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INTERVIEW/127: 24. Linke Literaturmesse - altes und neues anarchisches Selbstverständnis ...    Kura und Peter im Gespräch (SB)


Die Plattform [1] ist eine anarchakommunistische Organisation, die im deutschsprachigen Raum eine Föderation aufbauen will, die den Grundsätzen des Plattformismus und Especifismo [2] verpflichtet sein soll. Auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg beantworteten Kura und Peter dem Schattenblick am Stand der Gruppe einige Fragen zu ihren aktivistischen und politischen Ideen und Prinzipien.


Kura und Peter am Stand der Plattform mit vorgehaltener Schriftreihe - Foto: © 2019 by Schattenblick

1000 Worte sagen mehr als ein Bild
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Ihr seid zum ersten Mal mit einem Stand auf der Linken Literaturmesse vertreten. Wie ist es dazu gekommen?

Kura: Wir sind eine neue anarchakommunistische Organisation, Die Plattform, die im deutschsprachigen Raum eine dritte anarchistische Föderation aufbauen will. Wir sind auf Suche nach Möglichkeiten, uns zu repräsentieren, und sind hier mit unserer Schriftenreihe Kollektive Einmischung vertreten. Wir haben gerade die dritte Ausgabe veröffentlicht und wollen hier unser Material verbreiten.

SB: Welche inhaltlichen Schwerpunkte hat die Schriftenreihe?

Peter: Es sind unterschiedliche Schwerpunkte. Im ersten Text, den wir herausgegeben haben, ging es hauptsächlich um den Zustand der anarchistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum und wie wir zu dem Schluß gelangen, daß wir eine dritte Föderation benötigen. Der zweite Text ist ein historischer Text, der sich auf die Machnowisten bezieht, ein Text aus dem Jahre 1926 von Pjotr A. Arschinow. Der dritte, zuletzt herausgebrachte Text ist die Übersetzung eines Textes einer anderen anarchistischen Föderation, der Black Rose Federation in den USA. Er wurde bereits einmal in der Gai Dao [3] veröffentlicht, aber wir wollten ihn noch einmal aktualisieren und die Übersetzung überarbeiten, weil noch viele Details herauszuholen waren. Die anarchakommunistische Schriftenreihe hat den Sinn, solche Themen und Inhalte im deutschsprachigen Raum zu verbreiten, weil das hiesige Angebot an Texten noch ausbaufähig ist.

SB: Was wäre eure Kritik an den bestehenden anarchistischen Strukturen? Warum seid ihr der Ansicht, daß ein Neubeginn erforderlich ist?

Kura: Meiner Ansicht nach gibt es eine große Beliebigkeit, eine große Unorganisiertheit. Es gibt relativ wenig Substanz, das betrifft vor allen Dingen alles jenseits der FAU. Die FAU ist als Gewerkschaftsföderation schon auf einem guten Weg und hat sich auch in den letzten Jahren stark in Richtung Gewerkschaft orientiert, aber alles andere bewegt sich schon sehr im subkulturellen Bereich und verfolgt zu wenig eine klassenkämpferische Perspektive, die darauf fokussiert und sich wirklich Gedanken darüber macht, wie wir die Menschen erreichen können. Da braucht man einfach neue Konzepte und neue Gedankengänge. Wir wollen das vor allem über soziale Bewegungen lösen, mit dem Konzept der sozialen Einmischung, indem wir mit den Menschen in Klimabewegungen, beim Frauenstreik, bei Miet- und Wohnkämpfen gezielt zusammen kämpfen. Das ist etwas, das oft vernachlässigt wird.

SB: Insbesondere in traditionellen ML-Zusammenhängen wird häufig kritisiert, daß sogenannte Identitätspolitiken wie etwa Geschlechterfragen wegführen vom klassenkämpferischen Ziel. Wie weitgehend sind die verschiedenen Unterdrückungsformen eurer Ansicht nach mit einem klassenkämpferischen Anliegen zu verbinden?

Peter: Das hängt ja alles komplett miteinander zusammen, man kann das nicht voneinander trennen. Wir verfolgen auf jeden Fall einen intersektionellen Ansatz, indem wir sagen, daß alle Unterdrückungsformen miteinander zu tun haben. Nur wenn man das von der Klassenfrage löst, würde ich sagen, kommt man wirklich in identitäre Gewässer. Aber zu behaupten, daß das Nebenfragen sind, man also erst den Kapitalismus überwinden müsse, dann erledigt sich alles andere von selbst, dann fällt das Patriarchat in sich zusammen, das ist wirklich eine Form von Steinzeitkommunismus. Da brauchen wir einfach eine aktuelle Analyse, die wirklich alle Unterdrückungsverhältnisse mit aufgreift und die Zusammenhänge erkennt und benennt.

SB: Was kann der Erfahrungsschatz der anarchistischen Bewegung eurer Ansicht nach dazu beitragen, die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, also nicht nur des Klimas, sondern ganz allgemein der Ausbeutung von Natur, zu bewältigen? Kann man im Anarchismus fündig werden, wenn es etwa um die Auseinandersetzung mit dem Thema Wachstum und ähnlichem geht?

Peter: Da findet sich auf jeden Fall etwas in den Klassikern des Anarchismus. Kropotkin zum Beispiel hat von einer bedarfsorientierten Gesellschaft geschrieben, daß wir eben nicht nur produzieren und konsumieren für Gewinne und Wachstum, sondern daß wir tatsächlich auf den Bedarf der Menschen vor Ort eingehen. Es handelt sich natürlich um eine grundlegend andere Produktionsweise, wenn wir uns nicht am Gewinn orientieren, sondern am Bedarf der Menschen.

Kura: Auf theoretischer Ebene, aber auch in den praktischen Kämpfen um diese Fragen haben AnarchistInnen immer eine Rolle gespielt, so in der Antiatombewegung oder auch aktuell beim Widerstand gegen die Braunkohleverstromung. Die Hambacher Forstbesetzung ist im Prinzip ein anarchistisches Projekt, das die große soziale Bewegung rund um den Hambacher Forst angestoßen hat. AnarchistInnen haben da eigentlich immer eine Rolle gespielt, zum Beispiel war auch der Vegetarismus in der Vergangenheit sehr verbreitet. Das ist vielleicht nur eine Konsumfrage, aber AnarchistInnen haben sich schon immer über den Umgang mit Natur Gedanken gemacht. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, da war die anarchosyndikalistische Gewerkschaft Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) auf den Zechen teilweise die stärkste Kraft. Zum 1. Mai ging es immer raus in die Natur, weg von der Arbeit, raus aus den kleinen stinkigen Miefbuden. Natur war immer Befreiung.

SB: In den USA sind radikalökologische Bewegungen häufig anarchistisch orientiert und auch mit Fragen befaßt, die das Thema Intersektionalität betreffen, also von Unterdrückungsverhältnissen unter progressiven Kräften etwa zwischen weißen und nichtweißen AktivistInnen. Seid ihr auch mit den dortigen Bewegungen befaßt?

Kura: In den USA selbst nicht, aber zum Beispiel spielen Bewegungen in Lateinamerika eine große Rolle für uns. Dort gibt es viele Organisationen, die unserem Ansatz sehr nahe stehen, die einen especifistischen, also den unserer Strömung in Lateinamerika entsprechenden plattformistischen Ansatz haben. Diese Gruppen sind stark mit Umweltkämpfen befaßt, vor allem mit den Kämpfen der Indigenen, gegen Staudammprojekte und so weiter. Das ist auf jeden Fall ein Bezugspunkt für uns. Wir haben bei uns im deutschsprachigen Raum wenig indigene Kämpfe (lacht), aber in Lateinamerika spielt das eine große Rolle. Mit den dortigen Kämpfen sind unsere GenossInnen sehr verbunden.

SB: Wo ihr indigene Bewegungen erwähnt - wie geht ihr mit gewachsenen Traditionen um, die nicht von Urbanisierung und Proletarisierung geformt wurden, aber ihre eigene Relevanz haben?

Kura: Wir haben auf jeden Fall nicht das Verständnis, daß das Industrieproletariat das einzige revolutionäre Subjekt sei. Für uns haben alle Teile der lohnabhängigen Klasse ein großes Potential. Wir wollen halt immer an ihrer Seite stehen, da, wo sich Kämpfe in unserer Klasse entfalten.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Schriftenreihe der Organisation Die Plattform - Foto: © 2019 by Schattenblick

Kollektive Einmischung
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://www.dieplattform.org/wp-content/uploads/2019/01/Text-für-Oeffentlichkeit-Januar-2019-final.pdf

[2] http://www.arachnia.ch/etomite/Joomla/media/pdf/Broschueren/especifismo.pdf

[3] https://fda-ifa.org/gaidao/


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11. November 2019


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