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STELLUNGNAHME/005: "Europapolitik ist keine deutsch-französische Einbahnstraße" (idw)


Stiftung Universität Hildesheim - 29.01.2013

"Europapolitik ist keine deutsch-französische Einbahnstraße"

Ein Kommentar zu den deutsch-französisch-britischen Beziehungen und zur Europarede des britischen Premierministers David Cameron im Januar 2013. Hinnerk Meyer, der an der Universität Hildesheim zu den deutsch-französisch-britischen Beziehungen promovierte, beobachtet:



Besser hätten die politischen Divergenzen der Europäer in der vergangenen Woche kaum inszeniert werden können. Am Montag: die deutsch-französischen Feierlichkeiten in Berlin zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysee-Vertrages (22. Januar 1963). Am Dienstag: die Grundsatzrede David Camerons in London zur Zukunft Großbritanniens in der Europäischen Union. Auf der einen Seite das Versprechen, auch weiterhin gemeinsam für eine Vertiefung der europäischen Integration einzutreten. Auf der anderen Seite die Ankündigung, eine solche nicht länger mitzutragen und notfalls über ein nationales Referendum die Gemeinschaft zu verlassen. Es geht um grundsätzliche Fragen: Mehr oder weniger Europa? Politische Schicksalsgemeinschaft oder wirtschaftlicher Zweckverbund?

Die emotionale Debatte und die mediale Beachtung zeigt, dass Europa lebendig ist - welche größere Legitimation könnte es für die oft gescholtene Gemeinschaft geben? Weniger berechtigt ist die pauschale Kritik, die hierzulande am britischen Premierminister laut wird. Ein Blick in die Geschichte trägt zum Verständnis bei und verdeutlicht zweierlei: Großbritanniens Verhältnis zur europäischen Einigung ist seit jeher problematisch. Zweitens: Die Exklusivität der deutsch-französischen Beziehung hat ihren Teil dazu beigetragen, dass sich an der Rolle Großbritanniens als awkward - als schwieriger - Partner in Europa wenig verändert hat.

Schon die Unterzeichnung der europäischen Gründungsverträge in Rom 1957 hatte ohne das Vereinigte Königreich stattgefunden. Als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges regierte London ein Empire und führte eine exklusive Sonderbeziehung mit Washington. Eine Einordnung in ein gleichberechtigtes europäisches Machtgefüge erschien abwegig. Ein Umdenken fand erst vor dem Hintergrund der Entkolonialisierungsprozesse und des wirtschaftlichen Niederganges des Landes in den 1960er Jahren statt. Jedoch war der Weg nach Europa zunächst versperrt. Gleich zweimal (1963 und 1967) legte Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle (1959-1969) sein Veto gegen einen britischen Beitritt ein - und forcierte stattdessen einen exklusiven Bilateralismus mit der Bundesrepublik, der im Élysée-Vertrag seinen Höhepunkt fand. Auch für Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949-1963) in Bonn war Paris nicht nur geografisch, sondern auch politisch näher als London. Das couple franco-allemand inszenierte sich fortan nicht nur öffentlichkeitswirksam, sondern proklamierte auch die Führung der europäischen Integrationsbestrebungen für sich. Der britische Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) gelang 1973 schließlich im dritten Anlauf unter Premierminister Edward Heath. Es war jedoch ein rein rationaler Schritt, der jede Form von europäischem Idealismus vermissen ließ und in Frage gestellt wurde, als im wirtschaftlichen Krisenjahrzehnt der 1970er der unmittelbare ökonomische Nutzen ausblieb. Es folgten Neuverhandlungen über die Aufnahmebedingungen und 1975 schließlich ein in/out Referendum, das angesichts bestehender Parlamentssouveränität verfassungspolitisch umstritten war. Diese auch öffentlichkeitswirksam dargestellte und das Verhältnis zu den Partnern belastende Europaskepsis war eine im Vergleich zu Frankreich und der Bundesrepublik verspätete Phase der Selbstfindung, in der das Land sein Verhältnis zur europäischen Einigung definieren musste. Der Freiraum hierfür war vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Dominanz begrenzt. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing sowie Helmut Kohl und François Mitterrand knüpften nahtlos an das europapolitische Erbe Adenauers und de Gaulles an. Die europäische Währungsintegration steht beispielhaft für die Austarierung deutsch-französischer Interessen mit Blick auf Europa.
Für Großbritannien hingegen blieb die Rolle des Außenseiters. Das Interesse Londons an Europa war und ist bis heute von der Überzeugung geleitet, dass wirtschaftliche Integration getrennt von allen politischen Einigungsbestrebungen gehalten werden sollte. Speziell in Deutschland ist daraus das Bild der ewig europaskeptischen Briten entstanden.

Ob David Cameron seiner Ankündigung Taten folgen lässt und ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union abhält, ist vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten fraglich. Es spricht vieles für rein wahltaktische Überlegungen. Europäische Integrationspolitik ist allerdings auch keine Einbahnstraße deutsch-französischer Bauart. Bei aller (berechtigter) Kritik an den Ausführungen Camerons: Großbritannien braucht Europa wie auch Europa Großbritannien braucht. Ein Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt würde das Land ökonomisch teuer zu stehen kommen. Auf der anderen Seite kann ein kritischer Gegenpol zu den deutsch-französischen Europavorreitern und zur Brüsseler Bürokratie durchaus fruchtbar sein. Beide Seiten müssen sich stärker aufeinander zu bewegen und mehr Toleranz bzw. Verständnis füreinander aufbringen. Die Bedenken der Briten ernst zu nehmen und ihnen gleichzeitig zu signalisieren, dass sie ein europäischer Partner auf Augenhöhe sind, wäre sicher kein Schritt in die falsche Richtung.


ZUR PERSON:
Dr. Hinnerk Meyer (geb. 1984 in Stade) promovierte am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim zum Thema: "Formationsphasen der europäischen Integrationspolitik im Vergleich. Relance européenne (1954/55-1958) und Lancierung des Binnenmarktes (1985-1993) im Urteil der Bundesrepublik, Frankreichs und Großbritanniens. Das Buch erscheint in der zweiten Jahreshälfte 2013.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution102

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Stiftung Universität Hildesheim, Isa Lange, 29.01.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2013