Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → POLITIK


ITALIEN/414: Schwärzeste Regierung der Nachkriegszeit droht (Gerhard Feldbauer)


Italien droht die schwärzeste Regierung der Nachkriegszeit

Linke Mitte gespalten gegen vereinte Faschisten

von Gerhard Feldbauer, 28. August 2022


Nachdem Premier Mario Draghi nach einer Vertrauensabstimmung im Senat über keine regierungsfähige Mehrheit mehr verfügte und zurücktrat, hat Staatspräsident Sergio Mattarella am 21. Juli das Parlament aufgelöst und für den 25. September vorgezogene Parlamentswahlen angesetzt. Planmäßig hätten sie im Frühjahr 2023 stattgefunden. Die Niederlage Draghis hatten die Brüder Italiens (FdI) Giorgia Melonis, die Lega Matteo Salvinis und die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) von Ex-Premier Giuseppe Conte mit ihren Stimmenthaltungen herbeigeführt.

Zu dem Votum tritt Meloni an der Spitze der faschistischen Allianz, zu der die Lega und die Forza Italia (FI) von Ex-Premier Berlusconi gehört, an und will, wie sie erklärte, im Palazzo Chigi (dem Regierungssitz) "die Führung der Nation" übernehmen. Wählerumfragen besagen, Melonis FdI könne mit 26 % erste Partei werden und die "Mitte-Rechts-Partei" (wie sich die faschistische Koalition verharmlosend nennt) etwa 45 Prozent der Stimmen erhalten, was ihr eine klare Mehrheit in beiden Parlamentskammern sichern würde. Als Hauptfeind, der zu schlagen ist, nennt Meloni den sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) Enrico Lettas, der knapp hinter der FdI auf Platz zwei liegt und mit dem ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet wird.

Aber selbst wenn der PD gewinnen sollte und das Recht hätte, den Ministerpräsidenten vorzuschlagen, würde ihm eine regierungsfähige Mehrheit fehlen, denn die "Linke Mitte" findet zu keiner antifaschistischen Einheit. Laut Euromedia-Research Group hat die geeinigte Allianz "bereits eine Ministerliste aufgestellt: Meloni Ministerpräsidentin; Salvini Innenminister; der vorbestrafte 86-jährige Medien-Tycoon und Bunga-Bunga-Löwe Berlusconi Senatspräsident". Als Regierungschefin will Meloni ein Präsidialregime nach französischem Vorbild mit der Direktwahl des Staatspräsidenten einführen. Dann müsse Mattarella, wie Berlusconi nachlegte, zurücktreten.


Wer ist Giorgia Meloni?

Das linke Manifesto analysierte in einem "Identitätsprofil", wer mit Meloni und ihren Brüdern Italiens die Regierung übernehmen würde. Danach handelt es sich bei den Fratelli Italiens um nichts anderes als um eine aus dem bereits 1946 als Nachfolger der Partei des faschistischen Diktators Mussolini wiedergegründeten Movimento Sociale Italiano (Sozialbewegung - MSI) hervorgegangene Partei. Daran ändert auch nichts, dass das MSI sich 1994/95 zur Verdeckung seiner Vergangenheit in Alleanza Nazionale (AN) umtaufte, die Manifesto damals eine "Nazi-onale Alleanz" nannte. Unter dem Medientycoon Berlusconi, der im Dreierdirektorium der faschistischen Putschloge P2 saß und von dieser an die Macht gehievt wurde, konnte dessen Hauptverbündeter, AN-Chef und Vizepremier Gianfranco Fini, den "Duce" als den "größten Staatsmann des Jahrhunderts" feiern und seine Rehabilitierung fordern.

Dass unter Berlusconi 2001 beim G8-Gipfel in Genua Protestierende zu Hunderten blutig zusammengeschlagen und nach chilenischem Vorbild in "Gefangenensammelstellen" gepfercht wurden, hielt Meloni, die 1992 mit 15 Jahren der Jugendfront, der Kaderschmiede des MSI, beitrat, nicht davon ab, Berlusconi von 2008 bis zu seinem Fall 2011 als Jugend- und Sportministerin zu dienen. 2011 formierte sie die AN in die FdI um und übernahm 2012 ihre Führung. Während Antonio Tabucchi die mit Unterbrechungen von 1994 bis 2011 währenden Regierungen Berlusconis eine Herrschaft der "Despotie" nannte, Umberto Eco sie als Verkörperung des "übelsten Erbes des Faschismus" Mussolinis sah und Schriftsteller von Luigi Malerba über Silvia Ballestra bis Stefano Benni die "grundlegenden Freiheiten der Demokratie und des zivilen Lebens" bedroht sahen, hält Meloni weiterhin am Erbe des Mussolini-Faschismus fest.

Das demonstrierte sie, als am 26. April dieses Jahres die Witwe von Giorgio Almirante, Assunta, verstarb. Almirante war der MSI-Gründer, unter dem "Duce" Staatssekretär und dessen führender Rassenideologe, der noch kurz vor Kriegsende einen "Genickschuss-Erlass" gegen Partisanen unterzeichnet hatte. Er bekannte sich zum faschistischen Pateiprogramm von 1919 und damit dazu, "die soziale Idee in der ununterbrochenen historischen Kontinuität fortzuführen". Er hielt daran bis zu seinem Tod 1988 fest und gab dieses Erbe an seine Nachfolger weiter. Seine Witwe Assunta galt, wie der Corriere della Sera schrieb, seit seinem Tod als "respektierte Königinmutter und Gralshüterin des Erbes Mussolinis in der Bewegung". Meloni nahm an ihrer Beerdigung in der Basilika Santa Maria in Montesanto auf der Piazza del Popolo in Rom mit zahlreichen führenden Faschisten ihrer FdI, die am Sarg "den römischen Gruß" zeigten, teil. Laut Corriere würdigte die FdI-Chefin die Frau des MSI-Gründers als "eine Säule des historischen Gedächtnisses der italienischen Rechten" und fügte hinzu: "Ich habe ein unbeschwertes Verhältnis zum Faschismus." Diese Fakten muss man im Blick haben, wenn Meloni bei der Ankündigung ihrer Kandidatur erklärte, dass "die Identität, die Ziele von Mitte-Rechts bekannt sind, es darum geht, sie zu wiederholen".

PD-Sekretär Letta erkennt inzwischen, dass es bei der Wahl um die "Wahrung der Verfassung oder um ihren Sturz" geht und hat sich dazu durchgerungen, die Sinistra Italia (Italienische Linke - SI) des Ex-Kommunisten Nicola Fratoianni und die Verdi (Grünen) in sein Wahlbündnis aufzunehmen. Daraufhin verließ der Leiter der Zentrums-Partei Azione, Carlo Calenda, die Koalition und bildete mit Lebendiges Italien (IV) von Ex-PD Matteo Renzi einen betont antikommunistischen "Dritten Pol", der "für Draghi als Premier" ist und versucht, FI-Abtrünnige wie Mara Carfagna und Mariastella Gelmini zu gewinnen.


Armutsrekorde

In Armut und Verelendung wurden unter Draghi alle Rekorde gebrochen. Ein schockierender Bericht des Uniimpresa Study Center, einem Institut kleiner, mittlerer und kleinster Unternehmen, enthüllte, dass Ende 2021 in Italien 11,5 Millionen Menschen, weit mehr als bis dahin bekannt, in Armut lebten. Das staatliche Statistik-Amt ISTAT hatte dazu für 2021 vier Millionen Arbeitslose mit befristeten Arbeitsverträgen aufgelistet, davon 925.000 in Teilzeit, weiter 711.000 Teilzeit-Selbstständige mit 225.000 Mitarbeitern. Darin waren eine Million Selbstständige, die 2020 in den Ruin getrieben wurden und deren Zahl damit auf 4,9 Millionen anstieg, kaum erfasst.

Im Konflikt in der Ukraine stellte sich Draghi von Anfang an auf die Seite der USA, NATO und EU, was zur Folge hatte, dass die Sanktionen wie ein Bumerang mit voller Wucht auf Italien zurückschlugen. Mit einem Anstieg von 8 % im Juni erreichte die Inflation gegenüber 1986 einen 36-Jahres-Höchststand. 2022 müssen die Verbraucher laut ISTAT mit bis zu 100 % höheren Preisen bei Strom und Gas rechnen. Diese Abwälzung der Kriegslasten auf die arbeitenden Menschen haben die Sozialdemokraten zusammen mit den Faschisten der Lega und der FI in der sogenannten "Regierung der nationalen Einheit", die Draghi im Januar 2021 bildete, ohne Abstriche mitgetragen.

Nun gehen sie mit einem gigantischen Programm "Gemeinsam für ein demokratisches und fortschrittliches Italien", das die sozialen Fragen in den Mittelpunkt rückt, auf Distanz zu Draghi und wollen, wie Letta versicherte, einen "Kurswechsel bei der Arbeit und der Armutsbekämpfung" herbeiführen. Sie fordern ein Staatsbürgerschaftseinkommen, einen Mindestlohn und einen "öffentlichen Lohnzuschlag" für Geringverdiener. Die außerschulischen Praktika für Studenten sollen abgeschafft und für junge Menschen eine "Grundrente" eingerichtet werden, die Beitragslücken berücksichtigt. Die Gehälter der Lehrer sollen bis 2027 auf EU-Niveau angehoben werden, Studenten kostenlos Bücher und die Verkehrsmittel nutzen können.

Zur Energie wird das "Nein zur Atomkraft" bekräftigt und für den ökologischen Übergang und erneuerbare Energien ein imposanter Plan vorgeschlagen, "der 500.000 Arbeitsplätze schaffen" soll. PD-Vize Giuseppe Provenzano betonte, das "sehr klare Programm muss von einem kohärenten politischen Kampf begleitet werden" und "wir müssen auf der Stabilisierung der Arbeit bestehen". Die Frauenrechtlerin der PD, Cecilia D'Elia, warnte: "Wenn die Rechten gewinnen, sind auch die Rechte der Frauen, einschließlich der Abtreibung, und auch die der LGBT-Gemeinschaft gefährdet." Zur Einwanderung müsse es ein klares Nein zu Hafenschließungen und Seeblockaden geben.


Mitte-Links bleibt gespalten

Die Ablehnung der Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland (laut Umfragen bis zu 60 %) hatte M5S-Chef Conte aufgegriffen, einen vollständigen Waffenstopp und eine Korrektur, die Ukraine bis zu einem Sieg über Russland zu unterstützen, gefordert und war stattdessen für eine Verhandlungslösung eingetreten. Er war es eigentlich, der Draghi damit stürzte. Außenminister Luigi Di Maio verließ daraufhin mit über 60 Parlamentariern M5S und bildete eine Partei Insieme per Il Futuro (IpF), die er inzwischen in Impegno civico (Bürgerliche Verpflichtung) umbenannte. Mit ihr schloss er sich dem "Dritten Pol" Calendas an. Der geschrumpften Sternepartei werden in Umfragen noch immer etwa 11 % Wählerstimmen zugetraut. Dass der PD ein Wahlbündnis mit ihr, der zweiten Hauptkraft von Mitte-Links, abgelehnt hat, ist der Knackpunkt ihrer Spaltung. Wenn Meloni gewinnen sollte, wird man Letta dafür mit Recht verantwortlich machen.


Zugpferde sollen Rennen entscheiden

Da nach einer Parlamentsreform für die Abgeordnetenkammer und den Senat nur noch 603 Sitze, 345 weniger als beim letzten Urnengang, zur Verfügung stehen, hat es einen scharfen Konkurrenzkampf unter den Kandidaten gegeben und mehrere Schwergewichte wurden gestrichen. Letta, der als Spitzenkandidat des PD antritt, hat neben dem parteilosen Wirtschafts- und Bankwissenschaftler Carlo Cottarelli mit Erfahrungen im IWF und der Banca Italia u. a. den während der Corona-Pandemie zum Starvirologen aufgerückten renommierten Mikrobiologen Professor Andrea Crisanti als Zugpferd gewonnen. Conte hat neben seiner eigenen Bewerbung die ehemalige Turiner Bürgermeisterin Chiara Appendino sowie die Anti-Mafia-Staatsanwälte Federico Cafiero de Raho und Roberto Scarpinato und den ehemaligen Umweltminister Sergio Costa aufgestellt. Für die von Potere al Popolo (Die Macht dem Volke) mit Kommunisten gebildeten Unione popolare (Volksunion) tritt u. a. der frühere Bürgermeister von Neapel Luigi de Magistris an.

Das bunte Bild der Bewerber wird abgerundet durch die 95jährige Filmdiva Gina Lollobrigida, die in den Reihen einer "Anti-Establishmentpartei" Italia Sovrana e Popolare für einen Sitz im Senat kandidiert.

*

Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 30. August 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang