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INTERVIEW/136: 24. Linke Literaturmesse - Irland läßt hoffen ...    Uschi Grandel im Gespräch (SB)


Interview am 2. November 2019 in Nürnberg


Uschi Grandel, seit vielen Jahren als Unterstützerin der Friedens- und Konfliktlösungsprozesse in Irland und im Baskenland tätig, präsentierte auf der Nürnberger Literaturmesse das in englischer Sprache verfügbare Buch des Belfaster Schriftstellers Jude Collins "Martin McGuinness - The Man I Knew". [1] Der am 21. März 2017 in Derry verstorbene Martin McGuinness schloß sich mit 20 Jahren der Provisional IRA an, von 1978 bis 1982 galt er als ihr höchster militärischer Repräsentant. Später trat er als Chef-Unterhändler der Sinn Féin in Erscheinung und war maßgeblich am Friedensprozeß beteiligt. Nach dem Karfreitagsabkommen wurde er in das nordirische Parlament gewählt, von 2007 bis 2017 war er stellvertretender Erster Minister Nordirlands.

In dem vorgestellten Buch legen Menschen, die Martin McGuinness persönlich kannten, Zeugnis ab, schildern ihre persönlichen Eindrücke und Erinnerungen an einen Kämpfer und späteren Politiker der irischen Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegung. Dabei handelt es sich keineswegs ausschließlich um Stellungnahmen politischer Mitstreiter und Gefährten, sondern ebenso um Erklärungen von seiten seiner Gegner oder sonstiger Persönlichkeiten, die aus eigenem Erleben den "Menschen" Martin McGuinness beschreiben.

In ihrer Buchvorstellung und Lesung verband Uschi Grandel einzelne Passagen, die sie aus diesen Texten (auf deutsch) vorlas, mit Erläuterungen, die sich auf den historischen Kontext beziehen. Zum besseren Verständnis zeichnete sie ein Bild der irischen Befreiungsbewegung, die sich in den 1960er/1970er Jahren formierte. Wesentlich war beispielsweise die britische Internierungspolitik gegen IRA-Aktivisten, die ohne Gerichtsprozeß inhaftiert wurden, was dem außenpolitischen Image Großbritanniens ebenso abträglich war wie die Ereignisse vom 30. Januar 1972, der als "Bloody Sunday" in die Geschichte einging, nachdem britische Soldaten auf unbewaffnete demonstrierende Menschen geschossen und 13 von ihnen getötet hatten. Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete Uschi Grandel dem Schattenblick einige Fragen.


U. Grandel im Porträt - Foto: © 2019 by Schattenblick

Uschi Grandel
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Das Buch "Martin McGuinness - The Man I knew" von Jude Collins ist nur in englischer Sprache verfügbar [1] und wird nach derzeitigem Stand auch nicht auf deutsch erscheinen. Was hat dich dennoch dazu veranlaßt, es hier auf der Buchmesse vorzustellen?

Uschi Grandel (UG): Ich finde das Buch außerordentlich gut und zwar hauptsächlich wegen eines Aspektes. Auf deutsch würde es heißen "Martin McGuinness - Der Mann, den ich kannte". Jude Collins, ein Belfaster Schriftsteller, Journalist und ehemaliger Lehrer, hat dazu 28 Personen befragt. Sie sollten beschreiben, wie sie selber mit Martin McGuinness zusammengekommen sind und ihre Erlebnisse und Eindrücke schildern. Das hat natürlich jeder in seinem politischen Kontext gemacht, was dazu geführt hat, daß dieses Buch sehr viele persönliche Einsichten über den Nordirland-Konflikt enthält und keineswegs nur über Martin McGuinness, der ja das eigentliche Thema des Buchs ist. Über die Begegnungen mit ihm werden auch die entsprechenden politischen Zusammenhänge deutlich. Jude Collins hat wirklich eine ganz große Bandbreite an Menschen interviewt von einfachen IRA-Aktivisten oder -Aktivistinnen über die Sinn-Féin-Präsidenten - ehemals Gerry Adams oder aktuell Marylou McDonalds - bis hin zu ehemaligen oder jetzigen Gegnern. Damit waren alle einverstanden, weil Martin McGuinness mittlerweile eine Person der Zeitgeschichte ist.

SB: Nun könnte man sich fragen mit Blick auf den Nordirland-Konflikt bzw. die Geschichte der irischen Befreiungsbewegung, warum die Präsentation eines solchen Spektrums an einer einzelnen Person festgemacht wird. Welche Relevanz hat deiner Meinung nach Martin McGuinness, die das rechtfertigen könnte?

UG: Ich würde sagen, es ist natürlich immer ein bißchen verkehrt, Dinge an einer Person festzumachen, denn wenn man genauer hinschaut, ist es nicht eine Person, sondern eben eine Bewegung und eine Person ohne eine solche Bewegung hätte auch nicht diese Rolle einnehmen können. Aber Martin McGuinness ist von Anfang an einer der führenden Köpfe der Irisch-Republikanischen Bewegung gewesen. Und nicht nur das, sondern er hat neben dem, daß er ein führendes Mitglied in der IRA und später der Sinn Féin war, auch den Übergang zum Friedensprozeß und zu dessen Durchsetzung als stellvertretender Regierungschef führend begleitet. Somit stand er sehr viel im Mittelpunkt, was ganz interessant ist, weil er eigentlich jemand war, der diesen Fokus überhaupt nicht wollte, sondern der immer hingeschubst werden mußte. Aber er hat das, was er machte, sehr konsequent und mit viel Enthusiasmus und Energie umgesetzt und hat dabei wirklich viel erreicht. Jude Collins hat das am Anfang seines Buches so ausgedrückt, daß die irische Politik durch den Tod von Martin McGuinness im März 2017 ärmer geworden ist.

SB: Einmal angenommen, daß es auch innerhalb der irischen Befreiungsbewegung konträre Positionen bis hin zu möglicherweise heftigen Auseinandersetzungen zu zentralen Fragen gegeben hat und gibt, wie würdest du gegebenenfalls sozusagen die "innerirische" Kritik an Martin McGuinness formulieren unabhängig davon, ob du sie nun teilst oder nicht?

UG: Ja, die ist zum Teil sehr hart. Es gibt Wandmalereien, die Martin McGuinness als Verräter bezeichnen. Man muß dazu sagen, daß die Irisch-republikanische Bewegung bei ihrem Gang von der Guerilla-Organisation, also einer Befreiungsbewegung, die rein militärisch arbeitet, bis hin zu einer politischen Massenbewegung, wie sie heute eine ist, eine sehr große Strecke zurückgelegt hat. Dabei hat sie einen ganz großen Teil der Bewegung mitgenommen, aber es gab in ihrer Geschichte auch immer wieder Abspaltungen. Die aktuellen sind Minigrüppchen, die nur wenig Unterstützung in der Bevölkerung haben, sehr viel allein dastehen, immer wieder kaputtgehen und sich dann unter neuem Namen neu gründen.

Was jetzt zum Beispiel als "neue IRA" durch die Medien geistert und von "Spiegel" und Co. perfekt aufgenommen wird, hieß vor ein paar Monaten auf irisch "Oglaigh na hÉireann" - der irische Begriff für IRA oder "Freiwillige Irlands" - und hatte immer irgendwelche Phantasienamen. Sie hat sich immer wieder mit neuen Leuten neu gegründet, wurde wieder diskreditiert und hat sich abermals abgespalten. Aber ihr Kritikpunkt ist der, daß sie sagt, der Friedensprozeß hat nicht das vereinte Irland geschaffen. Das, glaube ich, ist der Hauptkritikpunkt, den alle diese "Dissidenten" genannten Grüppchen auch unterschreiben würden.


Das Buch in Großaufnahme - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Friedensprozeß ist das Stichwort für das nächste Thema, eben weil er, was immer man von ihm grundsätzlich halten mag, angesichts der aktuellen Ereignisse mehr denn je in Frage zu stehen scheint. Alles, was als Brexit-Katastrophe für große Aufregung angesichts der zahlreichen unbewältigten Probleme sorgt, wurde ja sozusagen von außen auf den seinerseits ohnehin schwierigen Nordirland- oder vielmehr irisch-britischen Konflikt draufgesattelt. Was sagst du dazu?

UG: Zunächst einmal finde ich nicht, daß der Friedensprozeß insofern in Gefahr ist. Dazu muß man vielleicht ein Wort dazu sagen, was der Friedensprozeß überhaupt ist. Das Friedensabkommen 1998 hat festgelegt, wie man diesen Militärapparat, der nie als Staat, als bürgerlich-demokratisches Gemeinwesen oder wie immer man das nennen möchte funktioniert hat, der frühere "protestantische Staat für ein protestantisches Volk", wie er am Anfang genannt wurde von den damaligen Machthabern, den pro-britischen Regierungschefs, in eine bürgerliche Demokratie verwandelt.

SB: Da möchte ich kurz nachfragen: Du sprichst vom, wenn man so will, britisch besetzten Nordirland?

UG: Genau. Ich meine das britisch besetzte Nordirland. In dem Friedensabkommen haben die Konfliktparteien praktisch Regeln miteinander vereinbart und festgelegt, wie sie dieses Nordirland, nicht das gesamte Irland, sondern wie sie Nordirland in einen bürgerlich-demokratischen Staat verwandeln mit einer gleichberechtigten Gesellschaft, in der eben nicht mehr ein bestimmter Teil der Bevölkerung diskriminiert und aller Rechte beraubt wird. Das ist eigentlich das Thema. Und dieser Friedensprozeß ist schon ganz schön weit gekommen und hat Nordirland auch tatsächlich transformiert.

Nichtsdestotrotz ist es natürlich so, daß der Brexit jetzt ein ganz wichtiges Ergebnis dieses Friedensprozesses in Frage stellt, nämlich, daß es de facto im Moment keine Grenze mehr zwischen Nordirland und der Republik Irland, also dem restlichen Irland, gibt. Die hat dieses Friedensabkommen abgeschafft und dafür auch die entsprechenden Grundlagen gelegt, nämlich daß eine übergreifende Kooperation auf sehr vielen Gebieten stattfindet, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im sozialen Bereich, in der Erziehung und ähnliches. Das bedeutet, daß diese Grenze heute unsichtbar ist und daß viele Leute, die rechts und links der Grenze leben, sie im Alltag nicht spüren. Das ist die Gefahr.

SB: Würdest du einen Ausblick wagen dazu, wie es mit dem Brexit-Desaster weitergehen und, damit verknüpft, was das für Irland und die irische Bewegung bedeuten könnte?

UG: Wenn der Brexit kommt und eine Grenze einführt, in welcher Form auch immer, dann würde das zwar nicht gleich alles in Frage stellen, was bisher war, aber es wäre ein Bruch des Friedensabkommens durch Großbritannien, das ist ganz klar. Das ist jetzt einfach 'mal so vorhergesagt. Ich denke, wenn eine Grenze käme, in welcher Art auch immer, würde sie nicht akzeptiert werden.

Im Moment ist es so, daß die irische, vor allem die nordirische Zivilgesellschaft - natürlich auch geleitet oder angetrieben von Sinn Féin - sehr stark in Richtung irische Wiedervereinigung arbeitet. Alle Indizien, die man so kennt, sowohl die politischen als auch die bevölkerungstechnischen, sprechen eigentlich dafür, daß die Vereinigung über kurz oder lang kommen wird. Das streiten nicht einmal die pro-britischen Politiker ab. Sie versuchen nur, diesen Schritt möglichst weit in die Ferne zu schieben. Aber was die irische Gesellschaft im Moment tut und was ich sehr fantastisch finde, ist, daß es sehr viele Veranstaltungen gibt, in die möglichst große Teile der Bevölkerung einbezogen sind und wo man darüber redet, wie ein vereinigtes Irland aussehen soll. In was für einer Art Gesellschaft wollen wir leben?

Das ist, finde ich, ein ziemlich progressiver Ansatz, nämlich zu sagen, wir wollen nicht einfach den Anschluß an das südliche Irland, das sich zwar schon gewandelt hat, aber immer noch eine ziemlich konservative Gesellschaft ist, zumindest in Teilen ihrer führenden Elite. Die Idee ist, sich auf ein Irland mit einer neuen Verfassung zu einigen, das wesentlich progressiver sein sollte als die beiden Teile, die es im Moment gibt.


Foto: © 2019 by Schattenblick

Uschi Grandel präsentiert das Buch "Martin McGuinness - The Man I Knew"
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Nun könnte man meinen, der Konflikt zwischen der irischen Seite und der britischen sei mit seiner langen Geschichte schon kompliziert genug und doch müsse die EU als ein dritter Akteur mitberücksichtigt werden, wiewohl sicherlich schwer zu sagen ist, wie weit ihr Einfluß auf das Geschehen tatsächlich reicht. Was würdest du sagen, welche Interessen in der EU vorherrschen oder überwiegen in bezug auf den Nordirlandkonflikt?

UG: Ich denke, es gibt da ein paar Interessen, die mit Irland gar nichts zu tun haben, nämlich, ganz simpel, daß man von der EU-Seite her sagt, man möchte nicht einfach ein Land austreten lassen oder möchte verhindern, daß weitere dem britischen Beispiel folgen. Das bedeutet zu sagen, wir wollen zusammenhalten, was wir hier schon haben. Was die EU sozusagen in Vor-Brexit-Zeiten gemacht hat, war, den Friedensprozeß zu unterstützen, weniger dadurch, daß sie ideologisch eingegriffen hat, sondern mehr durch Projekte und Projektfinanzierungen. Nichtsdestotrotz war das eine wertvolle Hilfe für den Friedensprozeß.

Das bedeutet, die EU ist insgesamt in Irland relativ beliebt, auch wenn progressive Leute sagen, daß sie natürlich auch einen ganz wesentlich anderen Charakter hat. Aber die Mitgliedschaft in der EU ist eigentlich im heutigen Irland auf beiden Seiten nicht umstritten. Von daher tut sich die EU relativ leicht, Irland entgegenzukommen und zu sagen, "wir stehen auf eurer Seite", weil sich ihre Einschätzungen, Forderungen oder politischen Bestrebungen eigentlich mit den irischen decken.

SB: Hast du noch ein persönliches Fazit?

UG: Ich glaube, daß man von dieser aufbruchstarken irischen Gesellschaft viel lernen kann.

SB: Vielen Dank, Uschi, für das Gespräch.


Fußnote:


[1] "Martin McGuinness: The Man I Knew" (Englisch), von Jude Collins, Mercier Press, 1. März 2018, ISBN: 9781781176016


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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29. November 2019


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