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SCHULE/047: Veränderungen im Lehren und Lernen - das EU-Projekt "Fibonacci" (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum 2/2010 - Universität Bayreuth

Veränderungen im Lehren und Lernen - das EU-Projekt "Fibonacci" zeigt den Weg

Von Professor Dr. Peter Baptist,
Lehrstuhl Mathematik und ihre Didaktik


Es gibt keinen Königsweg für erfolgreiches Lehren und Lernen. Viele zum Teil sehr unterschiedliche Wege führen zu diesem Ziel. Erfolgreicher Unterricht hat ein individuelles Gesicht. Charakteristisch sind u.a. Merkmale wie weniger Wissenserwerbsunterricht, aber mehr Problemlöseunterricht und mehr Verständnis-Orientierung. Auch Lernstrategien und Lernprozesse sollen thematisiert werden, und zwar nicht theoretisch, sondern an konkreten Inhalten.


Forschend entdeckender Unterricht: Inquiry-Based Science and Mathematics Education (IBSME)

"Der wirkliche Gehalt des Unterrichts liegt nicht einfach im stofflichen Ergebnis, sondern in dem, was sich an der Erarbeitung desselben vollzieht."

Diese Feststellung Alexander Wittenbergs (1926 - 1965) macht deutlich, dass Verbesserungen im Lehren und Lernen in erster Linie durch eine Abkehr von herkömmlichen Unterrichtsmethoden (Formeln lernen, Formeln anwenden, Prüfung ablegen) und in einer Zuwendung zu eigenständigem, forschend-entdeckendem Lernen zu erreichen sind. Durch vermehrte Eigentätigkeit der Schülerinnen und Schüler soll insbesondere die Nachhaltigkeit des Lernens gestärkt werden. International bezeichnet man diese Vorgehensweise als Inquiry-Based Science and Mathematics Education (IBSME).

Bei der Verbesserung des Unterrichts geht es nicht vorrangig um andere Inhalte; Lehrpläne müssen nicht radikal verändert werden. Es geht vielmehr zunächst um ein anderes Umgehen mit den Inhalten, also um ein anderes Unterrichten. Lehrer sind keine Entertainer, Schüler keine reinen Konsumenten. Lernen ist ein aktiver, konstruktiver, kumulativer und zielorientierter Prozess. Das muss auch für Schüler spürbar werden. Also kein einseitiger Wissenstransport vom Lehrer zum Schüler; vielmehr ermöglichen die Lehrkräfte ihren Schülern eigenständige Zugänge zum Wissen.


Inquiry-Based Mathematics Education - problemorientiert unterrichten

Mathematisches und naturwissenschaftliches Verständnis sowie die Fähigkeit, Probleme aus dem Alltag in einen passenden mathematischen bzw. naturwissenschaftlichen Zusammenhang zu bringen, lassen sich nicht passiv durch "Rezepte" vermitteln. Bei einem problemorientierten Herangehen wird der Lehrstoff in sinnvolle fachliche und alltägliche Kontexte eingebunden. Wichtige Begriffe werden an konkreten Beispielen entwickelt, erläutert und untersucht. Zudem muss genügend Zeit bleiben, um die erarbeiteten Inhalte durch geeignete Übungsformen zu festigen.

Anschließend erfolgt dann eine theoretische Einbettung bzw. Fundierung sowie die Vernetzung mit dem bisher Gelernten, wobei möglichst Methoden des Lernens und Problemlösens einbezogen werden. Hier ist die Lehrkraft gefordert. Gerade dieser letzte Punkt zeigt deutlich, dass die eigenständige Wissenskonstruktion eine systematische Wissensvermittlung und instruktionale Unterstützung keineswegs ausschließt. Erst das Zusammenspiel all dieser Unterrichtsformen sorgt für effiziente und nachhaltige Lernprozesse.


Vorteil für Fibonacci: Bewährte Vorgängerprojekte

Um den Schülerinnen und Schülern das Gehen eigener Lernwege zu ermöglichen, müssen geeignete Lernumgebungen gestaltet werden. Erste Schritte dahin sind eine Veränderung der Aufgabenkultur, geeignete Experimente, Problemlösen etc. Weiterhin soll der Computer als Lernwerkzeug genutzt werden, und zwar um Experimente durchzuführen und auszuwerten, um ein besseres Verständnis von Inhalten und Zusammenhängen zu erzielen. Hier können wir uns auf erprobte Materialien und Erfahrungen aus Vorgängerprojekten stützen, wir müssen nicht von vorne anfangen. Während POLLEN die Grundschule und SINUS hauptsächlich die Sekundarstufe I als Zielgruppe hatte, wurde das for0schend-entdeckende Lernen an Themen der Sekundarstufe II im MATHCamp erprobt. Dieses Kursangebot des Lehrstuhls für Mathematik und ihre Didaktik in Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall hatte das Ziel, angehenden Ingenieurstudierenden vor Studienbeginn zu einer soliden mathematischen Basis zu verhelfen. In Fibonacci werden diese erprobten Lernumgebungen nun eingesetzt und weiterentwickelt.


Zusätzlicher mathematischer Input

Zu einer internationalen Konferenz im Rahmen des Fibonacci-Projekts hatten sich Ende September dieses Jahres über 170 Teilnehmer aus 28 Ländern an der Universität Bayreuth eingefunden. Ziel war es, die Methodik des forschend-entdeckenden Lernens in den Blickpunkt zu rücken, um eine nachhaltige Verbesserung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts auf den Weg zu bringen. Hochrangige Referenten aus Politik und Wissenschaft sorgten für wertvolle Impulse und anregende Diskussionen. Um den Mathematikunterricht weiterzuentwickeln, braucht es aber auch Anregungen seitens der mathematischen Community. Zwei mehrfach ausgezeichnete Spitzen-Mathematiker folgten spontan der Einladung nach Bayreuth. Die anwendungsorientierte Forschung vertrat der Direktor des Fraunhofer-Instituts für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen Prof. Dr. Ulrich Trottenberg, die universitäre Grundlagenforschung Prof. Dr. Günter M. Ziegler (TU Berlin). Auf eindrucksvolle Weise machten sie ihre Vorstellungen zur mathematischen Ausbildung an höheren Schulen deutlich.

Für Ulrich Trottenberg vermittelt der Mathematikunterricht völlig unzureichend die Bedeutung dieses Faches für unser tägliches Leben. Mathematik durchdringt nahezu alle naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen, zunehmend auch die Wirtschaftswissenschaften und die Medizin. Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der rasanten Zunahme der Leistungsfähigkeit der Computer. Hierbei spielen Algorithmen eine zentrale Rolle. Mathematische Modelle erlauben eine genauere Wettervorhersage, sie geben uns einen quantitativen Einblick in die Klimaveränderung. Mathematik ist für uns im täglichen Leben selbstverständlich geworden: Handy, Internet, MP3, Navigationssystem, Computertomographie, Kreditkarte, Scannerkasse etc. Die Beispiele lassen sich fortsetzen, denn in allen elektronischen Bauteilen in Geräten und Fahrzeugen steckt letztendlich Mathematik. Auch wenn sie im fertigen Produkt meist nicht mehr sichtbar ist, musste sie zunächst entwickelt und für das jeweilige Problem angepasst werden.

Diese Entwicklung spiegelt sich in der Lehrerausbildung und in der Schule jedoch nur unzureichend wider. Schüler benutzen zwar privat Rechner zum Spielen, Chatten, Surfen, E-Mail schreiben, aber im Mathematikunterricht spielt er bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Um Schülern ein aktuelles Bild der Mathematik zu vermitteln, sollen Algorithmen, die auf bestimmte Problemstellungen zugeschnitten sind, sowie die zugrundeliegenden mathematischen Inhalte in der Schule behandelt werden. Beispiele für solche innovative Lernumgebungen sind Tourenplanung, Verschlüsselung mit Hilfe großer Primzahlen, Simulation von Straßenverkehr, Audiokompressionsstandard MP3. Für Trottenberg gehören zu einem unverzichtbaren Bestandteil eines zeitgemäßen Mathematikunterrichts das mathematische Modellieren, also die mathematische Formulierung komplexer praktischer Aufgaben, und das algorithmische Denken. Gerade Letzteres ist eine zentrale Kompetenz, nämlich die Fähigkeit, mathematische Inhalte, Lösungsideen und Prozesse so darzustellen, dass man einen Rechner zur Lösung verwenden kann.

Günter M. Ziegler erlebt als Forscher und Hochschullehrer direkt die Ergebnisse der mathematischen Schulausbildung, wenn er eine Anfängervorlesung hält. Es erstaunt nicht, dass er mit den Kenntnissen seiner Studierenden oftmals unzufrieden ist. Dabei unterrichtet er eigentlich eine positive Auslese, denn sonst wäre die Studienwahl nicht auf Mathematik oder ein mathematiknahes Fach gefallen. Ziegler nennt vier Defizite:

(1) Die Studierenden kommen mit unzureichenden Kenntnissen an die Universitäten. Dabei erwartet er nichts Besonderes, es geht um Bruchrechnung, Berechnungen am Kreis etc., also Mittel- und Unterstufeninhalte.

(2) Die Studierenden sind nicht in der Lage, ihre eigenen Kenntnisse adäquat einzuschätzen.

(3) Die Studierenden haben bestenfalls sehr vage Vorstellungen über das, was Mathematik ist.

(4) Die Studierenden haben keine ausreichende Vorstellung, was es heißt, "Mathematik zu betreiben". Die Tätigkeit des Mathematikers besteht jedenfalls nicht darin, eine Zahl auszurechnen oder eine Formel anzuwenden.

Um diese Defizite abzubauen, empfiehlt Ziegler folgende Aufteilung des Faches Mathematik in der Schule; für ihn ergeben sich sogar drei Fächer:

MATHEMATIK 1: Grundlegendes Wissen - Basiskenntnisse
Hier geht es um Kenntnisse für alle Schüler: Grundrechenarten, geometrische Formen, Prozentrechnung, elementare Stochastik u.ä. Diesen Themen widmet die Schule in der Regel genügend Unterrichtszeit, die Ergebnisse sind aber entmutigend.

MATHEMATIK 2: Reichhaltiges Wissensgebiet
Mathematik ist ein integraler Bestandteil unserer Kulturgeschichte und gleichzeitig Schlüsseltechnologie mit vielfältigen Anwendungen in anderen Disziplinen. Wozu brauchen wir Mathematik? Wir begegnen der Mathematik, wenn wir uns mit dem Leben herausragender Protagonisten befassen.

MATHEMATIK 3: Forschungsgebiet
Mathematik ist eine hochgradig kreative und teilweise auch abstrakte Tätigkeit. Das lässt sich nicht unterrichten, aber vielleicht für einige Schüler exemplarisch erfahrbar machen (Problemlösestrategien, strukturelles Denken, formale Strenge, Beweise).

Entscheidend ist, dass diese drei Gebiete nicht nacheinander abgearbeitet werden. Um für Mathematik 1 zu motivieren, muss man sich in Mathematik 2 und 3 auskennen und zumindest Mathematik 2 (Grundlage für mathematische Bildung) unterrichten. Es bleibt die Hoffnung, dass dann die Inhalte von Mathematik 1 nachhaltig vermittelt werden können.


Qualität des Unterrichts: Worauf kommt es noch an?

Allen, die sich mit Bildung befassen, ist klar, dass IBSME, veränderte Inhalte, Anwendungsorientierung, innovative Lernumgebungen oder Bildungsstandards allein keine Gewähr für positive Veränderungen des Unterrichts bieten. Die Qualität des Unterrichts steht und fällt mit der Person der Lehrerin, des Lehrers. Wirkungsvolle Veränderungen sind möglich, das haben die bereits genannten Programme SINUS bzw. SINUS-Transfer sowie POLLEN bewiesen. Erreicht wurden diese Veränderungen durch viele kleine Schritte über einen gewissen Zeitraum hinweg. Grundvoraussetzung ist allerdings, dass es gelingt, die beteiligten Lehrkräfte von den neuen Ideen zu überzeugen und sie aktiv in Veränderungsprozesse einzubinden. Denn nachhaltige Veränderungen des Lehrens und Lernens können nicht "von oben" verordnet werden, sondern müssen sich an der Basis - in jeder einzelnen Schule, bei Lehrern und Schülern - "von innen" heraus entwickeln. Dazu ist eine breite Akzeptanz von Leistung und Anstrengung notwendig, denn eine leistungsfähige Schule kommt nicht ohne Unterstützung der Gesellschaft aus.


Wissenschaftliche Koordination des Fibonacci-Projekts:

MATHEMATIK: Lehrstuhl für Mathematik und ihre Didaktik der Universität Bayreuth

NATURWISSENSCHAFTEN: Ecole normale superieure (ENS) und La main à la pâte, Paris

Fibonacci wird finanziell gefördert durch das 7. Rahmenprogramm der Europäischen Union. Die organisatorische Koordination erfolgt durch die ENS, Paris. Derzeit sind 37 Institutionen aus 25 Ländern beteiligt.


Namensgeber für das Projekt ist der berühmte pisanische Kaufmann und Mathematiker Leonardo da Pisa (ca. 1170 - ca. 1240), genannt: Fibonacci. In einem seiner Bücher steht eine Aufgabe über die Vermehrung von Kaninchenpaaren. Die daraus resultierende nach Fibonacci benannte Zahlenfolge hat eine Vielzahl von interessanten Eigenschaften und diese Zahlen finden sich auch in der Natur. Die einzelnen Zahlen in dieser rekursiven Folge werden schnell ziemlich groß. Der Projektname Fibonacci symbolisiert somit unser Ziel, dass sich die Ideen des forschend-entdeckenden Unterrichts in Europa ebenso rasch verbreiten wie sich Kaninchen vermehren.


Ziele des Fibonacci-Projekts:

- Aufbau und Weiterentwicklung eines europaweiten Netzwerkes von Referenzzentren zur Weiterentwicklung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts - Entwicklung, Realisierung und Evaluation von Unterrichtskonzepten zur Förderung forschend-entdeckenden Lernens - Aufbau von Schul- und Lehrernetzwerken auf regionaler (bzw. nationaler) Ebene mit dem Ziel verstärkter Kooperation und Teambildung - Förderung der Kooperation von Grund- und weiterführenden Schulen - Erarbeitung und Bereitstellung geeigneter Fortbildungs- und Unterrichtsmaterialien (in Englisch und in der jeweiligen Landessprache) - Implementierung des Programms Fibonacci in die Lehrerausbildung und -fortbildung - Aufbau eines europäischen Kompetenzzentrums für die Förderung und Weiterentwicklung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts - Einrichtung einer Kommunikationsplattform mit integrierter Materialdatenbank.


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Quelle:
spektrum 2/2010, Seite 10-13
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 23, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de

"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2011