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PARTEIEN/227: Ja-Seite gewinnt Lissabon-Abstimmung-II in Irland (SB)


Ja-Seite gewinnt Lissabon-Abstimmung-II in Irland

Politestablishment auf der Insel bringt den Plebs zur Räson


Wenig überraschend ist die zweite Abstimmung am 2. Oktober in Irland über den Lissabon-Vertrag mit einem Sieg für die Ja-Seite ausgegangen. Bereits eine Stunde, nachdem um 9.00 Uhr morgens des 3. Oktober die ersten Kisten aufgemacht und die Zählung begonnen hatte, zeichnete sich eine schwere Niederlage für die Gegner des EU-Reformvertrages ab. Um 16.35 Uhr gab der Wahlleiter das offizielle Ergebnis bekannt: Bei einer Beteiligung von 59 Prozent hatten 67 Prozent für das Abkommen und 33 Prozent dagegen gestimmt. Im Juni 2008 waren bei einer Beteiligung von 53 Prozent 54 Prozent dagegen gewesen und 46 Prozent dafür.

Da stellt sich die Frage, worauf der erdrutschartigte Sieg der Ja-Seite, der mit einem gewaltigen Meinungsumschwung, rund 20 Prozentpunkten entsprechend, einherging, zurückzuführen ist. Der wichtigste Faktor war zweifelsohne die Weltwirtschaftskrise, die seit der letzten Abstimmung in Irland besonders hart zugeschlagen hat. In den zurückliegenden 16 Monaten haben die Iren ein Platzen der Immobilienblase im eigenen Land, das einen Beinah-Zusammenbruch des gesamten irischen Bankensektors und einen Kollaps der Baubranche mit sich brachte, eine Verdoppelung der Arbeitslosigkeit auf mehr als 400.000 und eine drastisch aufklaffende Lücke im Staatshaushalt erleben müssen. Vor diesem Hintergrund haben sich die Befürworter des Lissabon-Abkommens kaum um den Inhalt des Vertrages gekümmert, sondern vielmehr den Standpunkt vertreten, nur mit Hilfe der EU sei die aktuelle Krise zu bewältigen: Man sei auf das Wohlwollen der EU-Partner angewiesen und könne es sich nicht erlauben, sie mit einem zweiten Nein endgültig vor den Kopf zu stoßen.

Hinzu kommt, daß die irische Regierung aufgrund des ersten Neins im Frühsommer eine Reihe von Zugeständnissen seitens der anderen EU-Regierungchefs errungen hatte. Jenen Garantien zufolge, soll der Lissabon-Vertrag keinerlei Auswirkungen auf die Steuersätze, das Abtreibungsverbot und die Neutralität Irlands haben. Eine Analyse der Ergebnisse aus allen 43 Wahlkreisen der Irischen Republik ergibt folgendes Bild: Während wie beim ersten Mal die obere Mittelschicht mehrheitlich für den Vertrag und die Arbeiter mehrheitlich dagegen stimmten, sorgten die Zugeständnisse und die nackte Angst vor der wirtschaftlichen Zukunft der eigenen Familie dafür, daß diesmal viele Menschen der Mittelschicht, die beim letzten Mal entweder gar nicht zur Urne gingen oder mit Nein votierten, diesmal ihr Kreuz bei Ja machten. Das Phänomen erklärt die deutlich gestiegene Beteiligung und die Tatsache, daß am Ende die Ja-Seite mit praktisch doppelt so vielen Stimmen wie die Nein-Seite dastand.

Bei der Regierung von Fianna Fáil und den Grünen war die Erleichterung über den Ausgang des Referendums spürbar. Premierminister Brian Cowen, der im Falle eines erneuten Neins vermutlich hätte zurücktreten müssen, worauf neue Parlamentswahlen ausgerufen worden wären, bezeichnete das deutliche Ja als ersten wichtigen Schritt heraus aus der wirtschaftlichen Talsohle. Der ehemalige EU-Parlamentspräsident Pat Cox, der die Gruppe "Ireland for Europe" angeführt hatte, damit maßgeblich am Sieg der Ja-Seite beteiligt war und der in der Presse als nächster irischer EU-Kommissar gehandelt wird, meinte ganz staatsmännisch, seine Landsleute hätten eine "reife Entscheidung" getroffen. Brigid Laffan, Vorsitzende von Cox's "Ireland for Europe", setzte auch nach dem Sieg die Diffamierung der Lissabon-Gegner fort. In einem Artikel der New York Times vom 5. Oktober über den Ausgang des Referendums in Irland verwies die Professorin für Europäische Geschichte am University College Dublin auf die seit Jahren andauernden "Kulturkriege" zwischen "Liberalen" und "Christlich-Konservativen" in den USA, um sich zu der völlig irrigen Behauptung zu versteigen, daß "manche Leute" Irland in die "1950er" zurückführen wollten.

Die These ist natürlich blanker Unsinn, deckt sich jedoch mit dem Weltbild der Lissabon-Befürworter von sich selbst als kosmopolit, liberal, aufgeklärt, aufgeschlossen und ihren Gegnern als engstirnig, "isolationistisch", religiös-fundamentalistisch und fremdenfeindlich. Was die konservative Haltung betrifft, so gilt dies lediglich für die Gruppe Cóir, deren Mitglieder mehrheitlich Abtreibungsgegner zu sein scheinen, die jedoch während der Lissabon-Kampagne eine erfrischende Unabhängigkeit gegenüber der katholischen Hierarchie demonstrierten. Ansonsten gehören die Aktivisten der Nein-Kampagne zu den weltoffensten und fortschrittlichsten Kräften, die Irland aufzubieten hat. Der Künstler Robert Ballagh von People's Movement setzte sich für die Integration von Einwanderern in Irland ein, lange bevor es Modethema bei der Redaktion der Irish Times wurde. Der Komponist Raymond Deane, ebenfalls von der People's Movement, ist Mitbegründer und unermüdlicher Aktivist des Ireland Palestine Solidarity Committee. Joe Higgins von der Sozialistischen Partei hat sich in der Vergangenheit bekanntlich für die Rechte ausgebeuteter türkischer Bauarbeiter in Irland stark gemacht und dafür gesorgt, daß sich ihre irischen Kollegen mit ihnen solidarisierten.

Die Tatsache, daß diesmal einzig in den ländlichen Wahlkreisen Donegal North East und Donegal South West mehrheitlich gegen Lissabon gestimmt wurde, hängt weniger damit zusammen, daß die Menschen dort vielleicht häufiger zur Kirche gehen als sonstwo auf der Insel, als vielmehr damit, daß die Region am wenigsten von der Mitgliedschaft in der EU und den fetten Jahren des keltischen Tigers profitiert hat. In Donegal, im rauhen irischen Nordwesten, ist die fast einzige Industrie seit jeher die Fischerei. In Killybegs und den anderen Fischereihäfen Donegals haben die Menschen das Gefühl, daß die Regierung in Dublin ihre Interessen auf dem EU-Altar geopfert und sie gegen andere Vergünstigungen getauscht hat.

In Reaktion auf den Ausgang des Refendums hat Patricia McKenna von der People's Movement die unzulässige Art und Weise gerügt, wie die großen Parteien, der Arbeitgeberverband IBEC, Konzerne wie Intel und Ryanair und die Europäische Kommission mit einem Millionenaufwand der Bevölkerung Angst vor einer Wiederholung des Neins vom letzten Jahr eingejagt hat. In einer Stellungnahme der Kommunistischen Partei Irlands hat deren Generalsekretär Eugene McCartan diejenigen, die dennoch mit Nein votiert hatten, als "wahre Patrioten" bezeichnet und bekräftigt, daß der Kampf für eine gerechtere Gesellschaft weitergehe.

Angesichts der Kürzungen der Staatsausgaben, welche die Koalitionsregierung aus Fianna Fáil und den Grünen vor allem in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Soziales erzielen will, dürfte sich dieser Kampf in nächster Zeit erheblich verschärfen. Wie der Ex-Premierminister Garret Fitzgerald in einem Gastbeitrag in der Irish Times am 3. Oktober enthüllte, plant Finanzminister Brian Lenihan offenbar die Einsparungen im Fiskaljahr 2010 von rund vier Milliarden Euro nicht - wie noch im April verkündet - zu fünf Achteln über Steuererhöhungen und drei Achteln über Kürzungen, sondern inzwischen gänzlich über letztere zu erzielen. Da jeder Schritt Lenihans zur Sanierung des irischen Staatshaushalts mit der Europäischen Zentralbank abgesprochen wird, kann man davon ausgehen, daß diese menschenfeindliche Planänderung von Frankfurt abgesegnet, wenn nicht sogar von dort gekommen ist. Daß die Nein-zu-Lissabon-Seite mit ihren Warnungen vor einer Fortsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik nicht so ganz falsch lag, werden die irischen Wähler früh genug erfahren, nur daß die schwersten Konsequenzen die Ärmsten und Schwächsten zu tragen haben werden.

5. Oktober 2009