verlorenzugehen droht?

AB: Das vermag ich nicht wirklich zu beurteilen, weil ich schon den Eindruck hatte, daß es auch in Hamburg während der G20-Proteste viel Solidarität gab - auch praktische Solidarität, Solidarität in Aktion. Auch in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli, wo es zu diesen doch sehr vehementen Auseinandersetzungen gekommen ist, achteten die Leute sehr aufeinander. AnwohnerInnen haben verletzte Demonstrierende in Hauseingängen geschützt und ihnen ihre Türen geöffnet. Diese Erfahrung gab es, und es kam schon zuvor zu einer bemerkenswerten Solidarität, als die Camps verboten wurden und daraufhin Kirchengemeinden in St. Pauli ihre Liegenschaften geöffnet haben, sich Theater politisiert und ihre Räume zur Verfügung gestellt haben, der Fußballklub St. Pauli Leuten Übernachtungsmöglichkeiten bereitgestellt hat. Es gab also viele positive Anknüpfungspunkte während dieser G20-Woche, es gab eine Verbindung zahlreicher sozialer Zentren und Treffpunkte, die ein Infonetzwerk aufgebaut haben. Das muß man rückblickend auf jeden Fall auf der positiven Seite festhalten.

SB: Die Soko Schwarzer Block arbeitet mit enormer Intensität daran, Tausende Akteure des Protests der Strafverfolgung zuzuführen. So wurden dieser Tage Fahndungen und Razzien auch im Ausland durchgeführt. Welche Mittel und Möglichkeiten gibt es deines Erachtens, mit dieser Kriminalisierung des Protests umzugehen?

AB: Ich glaube, es ist die älteste aller politischen Parolen, die man hier rausgeben muß, nämlich die der Solidarität: Die Leute nicht allein zu lassen, sie zu unterstützen, Öffentlichkeit herzustellen, denen, die von direkter Repression betroffen sind, solidarisch zur Seite zu stehen und sie auch in ihren Prozessen zu begleiten. Diese Struktur gibt es in Hamburg durch das "United we stand"-Bündnis, den Ermittlungsausschuß, die Rote Hilfe, die alle versuchen, nach besten Kräften und Möglichkeiten die Betroffenen zu unterstützen und weithin deutlich zu machen, daß niemand vergessen, niemand alleingelassen werden darf und politischer Widerstand auch bedeutet, denjenigen konkret beizustehen, die von politischer Repression betroffen sind. Insofern bin ich da guten Mutes, daß wir dem staatlichen Drang, die Proteste zu kriminalisieren, als verbrecherisch zu denunzieren, auch politisch etwas entgegensetzen können.

SB: Andreas, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] www.abendblatt.de/hamburg/article214649689/G20-Sonderausschuss-Beuth-und-Blechschmidt-kommen-nicht.html

[2] G20-Krawalle in Hamburg - Verfahren gegen Rote-Flora-Sprecher eingestellt
www.spiegel.de/panorama/justiz/hamburg-g20-krawalle-verfahren-gegen-rote-flora-sprecher-eingestellt-a-1193145.html

[3] www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0073.html


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