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INNEN/475: Europa - Markt oder politische Gemeinschaft? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011

Europa - Markt oder politische Gemeinschaft?

Von Martin McIvor


Großbritannien und die EU - das ist ein besonderes Verhältnis. Der Euro wurde dort nicht eingeführt und den meisten Bemühungen zur stärkeren Integration steht London ablehnend gegenüber. Die britischen Regierungen haben sich durch sogenannte opting out-Klauseln das Recht gesichert, nicht überall dabei sein zu müssen. Wie steht die britische Linke zu all dem?


Die große Hoffnung, dass die Europäische Union zur sozialen Zügelung des globalen Kapitalismus beitragen könnte, hat sich tragischer Weise in zu vielen Fällen ins Gegenteil verkehrt. Eingebettet in die Prozesse der neoliberalen Globalisierung und kaum von ihnen unterscheidbar, kommt sie bisweilen als eine entrückte und niemandem zur Rechenschaft verpflichtete Institution daher, die der Erosion der kollektiven Institutionen Vorschub leistet und politische Handlungsmöglichkeiten beschneidet.

In Großbritannien wird dieses Problem als besonders virulent wahrgenommen - weitverbreitetes Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber dem Europäischen Projekt sind dort fest verwurzelt. Eine Umfrage von 2009 zeigte, dass nur 30% der Briten die Mitgliedschaft in der EU als "eine gute Sache" betrachten - nur in Lettland gibt es einen noch geringeren Anteil an EU-Befürwortern - wohingegen 32% der Briten die EU als "schlechte Sache" sehen - ein Rekordwert unter den Mitgliedsstaaten.

Dieses Gefühl wird von xenophobischen und pseudo-libertären Kampagnen der "euroskeptischen" Rechten ausgenutzt, ja sogar teilweise selbst entzündet. Großbritanniens Rechte übt noch mehr Einfluss auf die Konservativen aus als in den Tagen Margaret Thatchers und hat auch eine eigene Vorreiterpartei - die UK Independence Party (UKIP).


Das Dilemma der britischen Linken

Diese Entwicklung stellt seit langem ein Dilemma für die britische Linke dar, die fatalerweise gespalten ist in der Europäischen Frage - oder zumindest in den Augen der Öffentlichkeit irritiert und unentschlossen wirkt. Viele Aktivisten in Gewerkschaften und Sozialen Bewegungen (etwa auch die meisten der britischen Grünen) glauben, man müsse der Rechten beim Aufgreifen antieuropäischer Stimmungen Paroli bieten, indem man eine alternativ-sozialdemokratisch motivierte oder antikorporative Kritik an den politischen Maßnahmen der EU und an ihren Institutionen artikuliert.

Andere meinen, dass sich diese Strategie unvermeidbar der nationalchauvinistischen Rhetorik der Rechten angleichen werde und die Aussichten für jedwede gelungene Integration zunichte mache. Im Gegensatz wählen sie einen Ansatz, der die idealistischen, internationalistischen und kosmopolitischen Aspekte des europäischen Projektes unterstreicht - während sie die Bedeutung der neoliberal geprägten Voreingenommenheit gegenüber dem Europäischen Projekt herunterspielen. Sie hoffen, dass eine stärkere Europäische Union mehr Möglichkeiten für mehr progressive Europäische Politik in der Zukunft schafft.

Die Labour Party selbst, obwohl sie sich insgesamt pro-europäischer geriert als vor 30 Jahren, scheint gefangen zwischen diesen konfligierenden Impulsen und Spannungen und wirkt wie paralysiert. Zu ängstlich, um entweder ihre liberal-kosmopolitisch eingestellten Wähler oder ihre vom traditionelleren Arbeitermilieu geprägte Wählerschicht vor den Kopf zu stoßen, vermeidet es die Partei also, von der EU in einem Ton zu sprechen, der entweder zu abwertend oder zu feierlich wirkt.

Im Resultat vermeidet sie das Thema, wo es nur geht (Gordon Browns Unterschrift unter den Vertrag von Lissabon 2007 fernab der öffentlichen Zeremonie gilt als klassisches Beispiel und Symbol dieses Unbehagens). Sogar in Europawahlen kommt die Partei nur in Ausnahmen auf ihre Vision von Europa oder die von ihr gewollte Europapolitik zu sprechen.

Natürlich mögen die Verhältnisse in Großbritannien einen Extremfall darstellen, aber es ist ein illustratives und vielleicht auch aufschlussreiches Beispiel für ein generelles Problem, das alle EU-Mitgliedsstaaten mehr oder weniger betrifft. Der Respekt für die EU in der Öffentlichkeit und die Ausprägung pro-europäischer Neigung sind gering und fallen weiter. Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen sinkt kontinuierlich seit den ersten Wahlen 1979 und ist heute bereits bei weit unter 50%. Parteien begreifen Europawahlen meist als "nachrangige nationale Auseinandersetzungen", um innenpolitische Debatten für den Ernstfall einer nationalen Wahl durchzuspielen oder populistische Protestwähler zu mobilisieren.


Welche Art von Europa wollen wir bauen?

Natürlich ist das kein gesunder oder nachhaltiger Zustand. Wir können ein solch weit verbreitetes Desinteresse, eine solch problematische Entkoppelung von europäischen Themen nicht zulassen, auch weil die EU für unsere wirtschaftlichen Perspektiven eine fundamental prägende Rolle spielt und ein Europäischer Zusammenhalt für eine Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Zukunft von elementarer Bedeutung ist. Auch dürfen wir nicht erlauben, dass politische Diskussionen um Europa von in Konflikt stehenden (und in fragwürdiger Weise konstruierten) "nationalen Interessen" dominiert und dadurch verzerrt werden und in den jeweiligen Mitgliedsstaaten in einen simplifizierenden und nutzlosen Kampf von "Pro" und "Contra", "drinnen" und "draußen" oder "euroskeptisch" und "eurofreundlich" ausarten.

Was Europa im Gegensatz dazu dringend braucht, ist eine demokratische und verbindlich geführte Debatte darüber, welche Art von Europa wir Europäer aufbauen möchten. Vor allem Sozialdemokraten müssen diese Debatte wollen: Nicht nur, weil wir guten Mutes sind, dass unsere alternative Agenda für Europa in einer lebendigen und offen für alle Teilnehmer geführten Debatte viel öffentlichen Zuspruch erfahren könnte. Sondern auch, weil eben jenes Prinzip, den aktuellen Fokus der EU auf Liberalisierung der Märkte einer demokratischen Bewertung auszusetzen (anstatt diese Liberalisierung als eine neutral-technokratische Agenda zu verabschieden oder es als eine unaufhaltsame natürliche Entwicklung darzustellen) ein Fortschritt ist für all diejenigen, die an das "Primat der Politik" über die Märkte glauben. Die Schwierigkeit ist aber, dass die Institutionen der EU nicht dafür gemacht sind, eine solche Debatte zu ermutigen. Natürlich ist das "demokratische Defizit", das, trotz bescheidener Verbesserungen, die Fähigkeit des Europäischen Parlamentes, den Kurs der Integration zu bestimmen, dramatisch beschneidet, ein großes Hindernis für die Einbindung der Bürger in Europäische Debatten und Prozesse.

Genauso verheerend ist, wie der Politologe Gerassimos Moschonas gesagt hat, dass die Strukturen des Europäischen Entscheidungsprozesses politische Konfrontation und ideologische Debatten nicht gerade begünstigen, um eine stabile und konsensorientierte politische Linie nicht zu gefährden. Auch wenn dies mit Rückbesinnung auf die traditionelle europäische Konkordanz und die historisch begründete Angst vor Demagogie und Spaltung gut gemeint gewesen sein mag, bedeuten doch im heutigen Europa vergiftete Apathie und Zynismus die größte Gefahr für Demokratie, institutionelle Legitimität und langfristige politische Stabilität. Daher sollte Europa Vorschläge wie die von dem britischen Politologen Simon Hix ernster nehmen, der eine höhere Politisierung der EU-Verfahren fordert, indem ein Parteienwettbewerb um die EU-Kommissionspräsidentschaft ermöglicht wird und den Mehrheitsblöcken mehr Macht im EU-Parlament eingeräumt wird.


Die Linke muss Begeisterung wecken

Ohne institutionelle Reformen wie diese, die für die Entwicklung einer wahrhaft europäischen Öffentlichkeit und eines wahrhaft europäischen Demos entscheidend sein könnten, muss die Linke ihre politischen Prioritäten bestimmen, Kampagnen initiieren, die Aktivisten über Kontinente hinweg vereinen und die Bürgerschaft wieder für eine Debatte über den zukünftigen Kurs Europas begeistern.

Natürlich haben die Begleiterscheinungen der Finanzkrise die fast schon abschreckende Schwierigkeit dieser Herausforderung offenbart. Das bezieht sich nicht nur auf die Enttäuschungen der Europawahl 2009, sondern auch auf das grundsätzliche Versagen der europäischen Sozialdemokraten, ihre Aktivisten - ganz zu schweigen von ihrer übrigen Wählerschaft - für den Kampf für eine mehr keynesianische, regulatorische und redistributive Antwort auf die Rezession zu mobilisieren.

In Großbritannien beispielsweise hätten die Sozialdemokraten Gordon Browns Initiative auf dem G20-Gipfel 2009 für ein zusätzliches, koordiniertes Konjunkturpaket besser unterstützen und seine Verweigerung gegenüber strafferen Regulationen des Finanzmarktes, etwa der von Poul Nyrup Rasmussen maßgeblich entwickelten Hedgefonds-Richtlinie, kritischer unter die Lupe nehmen müssen. Leider hat die britische Linke diesen Angelegenheiten wenig Aufmerksamkeit geschenkt, trotz ihrer umfangreichen Konsequenzen.

Aber wir müssen es doch weiter versuchen, denn dies ist der einzige Weg, Europa voranzubringen. Und es gibt Fortschritte zu vermelden. Die europaweite Bewegung der Befürworter der Finanztransaktionssteuer ist ein perfektes Beispiel einer einfachen, glaubwürdigen und populären Kampagne, für die wir Bürger aller Mitgliedsstaaten begeistern müssen und die als Antwort auf die Finanzkrise eine Alternative zu noch mehr Sparpolitik und Deregulation bietet. Sollte der Leser fürchten, dass die Bürger Großbritanniens jede politische Maßnahme bekämpfen werden, die die Privilegien und Profite der Stadt London limitiert, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass der Vorschlag im Gegenteil in meinem Land äußerst populär ist - auch wenn wir ihm unseren eigenen, eher patriotischen Namen zugedacht haben: die "Robin Hood Steuer".

Darüber hinaus wird die andauernde Krise der Eurozone, deren Folgen noch immer nicht absehbar sind, weitere Möglichkeiten für politische Einmischung und Politisierung bieten. Wir mögen bestürzt sein, dass die Pläne für eine stärkere Wirtschaftsregierung, die sich infolge der Finanzkrise abzeichnen, einem generellen Transfer zugunsten der finanziellen Eliten auf Kosten der Lohnempfänger und Sozialhilfeempfänger gleichen. Aber wir müssen die Spannungen, die diese Entwicklung zwingend nach sich zieht, dazu nutzen, unsere eigenen Ideen für ein faireres und zusammenhängendes wirtschaftliches Modell für Europa salonfähig zu machen - und uns jetzt darauf vorbereiten, einen energischen Wahlkampf für unsere politische Alternative zu führen, um in den nächsten Europawahlen 2014 erfolgreich sein zu können.

Wir müssen diese Idee wiederbeleben, dass unsere Wirtschaft dazu da ist, unserer Gesellschaft zu dienen - nicht umgekehrt. Diese Idee, dass die Rolle und die Begrenzungen der Marktkräfte und des persönlichen Profits durch bewusste und kollektive Entscheidungen der Bürger bestimmt werden müssen. Die Zukunft, nicht nur der sozialen Demokratie sondern der Demokratie als solcher, wird davon abhängen.

(Aus dem Englischen von Tobias Konitzer)


Martin McIvor (* 1972) ist Redakteur der sozialdemokratischen Zeitschrift Renewal in London. Zuletzt gab er (zus. mit John Callaghan, Nina Fishman und Ben Jackson) das Buch In search of social democracy heraus (Manchester, University Press, 2009). editorial@renewal.org.uk


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011, S. 43-47
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2011