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GRENZEN/095: Flüchtlinge 2016 - 410 Menschen sind in der Ägäis ertrunken oder vermisst (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Nachricht aus dem Pressenza-Büro Athen vom 9. März 2016

Flüchtlinge 2016: 410 Menschen sind in der Ägäis ertrunken oder vermisst


Athen - 09.03.2016. Das UN Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) veröffentlichte für die ersten zwei Monate des Jahres 2016 Zahlen, in denen es von 138.280 Menschen spricht, die nach Griechenland und Italien geflohen sind, 35% von ihnen sind Kinder. Es berichtet auch von 410 toten oder vermissten Menschen. Genau in dieser Zeit hat Frontex seine Operationen in der Ägäis begonnen, welche in den letzten zwei Wochen durch die NATO verstärkt wurden. Ärzte ohne Grenzen und andere humanitäre Hilfsorganisationen nennen dies in ihren Veröffentlichungen explizit eine Aufnahmekrise, nicht eine Flüchtlingskrise.


Was passiert, wenn einige der sogenannten Balkanroute-Länder ihre Grenzen schliessen?

Während der letzten Wochen erleben wir das Ergebnis geschlossener Grenzen der Länder der Balkanroute. Tausende Flüchtlinge sammeln sich in Idomeni, der nördlichen Grenze von Griechenland, und schlafen, wo auch immer sie einen freien Platz finden. Wieder einmal beklagen die Hilfsorganisationen die unangemessene medizinische Lage und Versorgungssituation. Die griechische Armee nimmt großen Einfluss, nicht nur beim Aufbau, sondern auch bei der Verwaltung der Hotspots und Lager (diese neue Regelung wurde bereits in einer Regierungserklärung [1] veröffentlicht). Ausserdem wiedereröffnet die Armee, eine nach der anderen, die alten Militärkasernen, um die Flüchtlinge auf improvisierte Weise unterzubringen. Sie sind für deutlich kleinere Anzahlen von Menschen ausgelegt und überhaupt nicht für Familien mit Kindern. Trotz der Operationen von NATO und Frontex in der Ägäis ist der Flüchtlingsnachschub nicht abgebrochen. Als Konsequenz der Neuankünfte (und der geschlossenen Grenzen), sammeln sich die Flüchtlinge entweder auf den Inseln und schlafen sogar auf den Schiffen, welche tagelang für sie als Unterkünfte dienen, oder sie bleiben in den Docks von Piräus, wo sie versuchen, ihre Reise nach Nordgriechenland zu organisieren. Die Zivilbevölkerung fordert von den Ländern, die ihre Grenzen geschlossen haben, dabei Deutschland abriegelnd, die Abkommen einzuhalten und ihre Grenzen wieder zu öffnen.


Was sagt die NATO?

Der Kommandeur des Nordatlantischen Bündnisses verhindert mit seinen Erklärungen [2] jegliche Versuche, die Grenzen wieder zu eröffnen oder Lösungen für die Flüchtlinge zu finden, welche auf europäischer Solidarität basieren. Er spricht über ISIS Terroristen, die "wie Krebs innerhalb des Flüchtlingsstromes wachsen" und verurteilt darüberhinaus allein Russland für den Krieg in Syrien.


Was ist die Haltung der Europäischen Union?

Donald Tusk, der letzte Woche Griechenland und, wegen des Gipfeltreffens (am Montag, den 7.3.) in Brüssel, auch die Türkei besuchte, sagte, dass die europäischen Länder eine gemeinsame Antwort finden müssten und unilaterale Aktivitäten von einigen vermieden werden sollten. Trotzdem spricht er permanent über irreguläre Migranten statt über Flüchtlinge und Menschen, die Asyl beantragen wollen. Im Wesentlichen ist er einverstanden mit der Türkei als ein sicheres Drittland und indirekt untergräbt er internationale und europäische Abkommen und Vereinbarungen für Asylsuchende in Europa. In diesem Zusammenhang erhielt die Türkei auch finanzielle Hilfe, um die Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Europa zu kommen.


Was erklären die politischen Führer in Griechenland?

Die Regierungskoalition und die politischen Vorsitzenden anderer Parteien (Nea Demokratia, PASOK und To Potami) haben versprochen, dass sie haargenau jede Verpflichtung ausführen werden, die der EU entspringt. Griechenland wird die Aussengrenze der EU sein und in diesem Sinne werden die griechischen Behörden mit den Operationen von Frontex kooperieren, aber auch dessen schnelle Entwicklung zu einer europäischen Küstenwache ermöglichen, die die griechische Souveränität respektieren soll. Ausserdem werden sie die Hauptquartiere dieser neu-etablierten europäischen Küstenwache beherbergen. Sie verkünden auch ihre volle Kooperation mit dem bereits vorher beschlossenen Einsatz der NATO, mit der Bedingung, dass die Türkei ebenfalls die ihr gesteckten Verpflichtungen respektiert. Die Linie von Tusk - über irreguläre Migranten zu sprechen statt von Menschen, die Schutz suchen - wurde ebenfalls in voller Form übernommen und die EU-Länder wurden gemahnt, die Probleme gemeinsam anzugehen, anstelle von unilateralen Aktionen.


Wie verhält sich die griechische Bevölkerung?

Auf der sozialen Ebene stellen wir in den letzten Monaten mit Erleichterung fest, dass die griechische Bevölkerung sich solidarisch zeigt mit denjenigen, die versuchen aus der Kriegszone und vor extremer Armut zu entkommen. In Zentralgriechenland, an der Ausfahrt von der Nationalstrasse in Richtung Stylida, sind mehr als hundert Menschen zu Fuß unterwegs zur Grenze. Griechische Menschen kommen aus ihren Häusern, um ihnen die absoluten Grundbedürfnisse auf ihrer langen Reise zu stillen. Als die Flüchtlinge durch Nea Magnesia kamen (einem Ort, in dem die meisten Bürger aus Kleinasien stammen), boten Schüler_innen und ihre Lehrer_innen ihre Pausenbrote an, während Ärzte auf eigene Initiative alles unternahmen, um den kranken Flüchtenden zu helfen. Am anderen Ende von Griechenland hat eine Gewerkschaft für Lehrer_innen ein Solidaritätsfestival organisiert. Die Solidarität multipliziert sich in allen größeren Städten.

Die lokalen Behörden (fast alle) kämpfen gegen die Zeit an, um alle Aufnahmestrukturen der Armee und des Staates zu unterstützen und in einigen Fällen bauen sie selbst ad hoc-Strukturen auf. Der Bürgermeister von Kozani ist das erwähnenswerteste Beispiel. Er wurde nebenbei informiert, dass innerhalb der nächsten drei Stunden fünf Busse mit Flüchtlingen in seiner Stadt ankommen werden. Innerhalb kürzester Zeit liess er eine Sporthalle öffnen und gab eine Mitteilung in den sozialen Netzwerken heraus, in welcher er die Mitbürger_innen bat, für die notwendigsten Dinge zu sorgen. Journalisten breiteten Teppiche auf dem Boden aus, Studenten reinigten die Empfangszone und die Toiletten, Freiwilligengruppen organisierten Nahrung, Decken und Hygieneartikel und installierten eine mobile Küche. Gleichzeitig machten Zahnärzte umsonst zahnärztliche Untersuchungen, während andere Ärzte versuchten, sich um ganze Familien zu kümmern. Die Sporthalle hatte keine Zentralheizung und es muss auch erwähnt werden, dass Kozani eine Bergstadt ist. Obwohl in den letzten Tagen das Wetter gut war, könnte jeder Wetterwechsel selbst diejenigen gefährden, die eine Zuflucht haben.

Solche empirischen und journalistischen Beobachtungen werden nun durch Wissenschaftler_innen bestätigt. Die Studie, die durch die Firma "Public Issue" im Januar 2016 mit 1220 Menschen durchgeführt wurde, zeigte unter anderem, dass 58% der Befragten ihre aktive Solidarität ausdrückten, indem sie Nahrung (39%), Kleidung (31%), finanzielle Hilfe (10%) und Dienstleistungen (4%) zur Verfügung stellten. Projiziert auf die Allgemeinbevölkerung kann man daraus schliessen, dass, wenn die Antworten ehrlich waren, mehr als 5 Millionen Bürger_innen in irgendeiner Form den Flüchtenden in allerletzter Zeit geholfen haben.

Griechenland zeigt trotz seiner ernsthaften ökonomischen Krise und hohen Arbeitslosigkeit eine starke Solidarität. Der gesunde Menschenverstand sowie der Geist vergangener Generationen, die Krieg und Exil an eigener Haut erfahren haben, wird heute in Griechenland belebt, entweder wegen der vergangenen Ereignisse oder einfach wegen der aktuellen in Syrien, Afghanistan und den anderen Kriegsgebieten.


Übersetzung aus dem Englischen Johanna Heuveling


Anmerkungen:
[1] https://www.minedu.gov.gr/publications/docs2016/.pdf
[2] http://www.theguardian.com/world/2016/mar/01/refugees-isis-nato-commander-terrorists


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2016

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