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ITALIEN/406: Draghi zurückgetreten - Wahlen im Herbst weiterhin nicht ausgeschlossen (Gerhard Feldbauer)


Premier Draghi zurückgetreten

Krisenlösung ungewiss

Wahlen im Herbst weiter nicht ausgeschlossen

von Gerhard Feldbauer, 16. Juli 2022


Die Abstimmung am Donnerstag im Senat, der zweiten Kammer des Parlaments, über ein Konjunkturpaket von Ministerpräsident Draghi, das Familien und Unternehmen in der Energiekrise unterstützen soll, war mit der Vertrauensfrage verbunden. 172 Senatoren haben dem Premier das Vertrauen ausgesprochen, 39 stimmten mit Nein, es gab keine Enthaltungen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur ANSA. Wie angekündigt, hatte die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), die das Hilfspaket als unzureichend abgelehnt und Verbesserungen gefordert hatte, an dem Votum nicht teilgenommen. In letzter Minute hatte sich M5S kompromissbereit gezeigt. Ihr Minister für Beziehungen zum Parlament, Federico D'Incà, versuchte, Draghi dafür zu gewinnen, sich mit der Zustimmung zum Hilfspaket zu begnügen, worauf dieser jedoch nicht einging.

Das linke Manifesto nennt das Scheitern der "nationalen Einheits"-Regierung aus dem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) und M5S mit den Faschisten der Lega und der Forza Italia (FI) Berlusconis "einen Erdrutsch". Zwar habe der Regierungschef das Vertrauen erhalten, verfüge aber ohne die drei M5S-Minister über keine handlungsfähige Regierung mehr. Nach der Senatsabstimmung informierte der Premier deshalb die Minister, dass er bei Staatspräsident Mattarella seinen Rücktritt einreichen werde. Auf Versuche vom PD bis zur FI, ihn "umzustimmen", sei er nicht eingegangen.

Präsident Mattarella, den Draghi noch am Donnerstagabend aufsuchte, lehnte seinen Rücktritt ab und forderte ihn auf, sich nochmals dem Parlament vorzustellen. Das ist ungewöhnlich, in der Regel bittet der Staatschef nach einem Rücktritt den Premier nur, im Amt zu bleiben und führt Konsultationen über eine Regierungsneubildung. Es ist klar, "Mattarella will keine Krise", meint Manifesto, das als jüngsten Ursprung der Regierungskrise die vorbehaltlose Unterstützung Draghis für den Krieg der NATO und EU bis zum Sieg über Russland sieht. M5S-Chef Giuseppe Conte, vor Draghi Premier einer "Mitte Links"-Regierung, verlangte dagegen, keine Waffen mehr an Kiew zu schicken und eine Verhandlungslösung zu unterstützen. Außenminister Luigi Di Maio, der forderte, Selenskij müsse bis zum Sieg über Russland unterstützt werden, verließ daraufhin am 20. Juni mit über 60 Abgeordneten und Senatoren die Partei und gründete eine neue: Insieme per il futuro (Gemeinsam für die Zukunft), damit M5S "nicht weiter die stärkste Kraft im Parlament" sei. Das ist ihm gelungen: Größte Fraktion ist dank ihm nun mit 132 Abgeordneten die faschistische Lega.

Contes Partei steht mit 105 Sitzen an zweiter Stelle. In der geschrumpften Fraktion drängt ein erheblicher Teil der M5S-Parlamentarier zum Bruch mit Draghis "Einheitsregierung". Mit seinen sozialen Forderungen und der Kritik am Kriegskurs Draghis in der Ukraine, der inzwischen von 60 Prozent der Italiener abgelehnt wird, wollte Conte die Sternepartei, die 2018 32 % erreichte, aus dem Wählertief, in das sie durch die Regierung mit der faschistischen Lega 2018/19 und die jetzige Beteiligung an der "Einheitsregierung" wieder mit den Faschisten (Lega und FI) geraten war, durch den Bruch mit Draghi herausführen. Aber sicher sein kann er sich da nicht. Es könnte auch zum Bumerang werden: Bei den Kommunalwahlen im Juni sackte die Partei in manchen Gemeinden auf bis zu zwei Prozent ab.

Für eine Lösung sei es für Draghi "sehr eng", vermerkte Manifesto. Das linke Magazin Contropiano meint dagegen, er werde es "sicherlich schaffen", denn diese "Regierung wurde geboren, um die Interessen des italienischen Kapitalismus zu verteidigen". Seine stärkste Stütze sind dabei die Sozialdemokraten: "Die Draghi-Regierung muss im Interesse des Landes weitermachen", zitiert ANSA PD-Chef Enrico Letta. Auch M5S rudert bereits zurück und deutet ein Verbleiben im Kabinett an. Lega-Chef Salvini erklärt nun, Wahlen stürzten das Land "in eine sehr schwere Krise, die es sich nicht leisten kann", da ein Sieg des PD drohe. Forza Italia hält sich dagegen wie die Lega zurück. Berlusconi äußert sich nicht, läßt den nationalen Koordinator Antonio Tajani nur erklären, M5S habe "unverantwortlich" gehandelt. Aber die Krise ist nicht ausgestanden. Giorgia Meloni von den Brüdern Italiens, in Umfragen bei Wahlen mit 21,5 % weiter erste Partei, beharrt auf Neuwahlen im Herbst.

Am Sonnabend setzt Manifesto seine Analyse fort und schreibt: Die bisherige Regierung Draghi ist, ob mit oder ohne M5, am Ende und das Parlament scheint zunehmend in der Schwebe. ANSA schreibt: Contes M5S "wird weiterhin von tiefgreifenden Spannungen durchzogen, während die Wahllokale näher rücken", und meint, Salvini und Berlusconi sind der Hypothese nahe, weiterhin mit den 5S in der Exekutive sitzen zu können. "Draghi ist unser Garant auf internationaler Ebene, er hat eine tadellose Position bekleidet und muss bleiben", so der Appell von Pier Ferdinando Casini, früherer Berlusconi-Anhänger, heute Sekretär einer Splitterpartei Zentristen für Europa (CpE). Auch der PD ist dafür: Seine Minister Andrea Orlando und Roberto Speranza erklären: "Wir arbeiten für die Fortsetzung einer Regierung der nationalen Einheit." Draghi bleibe dabei, dass "Format und Umfang" der Mehrheit unverändert bleiben. Andernfalls "ist die Legislaturperiode vorbei", erklärt Bruno Tabacci, ebenfalls CpE und Staatssekretär. Die Entscheidung falle am Mittwoch in den Kammern, wo sich Draghi, "wie vom Staatsoberhaupt verlangt, der Abstimmung stelle".

Conte weist die Beschuldigung, für die Krise verantwortlich zu sein, zurück. Gleichzeitig hat er den Rücktritt seiner Minister "eingefroren". Nun zeige sich, dass die gestürzte "Nationale Einheits"-Regierung, die die Spitze der Wirtschafts- und Finanzelite vertrat, "eine Zwangsheirat" war und den Kräften der Linken geschadet hat, so Manifesto weiter. "Während sich Mitte-Links tendenziell verengt, feiert die ganze Rechte im Herbst einen Wahlsieg am Horizont." Salvini, Meloni und Berlusconi werden "auf die Straßen zurückkehren und die Fahnen des Kampfes gegen das Bürgereinkommen, den Mindestlohn und die ökologische Umstellung schwenken".

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 16. Juli 2022

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